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CESAMMTEN HEILKUNDE.
NEUNTER JAIIKCANC;
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ENCYCLOPÄDISCHE JAHRBÜCHER
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(JE8AMMTEN HEILKUNDE
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weil. Hofmth Prof. ALBERT, Witui - Prof. H. A LRR ECHT. Gr.Liehterfelde f Berlin) — Doe. AL HU,
Berlin — Stadtwumlarzt Dr. ASi'IIKK, K«.»nin— San.-R. Km. AUFRECHT, Magdeburg —
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Marburg — Oberarzt H. BEXIM X. Berlin — Prof. P.EXEDiKT, Wien — llofr. Prof. B1XSWAXGKK,
Jena — woil Geli. M.-It. Pmf. Hl K('11-111RSCH FELD. Leipzig — l)r. Ludwig HUI NS, Hannover —
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Berlin — Pmf E. FKAEXJ\KL. Rresl *u — Dr. Lu Iwig FRA EX k BL. R-**sl ui - Dr. Edmund KFIED-
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witz — Pr >t. A. KNORR. Mum li ui — K. rims. StaPsratli Prof. R. KOREKT, Rostock — O.-St.-A.
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derselben in fremde Sprachen ist nur mit Bewilligung der Verleger
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Abdominaltyphus. Die Typhusforschung hat sich seit der Ver¬
öffentlichung unseres siebenten Nachtrages (Encyclopäd. Jahrb., VIII. Jahrg.,
pag. 1—4) in den alten Bahnen bewegt. Sinnreichen theoretischen Specula-
tionen stehen praktisch-klinische Bestrebungen gegenüber. Der Inhalt der
letzteren, auf welche wir uns den Tendenzen dieser Jahrbücher gemäss im
Wesentlichen beschränken, ist diesmal ein umfangreicherer. Weltbewegende
Entdeckungen fehlen bei allen verdienstvollen Leistungen hier wie dort. Auf
die hervorragende lehrbuchmässige Bearbeitung des Typhus von Curschman.v
in der NoTHNAGEL'schen Sammlung sei besonders verwiesen.
Den Infectionsmodus anlangend hat die Bedeutung des Wassers
als Uebertragungsmittels in verschiedenen Arbeiten Ausdruck gefunden. So
zeigt Petruschki, dass in Danzig, solange die Einwohner ihren Bedarf aus
dem verseuchten Radaunecanal gedeckt, die Morbidität 12°/o 0 betrug, um
nach Fertigstellung der neuen Wasserleitungen auf durchschnittlich 2°/ 00 ab¬
zusinken. Auch die Abnahme der Typhuserkrankungen in Stralsund beruht
nach v. Haselberg auf Verbesserung der Trinkwasserversorgung. Dass die
Sandfiltration des Trinkwassers zur Vernichtung der aus Typhusdejectionen
übergetretenen Keime nicht genügt, hat D£l£pine dargethan, der mit Recht
dem Schutz der Sammelbassins und der Beseitigung der inficirten Quellen
den Vorzug giebt. In der ungarischen Stadt Pöcs verschuldeten zwei Cisternen
eine Epidemie von mehr als 200 Fällen ; auch gelang es, aus ihrem Inhalt
Typhusbacillen zu züchten (Genersich). Der Genuss von Austern aus dem
Hafenwasser von Pola war von gehäuften Erkrankungen von Typhus be¬
gleitet, was im Einklang mit den Nachweisen einer Verunreinigung des
Löwenantheils der Thiere durch Fäcalien seitens Horcicka im Einklang stand.
Zwanzig Tage lang vermochten künstlich inficirte Austern die Typhusbacillen
zu beherbergen. Die Uebertragung der Krankheit durch Milch illustriren
Harbitz und Davies durch Beobachtung von Infectionen nach dem Bezüge
aus Molkereien, deren Milchkannen mit Flussläufen in Berührung gekommen,
die ihrerseits Closetabwässer aufgenommen. Auch Wilckens vermochte das
Anschwellen der Morbidität in Hamburg vor einigen Jahren mit inficirten
Milchgefässen in Verbindung zu setzen. Selbst Buttermilch hat offenbar, wie
P. Frankel und Kister begründen, bei einer Münchener Epidemie für einen
Theil der Fälle den Infectionserreger enthalten. Für die Luft Übertragung
der Krankheit durch verstäubte Excrete tritt Peck auf Grund seiner Be¬
obachtungen von Ansteckung im Krankenzimmer ein, eine Anschauung, die
auch Anneguin mit Rücksicht auf die hohe Erkrankungsziffer der Wärter
in den Krankenanstalten vertritt. Doch spricht Pauly solche Contagionsfälle
als Folgen von Luftinfection als selten an und rückt die Rolle, welche
Encycloj». Jahrbücher. IX.
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Abdominaltyphus.
die mit den Patienten in Berührung gekommenen Hände und Gegenstände
spielen, in den Vordergrund. Auch das Rectalthermometer konnte aus
Anlass ungenügender Desinfection nach der Benützung bei Typhösen ver¬
antwortlich gemacht werden (Bormaxs). Endlich erachten — ein bemerkens-
werther, actuellen Anschauungen für andere Infectionskrankheiten folgender
Hinweis — Sangree und Veeder Senkgruben umschwärmende Fliegen als
geeignet zur Verschleppung des Typhus, nachdem experimentelle Versuche
ein positives Resultat ergaben.
Des Vorkommens der Typhusbacillen im Harne der Kranken, selbst
in massenhafter Verbreitung, gedenkt mit Nachdruck eine Reihe von Autoren.
Die Ausscheidung könne wochenlang anhalten, sogar den Urin trüben und
zum Uebertragungsmedium stempeln (Petruschki, Richardsox, Gwyn). Nach
Schichhold und Smith ist dies indes nur im albuminurischen Secret oder
bei erkrankter Niere der Fall. Auch aus einem vereiterten Nebenhoden
wurde der Typhusbacillus gezüchtet (Strassburger).
Zur Differenzirung von Typhus- und Colibacillen liegen wieder
verschiedene Beiträge vor. Ein aus Kalbsleber bereiteter Nährboden soll hier
eine gleichmässige Trübung, dort Agglutination und Niederschlag bewirken
(Cesaris-Demel). Stern findet, dass das Serum Typhöser das Bacterium coli
unter Umständen noch stärker agglutinirt, als Typhusbacillen, eine be-
herzigenswerthe Mahnung zur Vorsicht. Während die Colibacillen stets Lackmus
reduciren, ist das bei bestimmten Nährböden beim Typhusbacillus niemals
der Fall (Fredi Müller). Ein Verfahren zum »schnellen und leichten« Unter¬
scheiden der Culturen gibt Mankowski an: Typhusbacillen färben einen mit
einer Mischung von Kalilauge, Säurefuchsin und Indigocarmin behandelten
neutralen Nähragar roth, die Colibacillen blaugrün. Nach demselben Autor
bilden die Bakterien unserer Krankheit auf einem unter anderem aus ess¬
baren oder giftigen Pilzen dargestellten Nährboden feuchte und durchsich¬
tige, die Colibakterien schnell wachsende, silberweisse, trockene Colonien.
Wie weit alle diese an sich gewiss gut begründeten Differenzirungen in¬
gleichen der Entdeckung, das die Toxine des Bacillus typhi negativ, diejenigen
des Bacillus coli positiv chemotaktisch auf die Leukocyten wirken (Bohland),
den Postulaten des Praktikers gerecht zu werden imstande sind, muss
weitere Erfahrung lehren, die hoffentlich in minderem Masse ausbleibt, als
bei der grossen Zahl der Vorgänger gleichsinnigen Inhaltes.
Was über die WiDAL'sche Methode gearbeitet worden, ist nicht
dazu angethan, unser letztes Urtheil erheblich zu verschieben. Im Gegen-
theil. Wohl fehlt es nicht an Bestätigungen der Zuverlässigkeit der Reac-
tion (van der Welde, PechEre, Brown, Rostoski, Ely, Mewius u. a.); allein
die Frage, ob der Ausfall unbedingt entscheidend, bleibt eine offene. Man
hat in der Fieberperiode ein negatives, im Recidiv ein positives Resultat
erhalten (Eshkek), die Reaction umso schwächer und träger angetroffen, je
schwerer die Erkrankung (Epifaxow), sie (vielleicht aus Anlass von Chinin¬
behandlung) vermisst, obwohl die Section einen Typhus ergab (Berghinz), sie
häufig erst in der zweiten oder gar dritten Woche der Krankheit beob¬
achtet (Kossel und Mann, Gebauer). Solche immer und immer wieder sich
hervordrängenden Erfahrungen geben zu bedenken — auch bei der Anerkennung
des wieder von Scholtz vertretenen Gesetzes, dass die Verdünnung an¬
langend der höchste bei normalem Blute beobachtete Werth 1 : 25, der
niedrigste des typhösen 1 : 45 beträgt. Von Belang sind andererseits die
Beobachtungen von Chiari und Kraus, dass bei positivem Ausfall der Probe
trotz des für Typhus negativen Sectionsbefundes die bakteriologische Prüfung
den wirklich typhösen Ursprung der Septikämie erschloss. Eine Schwierig¬
keit, die wir bei der Fortsetzung unserer Prüfung als recht störend ange¬
troffen, gleichwohl aber von den Autoren nicht genügend hervorgehoben
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Abdominaltyphus.
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gefunden, beruht in der mitunter misslichen Entscheidung, ob der Ausfall
wirklich als positiv oder negativ zu gelten habe. Es können von den Typhus¬
bacillen zu viele ihre Nachbarn überleben, als dass man von einer richtigen
Agglutination sprechen könnte, andererseits neben der Summe intacter Bacillen
in lebhafter Bewegung zu viele todte Leiber angetroffen werden, als dass man
wagen dürfte, das Ergebniss als negativ anzusprechen. In ähnlichem Sinne spricht
sich A. Fischer skeptisch über den Werth der Reaction aus, wenn sie keine
eigentliche Paralyse der Mikroorganismen, sondern nur eine Agglutination her¬
beiführt. Alles in allem eine Methode hervorragenden wissenschaftlichen Werthes,
aber nicht von absoluter Zuverlässigkeit! Zu demselben Urtheil gelangt auch
neuerdings Dombrowski auf Grund einer sehr stattlichen Versuchsreihe.
Beachtenswerth erscheint die Entdeckung, dass auch chemische Körper,
wie Sublimat, Formalin, Alkohol, Vesuvin, Safranin, auf Typhusculturen
agglutinirend wirken (Malvoz). Durch Behandlung von Wasseremulsionen der
zu prüfenden Colonien mit diesen Substanzen haben Lambotto und Bassärt
eine Methode der Typhusdiagnose construirt, die wir indes als eine »ver¬
einfachte« nicht gelten lassen können.
Ein entschiedener Concurrent ist der WiDAL schen Reaction in einer
von Piorkowski angebahnten diagnostischen, die Unterscheidung der Typhus¬
bacillen von dem Bacterium coli nach der Gestalt der Colonien auf be¬
stimmtem Nährboden bezweckenden Verfahren erwachsen. Durch Verwendung
von alkalischem Harn gelang es schon innerhalb 18 Stunden, die Typhus-
colonien aus Anlass eigenartig ausgefranster Fasern präcis zu erkennen.
Doch sind auch hier positiven Bestätigungen (Schütze, Michaelis, Unger,
Ewald) recht bald anders lautende Urtheile (E. Unger und Portner) ge¬
folgt, nach denen die Unterschiede zwischen Typhus- und Colibacillencolonien
nicht immer als durchgreifend anerkannt werden. Hiefür macht der Ent¬
decker nicht ganz genügende Berücksichtigung der erforderlichen Cautelen
verantwortlich. In 16 Fällen vermochte Gebauer 12mal ein positives Resultat
zu erhalten. Ob das Verfahren zum Gemeingut der Aerzte werden wird,
bleibt abzuwarten. Im Krankenhause Friedrichshain bereitete schon die Her¬
stellung der Harngelatine und die enge Einstellung des Thermostaten gewisse
Schwierigkeiten, die uns bereits Jetzt eine Verneinung der Frage ahnen
lassen. Dass eine belangvolle wissenschaftliche Entdeckung vorliegt, kann
füglich nicht bezweifelt werden.
Wir vermögen zur Klinik unserer Krankheit nicht überzugehen,
ohne, wenn auch nur andeutungsweise, des Inhaltes einer Reihe wissen¬
schaftlicher Arbeiten von Bedeutung zu gedenken, die sich freilich in die
Wege des Praktikers einstweilen nicht rücken lassen. Wir meinen die Ver¬
suche über die Bindung bakterieller Gifte durch Zellbestandtheile
und die Wirkung der specifischen Immunsera; rücksichtlich der ersteren
konnte zunächst Wassermann zeigen, dass dem Typhusgift gegenüber sich
Milz, Lymphdrüsen und Knochenmark ähnlich verhalten, wie dem Tetanus-
gift gegenüber die Nervensubstanz; der Uebergang der bindenden Zellsub¬
stanz ins Blut ist ein Ausdruck ihrer übermässigen Bildung in der Zelle.
Weiter hat Deutsch gefunden, dass die Bildung der antitoxischen Substanzen
beim Typhus zu den genannten Organen in Beziehung steht, derart, dass
die Leukocyten als Hauptlieferanten thätig sind. Rücksicht!ich der zweit-
genannten Wirkung wird eine nicht streng specifische Agglutination durch
Mann, Pfaundler, Duclaux und Borden begründet. Letztere sprechen Kraus
und Löw als ein mechanisches Phänomen (Bakterien im Schlepptau eines
specifischen Niederschlages) an, während Gruber eine den Bakterienleib ver¬
ändernde Eiweissfällung verantwortlich macht. Auf die Unlöslichkeit der
Agglutinine des Typhus in Alkohol und ihre Beständigkeit gegen die Ver¬
dauungssäfte lenkt Winterberg die Aufmerksamkeit.
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Abdominaltyphus.
Relativ zahlreich sind diesmal, wie bereits erwähnt, die die eigentliche
Klinik des Typhus behandelnden, zum Theil werthvollen Arbeiten; viel
Neues sucht man vergeblich.
Zur Annahme einer stark verkürzten, beziehungsweise auf 2—5 Tage
reducirten Incubat io nsdauer gelangt Jancken auf Grund der Beobachtung
einer Truppenepidemie.
Die Respirationsorgane anlangend fand Schulz bei der typhösen
Laryngitis bei fleckweiser Schleimhautröthung und spärlicher Absonderung,
sowie linsengrossen Infiltraten Typhusbacillen im Bindegewebe unterhalb der
letzteren, während Kobler auf eine charakteristische, bisweilen prodro¬
male Infiltration und Ulceration am Kehldeckel aufmerksam macht. Be-
merkenswerth sind die Belehrungen A. Frankel s über die Unterscheidung
von fibrinösen, unter dem Bilde eines Typhus verlaufenden Pneumonien, von
solchen als Complicationen des Typhus und von pneumonischen Typhus¬
metastasen. Im Sputum und Lungensaft fand v. Stühlern zu Lebzeiten den
Typhusbacillus, dem er indes nicht die Rolle eines primären Erregers der
Pneumonie zuerkennt. Hingegen verficht Achard mit Labiche die Stellung
eines Theiles der Pleuritiden bei Typhus als echter specifischer Complica¬
tionen ; den Empyemen wird ein foudroyanter Verlauf abgesprochen, so
dass ein operatives Vorgehen meist bis zur Convalescenz aufgeschoben
werden kann. Seine Erfahrungen über »Pleurotyphus«, Abscess und Gan¬
grän der Lunge typhösen Ursprungs theilt Verfasser mit, der eine weit¬
gehende Unabhängigkeit der Prognose und Therapie von den Resultaten
der bakteriologischen Untersuchung beobachtet hat. Die von ihm und Labiche
vertretene relativ günstige Prognose der Empyeme bestätigt in beherzigens-
werther Weise Gerhardt, der ganz spontanen Rückgang constatirte. Ver¬
fasser sah selbst Spontanheilung trotz secundärer Streptokokkeninvasion.
Auf dem Gebiete der Intestinalerkrankungen sind neben einigen
Fällen seltener Complicationen — einer Speiseröhrenverengerung durch typhöse
Verschwärung (Pachard), je einer perforativen Peritonitis mit spontaner
(Handford), beziehungsweise operativer (Herringham) Heilung, einer auf¬
fallend späten Infection der Gallenwege mit Lebervergrösserung (Ryska) —
Auslassungen über die Beziehung des Typhus zur Perityphlitis von Hopfen¬
hausen und über schwerere Erscheinungen von Seiten der Leber von Crespin
hervorzuheben. In ersterer Beziehung wurde in 30 Typhusleichen der Wurm¬
fortsatz grossentheils mitafficirt angetroffen; doch beschränkte sich die
Theilnahme an der Grundkrankheit zumeist auf einfache entzündliche Ver¬
änderungen ohne specifischen Charakter. Der zweitgenannte Autor fand bei
Typhuskranken, welche früher in den Tropen sich aufgehalten, also wohl
unter der Mitwirkung klimatischer Factoren zustande gekommene schmerz¬
hafte, mit starker Urobilinurie, mehrfach mit Gelbsucht einhergehende An¬
schwellungen der Leber.
Nervensystem. Hier liegen zunächst Beobachtungen über eigen¬
tümliche Vagusneurosen und Sympathicusveränderungen vor. Erstere kenn¬
zeichneten sich nach den Schilderungen von Monteux und Lop in Er¬
stickungsanfällen, Tachykardie, Druckempfindlichkeit der Vagusstämme am
Halse, flüchtigen Erythemen, Singultus, Aufblähung des Magens und Er¬
brechen. Die Erkrankung des Sympathicus fand Guizetti in 10 Fällen unter
der Form einer segmentalen periaxillären Neuritis der markhaltigen Fasern,
herdweiser Leukocyteninfiltration der Ganglien, Erweiterung der Gefäss-
endothelien und Hämorrhagien. Diese starken Veränderungen sollen den tödt-
lichen Ausgang verschuldet haben. Fälle von richtiger typhöser Meningitis
haben Jemma, Hugot, Wentworth und Boden beschrieben und, was belang¬
voller, zum Theil die Diagnose durch den Nachweis von Typhusbacillen in
der durch Lumbalpunction entleerten Cerebrospinalflüssigkeit erhärtet. Für
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die nicht leichte J)ifferenzirung dieser Complication von dem meningitisähn¬
lichen Typhusverlauf empfiehlt Loeb insbesondere Fahndung auf Papillitis
als ein Meningitis beweisendes Symptom. In 5 Fällen ermittelte H. Salomon
durch die Lumbalpunction eine starke Vermehrung des cerebrospinalen
Serums, ohne dass die Hirndrucksymptome sich bis zur Höhe eines Me¬
ningotyphus erhoben hätten. Beziehungen des Typhus zur Epilepsie will
Dida aufgefunden haben; entweder soll die Infectionskrankheit bei Neuro-
pathischen das Nervenleiden auslösen oder leichte Formen verschlimmern.
Von Complicationen im Bereiche des Knochen- und Hautsystems
verdient besonders die Erschliessung einer richtigen typhösen Spondylitis
mit Spontanheilung durch Quincke und Könitzer, einer Periostitis des Brust¬
beines mit Nekrose durch Würtz, sowie verschiedener Knochen- und Gelenk¬
metastasen durch Hübener Erwähnung. Letzterem gelang der Nachweis der
Typhusbacillen. In einem Falle erfolgte eine Luxation des Femurkopfes durch
Loslösung in der Epiphysenlinie des Schenkelhalses, welche Sitz einer Osteo¬
myelitis geworden war. Neben der Roseola sah da Costa masern- und
scharlachähnliche Exantheme ohne Prominenz und Abschilferung. Kleine und
grosse, zum Platzen gelangende und zur Nekrose führende Blasen beschreibt
Stahl als zerstreute Typhuslocalisationen auf der Haut. Ein entschiedener
diagnostischer Werth wird von Motta dem QuENTiNschen Palmoplantar-
symptom (Verfärbung der prominenten Bezirke ins Gelbe) zugeschrieben; er
traf es unter 43 Fällen 39mal an. Einen hämorrhagischen Typhus mit Haut¬
blutungen nach Art der WERLHOF schen Krankheit (neben viermaligen Darm-,
Zahnfleisch- und Nasenblutungen) sah Köhler.
Dass die Zahl der Leukocyten im Blut im Beginne des Typhus stark
sinkt, um nach der Defervescenz wieder anzusteigen, hat wieder Köhler be¬
stätigen können, der die initiale Hypoleukocytose mit differentialdiagnosti¬
schem Werthe belegt (vergl. Diagnose). Geradezu unberechenbaren Schwan¬
kungen des Blutdruckes begegnete Alezais bei seinen Bestimmungen mit
dem V erdin sehen Sphygmometer. Nur das plötzliche Absinken der arteriellen
Spannung ist als Hinweis mit eine Darmblutung oder ein Erlahmen der
Herzkraft von praktischer Bedeutung.
Rucksichtlich der Diagnose unserer Krankheit ist den Erörterungen
über die WiDAL'sche und PiORKOWSKische Methode nachzutragen, dass der
fast in Vergessenheit gerathene NEUHAUSS'sche Nachweis von Typhusbacillen
aus den Roseolen wieder von Curschmann als werthvoller und meist zu
führender Behelf angesprochen wird. Neufeld gelang es, aus Roseolaflecken
entnommenem Gewebssaft 14mal den Bacillus zu züchten. In einem durch
reichlichen Roseolenflor ausgezeichneten Typhusfalle vermochte Dklkarde seinen
Befund im Blute zu erheben. Mit Vorsicht dürfte die Diagnostik Boreggi's
aufzunehmen sein, der die Differenzirung von Typhus und Tuberkulose nach
der (bei öfterem mangelhaften) Gerinnungsfähigkeit des Blutes vornimmt.
Die Bestimmung der Mengenverhältnisse der Leukocyten (s. o. Kölner)
erwies sich Nägeli unter der Form eigenartiger Ab* und Zunahme der
Neutrophilen, Lymphocyten und Eosinophilen als sehr werthvoller diagnosti¬
scher Factor, den er als der WiDAL’schen Reaction mindestens ebenbürtig
beurtheilt.
Behandlung. Dass die serotherapeutischen Bestrebungen einen Er¬
folg gezeitigt, der das in unserem letzten Berichte ausgesprochene Urtheil wesent¬
lich zu erschüttern vermöchte, wagen wir nicht zu behaupten. Wohl fehlt es
nicht an Fürsprechern auf Grund eigener Versuche (Walger, Spirig, Jez,
Duckworth, Cowen), doch stehen den günstigen Voten reservirte und selbst
absprechende Urtheile gegenüber. So hält Jey die Antitoxine des Convale-
scentenserums für zu schwach, während Bosanquet überhaupt an ihrer Wirk¬
samkeit zweifelt. Nach Chantemesse sind die Bemühungen gescheitert, weil
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Abdominaltyphus.
das verwendete Serum das eigentliche Toxin gar nicht enthalten habe. Das
von ihm gewonnene Antitoxin soll Thiere schützen und Menschen heilen.
Von Empfehlungen pharmakologischer Heilmittel schweigt die
Literatur fast völlig, ein gutes Zeichen gesunder Kritik. Nur Bettmann
schwärmt für eine energische Darreichung des Calomels und Leduc für das
bei uns längst verlassene Guajacol in epidermatischer Form.
In einer werthvollen, ausführlichen, sehr beherzigenswerthen Abhandlung,
welche ausserdem reiche klinische Belehrung birgt, lässt sich Bäumler über
praktische Erfahrungen über Kaltwasserbehandlung aus. Wir heben aus
derselben hervor, dass nach seinem Urtheil die Wirkung des altbewährten Heil¬
apparates in erster Linie das Kreislauf- und Nervensystem betrifft (grössere
Widerstandskraft), die Bedeutung der Temperaturerniedrigung zurücksteht.
Der Autor verabreicht bei 39,5° zunächst Bäder von 28—24° C., später
solche bis zu 20°. Dauer circa 10 Minuten. Nach dem Bade heisse Getränke,
Wein, warme Decken. Von 1019 Typhuskranken (23 Jahre) starben 9,3°/ 0 .
Vor zu häufigem und zu kaltem Bade warnt Strasser aus Anlass der Gefahr
unerwünschter nervöser Aufregung. Eine eigenthümliche, übrigens nicht
völlig neue Modification des kalten Bades glaubt Belval empfehlen zu
sollen, nämlich eine Irrigation des Unterleibes, als des Centrums der Bacillen¬
entwicklung. Dem Kranken soll die wirksame Procedur sehr behaglich sein.
Für die chirurgische Behandlung des Typhus im möglichsten Aus¬
masse bricht Armstrong eine Lanze, zumal bei brandigen Processen, Em¬
pyem der Gallenblase, Ostitis und Darmperforationen. Von 89 operirten
Fällen der letzteren Kategorie sollen 17 gerettet worden sein; ob durch
die Operation allein, ist eine andere Frage. Platt verlor von drei operirten
Fällen zwei. In jedem Fall will Keen sofort zur Operation schreiten, wofern nur
der primäre Shock überwunden; selbst bei zweifelhafter Diagnose schreckt
er nicht vor dem Bauchschnitt zurück. Bei weitgediehener Darmtympanie,
die allen Eingiessungen Hohn sprach, punctirte Dalgliesh mit promptem,
anscheinend lebensrettendem Erfolge das Querkolon.
Wir schliessen mit der Erwähnung einer eigenartigen, nicht streng in
diese Abhandlung gehörenden Inanspruchnahme unserer Krankheit unter der
Form therapeutischer Impfungen mit abgetödteten Typhusbacillenreinculturen
bei Psychosen durch Friedländer. Insbesondere bei schweren Melancholien
und Erschöpfungsformen soll während des künstlichen Fiebers vorübergehend
Klarheit eintreten, und es selbst nicht an dauernden Besserungen und
Heilungen durch diese Cur fehlen.
Literatur (relativ enge Auswahl): Achard, Sem. med. 1898, Nr. 40. — Armstrong,
Montreal med. Journ. Februar 1899. — Bäumler, Deutsches Archiv f. klinische Med. LXVI
(1899). — Bklval, LTndep. m6d. 3. Januar 1898. — Berghinz, Gazz. degli ospedali. 1898,
Nr. 145. — Boden, Zeitschrift für praktische Aerztc. 1899, Nr. 9. — Bohland, Centralblatt
f. innere Med. 1899, Nr. 17. — Bormans, Gazz. med. di Torino. 1899, Nr. 4. — Bosanquet,
Brit. med. Journ. 8. Juli 1899. — Brown, Lancet. 23. October 1898. — Chantemessk, Pro-
gres möd. 16. April 1898. — Chiari und Kraus, Zeitschrift für Heilkunde. XVIII (1898'. —
Crbspin, Gaz. des hop. Nr. 146 (1898). — Cukschmann, Münchener medicinische Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 48; Nothnagels Specielle Pathologie und Therapie, III, Wien 1898
(450 Seiten). — Dalgliesh, Lancet. 1. October 1898. — Davies , Lancet. 4. December
1897. — Elt, Amer. Journ. of the med. Sciences. August 1899. — E6hner, Philadelphia
med. Journ. 1898, Nr. 5. — Ewald, Deutsche med. Wochenschr. 1899, Vereinsbeilage,
pag. 299. — A. Frankel, Deutsche med. Wochenschr. 1899, Nr. 15. — E. Frankel, cf. Kister —
Frirdländer, Neurol. Centralbl. 1898, Nr. 23. — Fürbringer, Deutsche med. Wochenschr.
1899, Vereinsbeilage, pag. 123 — Gebauer, Fortschr. d. Med. 1900, Nr. 2. — Genkrsich,
Centralbl. f. Bakteriol. etc. 1900, Nr. 7 und 8. — Gerhardt, Mittheilungen a. d. Grenzgeb.
d. Med. V (1899). — Gwyn, John Hopk. Hosp. 1899, Nr. 99. — Harbitz, Norsk Magazin
f. Laegevidensk. 1898, Heft 8. — v. Haselberg, Deutsche militärärztliche Zeitschr. 1900,
Heft 3. — Hopfenhausen, Revue med. de la Suisse, 1899, Nr. 2. — Horcicka, Wiener med.
Wochenschr. 1900, Nr. 3. — Hübenbr, Mittheilungen a. d. Grenzgeb. d. Med. V (1899). —
Janckbn, Wiener klin. Wochenschr. 1898, Nr. 27. — Jemma, Gazz. degli ospedali. Nr. 48
(1898). — Jez, Wiener med. Wochenschr. 1899, Nr. 8. — Keen, Journ. of. the Amer. med.
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Abdominaltyphus. — Achylia gastrica.
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Association. 1900, Nr. 3. — Kister u. Frankel, Münchener med. Wochenschr. 1898, Nr. 9.—
Kobler, Wiener klin. Rundschau. 1899, Nr. 17. — Köhler, Deutsche med. Wochenschr. 1900,
Vereinsbeilage, pag. 91. — Kölner, Deutsches Arch. !. klin. Med. LX (1898). — Könitzkb,
Münchener med. Wochenschr. 1899, Nr. 35. — Kossel und Mann, Münchener med. Wochen¬
schrift, 1899, Nr. 1. — Kraus, cf. Chiari. — Loeb, Deutsches Arch. f. klin. Med. LX1I
(1899). — Lon, cf. Monteux. — Mankowski, Centralbl. f. Bakteriol. etc. 1900, Nr. 1. —
Mann, cf. Kossel. — Michaelis, Deutsche med. Wochenschr. 1899, Vereinsbeilage, pag. 266. —
Monteux und Lop, Rev. de möd. 1898, Nr. 7. — Monteux, R£v. de m£d. August 1899. —
Motta, Gazz. med. di Torino. 1899, Nr. 3. — NIgbli, Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte.
1899, Nr. 18. — Neufeld, Zeitschr. f. Hygiene. XXX (1898). — Peck, Brit. med. Journ.
3. September 1899. — Piobkowsi, Berliner klin. Wochenschr. 1899, Nr. 7; Deutsche med.
Wochenschr. 1899, Vereinsbeilage, pag. 266; Münchener med. Wochenschr. 1900, Nr. 3. —
Platt, Lancet. 25. Februar 1899. — Portnkr, cf. Unger. — Quincke, Mittheilungen a. d.
Grenzgeb. d. Med. IV (1899). — Rostoski, Münchener med. Wochenschr. 1899, Nr. 9. — Ryska,
Ebenda. Nr. 23. — Sangree, Med. Rec. 21. Januar 1899. — Schichhold, Deutsches Archiv
f. klin. Med. LXIV (1899). — Scholtz, Hygien. Rundschau. 1898, Nr. 9. — Schulz, Berliner
klin. W'ochenschr. 1898, Nr. 34. — Schütze, Deutsche med. Wochenschr. 1899, Vereinsbei¬
lage, pag. 266. — Smith, Lancet. 20. Mai 1899. — Spirig, Correspondenzbl. für Schweizer
Aerzte. 1898, Nr. 13. — Stern, Centralbl. f. Bakteriol. etc. XXIII (1898). — Strasser, Blätter
über klin. Hydrotherapie. 1899, Nr. 2. — v. Stühlern, Centralbl. f. Bakteriol. etc. 1900,
Nr. 10. — E. Unger und Portneb, Münchener med. Wochenschr. 1898, Nr. 51. — Unger,
Deutsche med. Wochenschr. 1899, Vereinsbeilage, pag. 266. — Veeder, Med. Rec. 7. Januar
1899. — Walgeb, Centralbl. f. innere Med. 1898, Nr. 37. — v. d. Welde, Centralblatt für
Bakteriol. etc. XXIII (1898). — Würtz, Jahrb. f. Kinderhk. 1899, Heft 1. Fürbringer .
Achylia gastrica. Eine abgeschlossene Lehre dieses Krankheits¬
zustandes zu geben, ist zur Zeit noch nicht möglich, weil es auf diesem
Gebiete noch zahlreiche unaufgeklärte Punkte giebt. Ja, es ist noch nicht
einmal festgestellt, ob die Achylia gastrica den Rang einer selbständigen
Erkrankung beanspruchen kann oder ihr nur die Bedeutung eines Sym¬
ptoms zukommt, das verschiedenartigen Krankheiten des Magens eigen ist.
Der Ausdruck »Achylia gastrica« stammt von dem deutsch-amerikani¬
schen Magenarzt Einhorn, der 1892 unter diesem Namen denjenigen Zu¬
stand bezeichnete, wo der Magen keinen Saft, erkennbar an seinen Bestand¬
teilen (freie Salzsäure, Pepsinogen und Labferment), absondert. Den Magen¬
saft als Chylus zu bezeichnen, ist allerdings eigentlich keine Berechtigung
mehr vorhanden, nachdem die Physiologie bereits so die in den Lymphge-
fässen des Darms fliessende milchige Flüssigkeit genannt hat. Indessen wird
die Nomenclatur, die sich schnell eingebürgert hat, jetzt wohl umsoweniger
auszurotten sein, als es sehr schwer ist, eine bessere zu finden. Achylia
gastrica bedeutet also das vollständige Versiegen der Functionen der
Magenschleimhaut, wohlgemerkt der Magenschleimhaut, nicht des Magens.
Denn die Achylia gastrica hat nichts mit der Magenmusculatur, welche der
Sitz der motorischen Function ist, zu thun. Zum Begriff der reinen Achylia
gastrica gehört sogar geradezu die Forderung einer Integrität der Motilität
des Magens. Die Complication einer motorischen Insufficienz (Atonie) des
Magens, die zuweilen vorkommt, verwischt das Symptomenbild der Achylia
gastrica ebenso wie das Auftreten einer anderen Säure, z. B. der Milchsäure
an Stelle der Salzsäure.
Salzsäure, Pepsinogen und Labferment sind die Producte der Drüsen¬
zellen der Magenschleimhaut. Ob alle drei Substanzen von ein und derselben
Gruppe von Drüsenzellen producirt oder die eine von den sogenannten
Hauptzellen, die andere von den sogenannten Belegzellen, ist bekanntlich
bis auf den heutigen Tag nicht sichergestellt, vielmehr gerade umstritten.
Nur das Lab scheint allen Zellen gemeinsam zu sein, weshalb der jetzt
kaum noch gebräuchliche Ausdruck »Labdrüsen« als Bezeichnung für die
Drüsenzellen der Magenschleimhaut gar nicht unzutreffend wäre, wenn er
nicht eben nur eine einzige Function derselben als Grundlage hätte. Jeden¬
falls deutet ein Versiegen aller drei Producte der Schleimhaut auf einen
Schwund, eine Atrophie der Magendrüsen. Ganz folgerichtig hat denn daher
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Achylia gastrica.
auch C. A. Ewald 1892 diesen Symptomencomplex als den Ausdruck einer
Anadenia ventriculi bezeichnet. Das entsprach durchaus dem damaligen
Stande der Wissenschaft, und so wurde auch mit Recht eine Zeitlang aus
jenen klinischen Erscheinungen die Diagnose auf eine Gastritis parenchyma-
tosa atrophicans gestellt.
Diesen pathologischen Zustand sollte man aber nicht, wie es geschehen
ist, als Phthisis ventriculi bezeichnen, weil dabei ein Verschwinden eines
Theiles des Organs eintritt, wie das in einer phthisischen Lunge der Fall
ist. Die Achylia gastrica auf eine Gastritis atrophicans zurückzufübren, ist
für einen Theil der Fälle auch heute noch berechtigt.
Diese Gastritis kommt sowohl als primäre selbständige Erkrankung,
z. B. bei Greisen, oder infolge der chronischen Einwirkung von Alkohol und
anderen Schädlichkeiten, selbst ohne ersichtliche Ursache, als auch sehr häufig
in Begleitung von Magencarcinom vor. In der Nachbarschaft desselben findet
sich nämlich fast regelmässig in mehr oder minder starker Ausbreitung eine
bis zur Atrophie der Drüsen vorgeschrittene Gastritis parenchymatosa, so
dass der Symptomencomplex der Achylia gastrica gelegentlich auch im Ver¬
laufe eines Magencarcinoms auftritt. Aber man darf nicht etwa daran denken,
sie diagnostisch in diesem Sinne zu verwenden. Eine Achylia gastrica bei
Carcinom hört überhaupt auf, eine Achylia strictiore sensu zu sein, sobald
das für sie pathognomonische Gährungsproduct, die Milchsäure, im Magen¬
inhalt erscheint.
Ein sehr grosses, namentlich theoretisches Interesse knüpft sich an
das Vorkommen der Achylia gastrica bei derjenigen Form der chronischen
atrophirenden Gastritis, welche einen häufigen, aber durchaus nicht regel¬
mässigen Befund bei der perniciösen Anämie darstellt — einer in ihren
Ursachen leider noch völlig unbekannten Krankheit. Von Quincke (1876) und
Fenwick (1877) wurden die ersten zufälligen Befunde atrophirender Gastritis
bei Fällen erhoben, deren klinische Diagnose auf perniciöse Anämie lautete. Aber
ein ätiologischer Zusammenhang zwischen beiden Erkrankungen wurde erst
von den nachfolgenden Autoren vermuthet. Die Sicherheit der anfänglichen
Annahme, dass in der Magenerkrankung, welche naturgemäss Ernährung
und Stoffwechsel erheblich beeinträchtigen müsse, die primäre Ursache der
perniciösen Anämie zu suchen sei, ist aber, wie das beim Wachsen der Er¬
fahrungen immer so geht, bald kühleren Erwägungen gewichen. Denn da
sich diese Gastritis keineswegs in allen Fällen von perniciöser Anämie findet,
so hat man nicht ohne Berechtigung sie weniger als die Ursache denn viel¬
mehr als die Folge des eigentlichen Krankheitsprocesses betrachtet, zumal
sie sich ja eben auch bei anderen Erkrankungen findet, die nichts mit per¬
niciöser Anämie zu thun haben.
Der Ausfall der Functionen der Magenschleimhaut allein könnte auch
kaum so erhebliche Veränderungen der Blutzusammensetzung zur Folge
haben, wie sie bei der perniciösen Anämie Vorkommen, wenn man schon
diese Veränderungen, wozu aber durchaus keine einwandfreie Berechtigung
oder Grundlage vorliegt, als den Ausdruck einer schweren Stoffwechsel¬
störung gelten lassen will, die durch unzureichende Resorption der Nahrung
im Verdauungscanal und den dadurch eventuell bedingten Uebergang inter¬
mediärer Stoffwechselproducte ins Blut zustande gekommen ist. Denn die
Thatsache steht jetzt ziemlich sicher fest, dass der Magen für die Resorp¬
tion der Nahrung nur eine untergeordnete Rolle spielt, seine physiologische
Aufgabe in der Hauptsache vielmehr die eines Reservoirs ist, aus dessen
Vorrath jeweilig immer nur so viel an den Darm weiter abgegeben wird, als
dieser bei der äusserst feinen Vertheilung des Chymus über seine Oberfläche
zu bewältigen imstande ist. Wie zudem die Thierversuche von Czerny und
Kaiser und der berühmte Fall Schlatter’s von totaler Magenresection be-
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Achylia gastrica.
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weisen, ist der Verlust des Magens so lange ohne Schaden für den Ge-
sammtorganismus zu ertragen, so lange der Darm intact ist und seine re-
sorptiven Functionen in vollem Masse erfüllt. Wenn aber auch die Darm¬
schleimhaut erkrankt und leistungsunfähig wird, dann leidet die Resorption so
stark, dass von einer Aufrechterhaltung der Ernährung und des Stoffwechsels
keine Rede mehr sein kann. So sieht man denn auch Abmagerung, Anämie,
Kachexie u. dergl. in den Fällen von Achylia gastrica immer erst dann ein-
treten, wenn die Atrophie der Drüsen vom Magen auf die Darmschleimhaut
übergegriffen hat, was freilich in der Mehrzahl dieser Fälle einzutreten pflegt,
und so auch in den Fällen von perniciöser Anämie mit Achylia gastrica.
Dann ist keine Assimilation der Nahrungsstoffe in den Körperzellen mehr
möglich, unzersetzte Stoffwechselproducte gelangen in den Säftestrom und
können möglicher Weise auch deletär auf das Blutgewebe wirken — also
eine gastrointestinale Autointoxication, wenn man's so nennen will, ohne es
beweisen zu können.
Die Darmveränderungen können auch ebenso wie die Magenatrophie
nur secundär sein, und damit würde auch bei ihnen die ätiologische Bedeutung
schwinden. Neuerdings hat z. B. besonders M. Koch nach Untersuchungen in
Virchow’s Institut diesen Standpunkt vertreten, indem er theilweise alte
Lues für diese doch sehr auffälligen Magendarmerkrankungen verantwortlich
macht. Indessen ist das letzte Wort in dieser Frage noch lange nicht ge¬
sprochen. Jüngst haben noch Faber und Bloch nachgewiesen, dass die
Darmatrophie bei perniciöser Anämie weder entzündlichen Ursprunges aus
chronischer interstitieller Gastritis hervorgegangen (Ewald, Lubarsch, Koch),
noch überhaupt ein selbständiger (primärer) Krankheitsprocess (Eisenlohr u. A.)
ist, vielmehr nur eine postmortale Erscheinung an den cadaverös paretisch
gedehnten Stellen der Darmwand, wie dies bei der Pädatrophie des Säuglings¬
darms von Heubner nachgewiesen ist.
Uebrigens thun Stoffwechseluntersuchungen (z. B. über den Stickstoff¬
umsatz u. dergl.) bei Achylia gastrica, insbesondere den Fällen mit Betheiligung
des Darms dringend Noth. um die Rückwirkungen dieses Krankheitszustandes
auf den Gesammtorganismus sicherer als bisher beurtheilen zu können.
Freilich lässt sich gerade die Mitbetheiligung dos Darms viel schwerer er¬
kennen als die Achylia des Magens. Ausgedehnte Theile der Darmschleim¬
haut können in dem atrophischen Process mehr oder weniger.weit vorge¬
schritten sein, ohne sich klinisch zu offenbaren. In einigen Fällen giebt er
sich kund durch Erscheinungen wie Diarrhoe, Blutungen u. s. w. Das Auf¬
treten von Diarrhoe bei Achylie lässt immer baldige Abmagerung und
Kachexie Voraussagen, weil die Störung der Resorption fast auf der ganzen
Fläche des Verdauungscanals die Möglichkeit der Ausnutzung der Nahrung
sehr einschränkt.
Während den bisher beschriebenen Formen der Achylia gastrica eine
sehr ernste pathologische Bedeutung zukommt, haben wir zuerst durch Ein¬
horn eine andere Gruppe desselben Krankheitszustandes kennen gelernt,
mit Rücksicht auf die eben Einhorn die Einführung der allgemeineren, nichts
präjudicirenden Bezeichnung »Achylia gastrica« vorschlug. Diesen Fällen
liegt keine Atrophie der Magenschleimhaut, überhaupt keine anatomische
Erkrankung zugrunde. Die genauere Kenntniss dieser Gruppe, die eine prin-
eipiell andere Beurtheilung erfahren muss, verdanken wir namentlich Martius,
auf dessen vortreffliche monographische Bearbeitung des ganzen Themas (1897)
hier überhaupt für diejenigen, welche sich eingehend darüber unterrichten
wollen, hingewiesen sein soll. Freilich ist unser heutiges Verständniss für
diese Gruppe der Fälle von Achylia gastrica noch wesentlich unsicherer als
bei der ersten Art. Es ist sichergestellt, dass es eine Achylia gastrica giebt
bei Personen, bei denen sich sonst keinerlei andere objective Krankheitser-
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10 Achylia gastrica.
scheinung im Körper findet: das ist hauptsächlich bei Neurasthenikern und
auch bei ganz Gesunden.
Namentlich für letztere Thatsache fehlt uns vorläufig jedes Verständ-
niss. Aber auch als Symptom der Neurasthenie, oft das einzige, kommt dieser
Form der Achylia gastrica nur geringe praktische Bedeutung zu. Es wird
oft als zufälliger Befund erhoben, wenn aus mehr oder minder dringender
Veranlassung eine Mageninhaltsuntersuchung vorgenommen worden ist. Die
Achylie der Neurastheniker kann man als eine functioneile Neurose der
Magensecretionsnerven auffassen, womit man freilich auch nicht viel anderes
thut, als ein dunkles Wort an Stelle eines dunklen Begriffes zu setzen.
Doch kommen wir auf die systematische Auffassung der Erkrankung noch
zurück.
Zunächst einige Worte über die Symptomatologie der Achylia gastrica.
Zuweilen verräth sie sich durch keinerlei Krankheitserscheinung und bildet,
wie schon erwähnt, einen zufälligen Befund. In anderen Fällen wird sie fest¬
gestellt, wo Verdauungsbeschwerden mannigfach verschiedener Art bestehen,
ohne dass man behaupten könnte, dass sie mit der Achylie in ursächlichem
Zusammenhang stehen. So findet sie sich öfters bei irgend einem jener pro¬
teusartig verschiedenen Krankheitsbilder der bisher noch unter dem Sammel¬
namen »Neurasthenia gastrica« zusammengefassten sensiblen Magenneurosen.
Ein specifisches Symptom kommt der Achylia gastrica nicht zu, auch nicht
einmal der auf atrophirender Gastritis beruhenden Form.
Die Diagnose der Achylia gastrica lässt sich nur mit jenem vielver¬
mögenden Hilfsmittel der Untersuchung stellen, das die moderne Aera
der Magenpathologie gebracht hat: durch die Ausheberung des Magen¬
inhaltes. In ihm muss man nach den drei Secretionsproducten der Schleim¬
haut suchen. Am zweckmässigsten ist es, die Ausheberung am Morgen,
spätestens eine Stunde nach dem auf nüchternem Magen genommenen Probe¬
frühstück (eine trockene Semmel und ein grosses Glas Wasser oder Thee)
vorzunehmen. Es kommt ein nur mangelhaft chyraificirter Inhalt zutage,
der zwar an Menge normal ist (höchstens 20—40 Cm., meistens weniger
Inhalt, entsprechend der gut erhaltenen motorischen Function), aber dick¬
flüssig und zäh ist und eine grosse Menge unzertheilter Semmelstücke,
beziehungsweise Amylumbrocken enthält. Schon dieses makroskopische
Aussehen des Mageninhaltes ist für Achylia gastrica recht charakteristisch.
Und nun geschieht die Untersuchung auf die Secretionsproducte in folgender
Weise: Auf freie Salzsäure prüft man (am zweckmässigsten das Filtrat)
mittels Congopapier oder eines anderen entsprechenden Reagens. Der Aus¬
fall ist negativ. Dabei kann aber der Magensaft bei Prüfung mit Lackmus¬
papier sich als sauer erweisen. Die Feststellung der Gesammtacidität (Titra¬
tion gegen J /i 0 Normalnatronlauge) ergiebt freilich stets sehr geringe Werthe.
Ob das Eiweiss in lösliches Pepton übergeführt wird, kann man durch An¬
stellung der Biuretprobe (Kalilauge und stark verdünnte Kupfersulfatlösung)
ermitteln: Violettfärbung. Exacter ist der directe Nachweis des Pepsinogens
durch den Verdauungsversuch an einem kleinen Stückchen eines gekochten
Hühnereiweisses. Es wird in 5—10 Cm. angesäuerten, filtrirten Mageninhaltes
bei Körperwärme (Brutschrank oder Thermophor) gebracht Das Scheibchen
wird nach 12 oder selbst 24 Stunden unverändert, kaum am Rande auf¬
gelockert, wiedergefunden. Schliesslich werden 5—10 Cm. Filtrat mit ebenso
viel neutraler frischer Milch gemischt und der Brutwärme überlassen. Nach
15—20 Min. oder noch länger ist keine Labgerinnung in der Milch eingetreten.
Nur der negative Ausfall aller drei Proben berechtigt zur Diagnose:
Achylia gastrica.
Martius hat als Beweis dafür, dass in solchen Magen die Secretion
des Magensaftes vollständig stockt, noch folgenden Versuch erbracht: eine
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Achylia gastrica.
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Flüssigkeit, z. B. eine Suppe, von bestimmtem specifischen Gewicht wird
unverdünnt au! der Höhe der Verdauung wieder ausgehebert. Auch die Milch
kann ungeronnen aus dem Magen wieder gewonnen werden.
Soviel von der Symptomatologie der Achylia gastrica.
Zur Kenntniss ihres Wesens haben noch Martius und Lubarsch be-
achtenswerthe anatomische Beiträge geliefert. Die durch Magenausheberung
und -ausspülung gewonnenen Schleimhautstückchen wurden einer genauen
mikroskopischen Untersuchung unterworfen. Die Ergebnisse waren folgende:
die Schleimhaut solcher Mägen ist sehr leicht verletzlich, woraus sich eben
die häufige Beimengung von Mucosafetzen erklärt. Eine vollkommene Inte¬
grität der Schleimhaut ist selten, meist finden sich die Zeichen einer mehr
oder minder ausgesprochenen »granulirenden Gastritis«. Zuweilen sind die
Veränderungen soweit vorgeschritten, dass man an die Anfangsstadien typi¬
scher degenerativer Schleimhautatrophie denken könnte. Aber in der Mehr¬
zahl der Fälle waren sie doch so geringfügig, dass man Bedenken tragen
muss, sie überhaupt diagnostisch zu verwerthen. Solche leichte Läsionen
der Magenschleimhaut findet man häufig bei den verschiedensten und auch
harmlosesten Magenaffectionen durch gelegentliche Befunde von Mucosafetzen
im Ausgeheberten. Sie sind zum Theil gewiss traumatische Artefacte durch
die Ausheberung, durch den Reiz des Magenschlauches. Und dann ferner,
wo ist ein Magen, der zu jeder Zeit als völlig gesund angesprochen werden
könnte? Wird mit irgend einer Schleimhaut des Körpers häufiger Missbrauch
getrieben als mit der des Magens ? Ohne dass andere objective und subjec-
tive Krankheitserscheinungen hervortreten, sind doch sicherlich sehr häufig
leichte katarrhalische, entzündliche Veränderungen der Schleimhaut vor¬
handen! Uebrigens hat Lubarsch schon selbst diese Bedenken geäussert, in¬
dem er darauf hingewiesen, dass man aus dem Ergebniss der Untersuchung so
gewonnener Magenschleimhautfetzen nur dann einen diagnostischen Schluss
machen darf, wenn die für eine atrophirende Gastritis charakteristischen
Veränderungen zu erkennen sind. Dann hat man einen absolut zuverlässigen
Anhaltspunkt für die Annahme einer ernsten Magenerkrankung (wahrschein¬
lich secundärer Natur).
Wir kommen zur Erörterung der Prognose. Martius bezeichnet die
oben besprochenen beiden Formen der Achylia gastrica als: 1. Achylia
gastrica bei Atrophie der Magenschleimhaut; 2. Achylia gastrica simplex.
Sie unterscheiden sich nach dem Auseinandergesetzten prognostisch sehr
wesentlich von einander. Erstere ist in jedem Falle ein Signum mali ominis,
mag sie nun in Begleitung eines Carcinoms erscheinen oder bei perniciöser
Anämie oder schliesslich als Resultat einer Gastritis progressiva atrophicans
aus irgend welcher Ursache. Freilich wird diese Achylie ihrem Träger erst
dann verhängnisvoll werden, wenn der atrophische Process in grösserer
Ausdehnung auch auf den Darm übergegriffen hat!
Die Achylia gastrica simplex betrachtet Martius als den Ausdruck
einer angeborenen Functionsschwäche des Magens, die eine individuelle Eigen-
thümlichkeit sei. Mit dieser Erklärung ist freilich noch nicht viel gewonnen.
Abgesehen davon, dass kein Analogon zu einer derartigen physiologischen
Abnormität im menschlichen Körper bekannt ist und eine Functionsschwäche
doch nicht zum dauernden vollständigen Versiegen der Drüsenthätigkeit
sollte führen können, ist schwer zu verstehen, worin dieser Defect, der sich
ja auf die Secretionsnerven des Magens, und zwar auf diese sogar ausschliess¬
lich erstreckt, seine Ursache haben soll. Der Forschung ist auf diesem Ge¬
biete also wohl noch ein reiches Arbeitsfeld gegeben. De facto spricht
zu Gunsten der Theorie von Martius die Thatsache, die ich aus eigenen
Erfahrungen durchaus bestätigen kann, dass solche Achylie Jahre lang un¬
verändert ohne jegliche Beeinträchtigung des Ernährungszustandes und ohne
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Achylia gastrica. — Acoine.
subjective Beschwerden bestehen kann. Martius giebt freilich der Befürch¬
tung Ausdruck, dass aus einer solchen Achylie allmählich sich eine Anadenie
entwickeln könne, weil eben die leicht empfindliche Schleimhaut solcher
rainderwerthiger Mägen zu Erkrankungen sehr disponirt. Dass die Functions¬
anomalie zu einer Atrophie der Schleimhaut führen kann, darauf weisen ja
die erwähnten mikroskopischen Untersuchungsbefunde von Lubarsch hin.
Zum Schluss noch einige therapeutische Bemerkungen. Die Sachlage
macht es leicht, kurz zu sein. Wir stehen der Achylia gastrica leider mit
verschränkten Armen gegenüber, gleichviel um welche der beiden Formen
es sich im Einzelfalle handelt. Eine Gastritis atrophicans ist nicht rück-
bildungsfähig, ja wohl auch nur sehr schwer in ihrer fortschreitenden Ent¬
wicklung aufzuhalten. Ist aber auch die Schleimhaut intact, so besitzen wir
keine Mittel, die Functionstüchtigkeit der Magendrüsen wieder herzustellen.
Die Verabreichung selbst grosser Dosen Salzsäure andauernd wirkt gleich¬
sam wie ein Tropfen Wasser, der auf einen heissen Stein fällt. Abgesehen
davon, dass diese Mengen Salzsäure hinter den von der normalen Schleim¬
haut selbst producirten immer weit Zurückbleiben, so ist es fraglich, ob sie
wie in vitro, so auch im Körper wirken. Denn selbst eine künstliche Ver¬
dauung im Magen bedeutet noch keine Steigerung der Thätigkeit der
Drüsenzellen. Es fehlt das vermittelnde Band der Kraft der lebenden Zelle.
Auch die Zufuhr von Pepsin und Labferment wird ebensowenig die Thätig¬
keit der Drüsenzellen in entsprechender Richtung anzuregen vermögen, wenn
sie einmal vollständig erloschen ist. Die Wirkung der Stomachica ist schon
bei intacten Drüsen eine sehr beschränkte, oft sogar problematisch. Bei
dieser Sachlage wird man wohl auch von der Darreichung thierischen Magen¬
saftes, von Hunden aus Magenfisteln nach Pawlow’s Methode gewonnen,
die jüngst P. Mayer nach dem Beispiel französischer Autoren empfohlen hat,
nicht viel zu erwarten haben. Uebrigens würde man denn schon zweckmässiger
menschlichen Magensaft verwenden können, wie man ihn in Fällen von
Magensattfluss oft in grossen Mengen rein gewinnen kann.
Literatur: Bis zum Jahre 1897 vollständig in F. Martius und O. Lubarsch, Achylia
gastrica, ihre Ursachen und ihre Folgen. Leipzig und Wien 1897. — Riegel, Magenkrank¬
heiten in Nothnagel’s Handbncb. 1898, pag. 602 u. f. und pag. 902 u. f. — D. Gerhardt,
Berliner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 3ö. — Troller, Zur Pepsinfrage bei Achylia gastrica.
Arch. f. Verdauungskrankheiten. V, 1898. — Paul Mayer, Verhandlungen des Vereins für
innere Medicin in Berlin. Sitzungen vom 2. und 30. April 1900 — M. Koch, Inaug.-Dissert.
Berlin 1898. — K. Fader uud C. E. Bloch, Zeitschr. f. innere Med., XL, 1900. Albu.
Acoine. Patentname für eine Anzahl (10) Alkyloxyphenylgua-
nidine, welche in der chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul darge¬
stellt wurden und welche von Trolldenier und W. Hesse in Dresden wegen
ihrer anästhesirenden Eigenschaften als Ersatzmittel des Cocains versucht
wurden. Ueber die chemische Constitution dieser Körper belehren uns ihre
Namen. Wir nennen von den 10 zur Untersuchung vorgelegenen Präparaten
als Beispiele: Triphenetylguanidinchlorhydrat (O), Symm. Di-p-phenetyl-mono-
anisylguanidinchlorhydrat (A), Triparaanisylguanidinchlorhydrat (B), Dipara-
anisyl-mono-paraphenetylguanidinchlorhydrat (C) u. s. w. Wegen der Länge
der Namen der Verbindungen sollen künftig nur die neben jedem Namen
stehenden Buchstaben beibehalten werden. Zunächst wurde an Hunden die
im Vergleich zu Cocain geringere Giftigkeit der Acoine festgestellt. Hunde
von 5—9 Kgrm. im Gewichte vertrugen eine einmalige Dosis von 0,5 in
Gelatinekapseln reactionslos, erst 0,75 bewirkten Erbrechen oder Tod. Cocain
erzeugt schon, in gleicher Weise gegeben, zu 0,1 Grm. heftige nervöse Stö¬
rung und 0.25 Grm. tödten unter Auslösung heftiger tetanischer Krämpfe.
Verdünnte Lösungen von Acoin C zu 1 Tropfen in den Conjunctivalsack
eingeträufelt, bewirkten je nach der Concentration nach 1—2 Minuten voll-
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Acoine. — Akrolein.
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ständige Anästhesie des Kaninchenauges von verschiedener Dauer. Wässerige
Lösungen zu 1 : 1000 rufen eine 15 Minuten lange Anästhesie hervor, von
1 : 400 eine 30 Minuten lange, von 1 : 100 eine 40—80 Minuten lange, von
1 : 40 eine länger als einen Tag dauernde. Die letztere Conceotration reizt
wohl das Auge, ohne jedoch nachhaltigen Schaden zu veranlassen. Die übrigen
schwächeren Lösungen waren frei von unangenehmen Nebenwirkungen.
Uebrigens kann man die Wirkung einer schwachen Lösung verstärken, indem
man sie entweder länger als 1 Minute auf das Auge einwirken lässt, oder
indem man der ersten Einträufelung nach einigen Minuten eine zweite folgen
lässt; auch lässt sich die Concentration 1 : 100 ohne Bedenken anwenden,
wenn man eine längere Dauer der Anästhesie erzielen will. Subcutane Injec-
tion concentrirter Lösungen (6 : 100) wirkten rein local, die Umgebung der
Injectionsstelle wurde gefühllos; hingegen wurde die Haut in der Umgebung
der Injectionsstelle nekrotisch und im Verlaufe von wenigen Tagen abge-
stossen, wenn mehr als 3 Ccm. concentrirter Flüssigkeit injicirt wurde, bei
geringerer Menge trat keine Nekrotisirung ein. Injectionen nach Schleich,
am eigenen Körper und an anderen controlirt, ergaben nicht nur keinen
Nachtheil, sondern die Injection einer Lösung von Acoin 0,1, Natr. chlorat.
0,8, Aq. destill. 100,0 bewirkte Anästhesie von bedeutend längerer Dauer
wie Schleich s Originalflüssigkeit, sie bleibt 40—50 Minuten nach erfolgter
Injection in gleicher Ausdehnung bestehen; erst dann ruckt die Grenze der
Empfindung langsam nach dem Centrum vor. Die Lösungen sind stark anti¬
septisch und im Dunkeln haltbar; die für Injectionen bestimmten Lösungen
sollen jedoch jedesmal frisch bereitet werden. Man löst das Acoin, indem
man es dem abgekochten, noch heissen Wasser zufügt und das Auflösen
durch Umschwenken bewirkt. Die Brauchbarkeit der Acoine am Menschen¬
auge muss noch ausprobirt werden; Trolldenier warnt ausdrücklich vor
der Anwendung concentrirter Lösungen wegen deren Aetzwirkung; immer¬
hin sollen die zu endermalen Injectionen nach obiger Vorschrift benützten
Acoinlösungen der Schleich sehen Originallösung in jeder Richtung überlegen
sein. Sämmtliche Acoine zeigten die gleiche Wirkung. Am meisen wurde
Acoin C versucht.
Literatur: Tbolldenier (Dresden), Ueber die anästhetischen Eigenschaften von
Alkyloxyphenylgaanidinen (Acoinen). Aus dem path. anat. Institut der thierärztl. Hochschule
zu Dresden. Therap. Monatsh. 1899, pag. 36. Loebisrh.
Akroleifn. Die als Aldehyd des Allylalkohols, C 3 H 6 O, aufzufassende
Verbindung C s H 4 0, welche beim Erhitzen von Fetten sich bildet und am
reinsten durch Destillation von Glycerin mit Borsäureanhydrid erhalten
werden kann, besitzt die irritirende Wirkung der Aldehyde in hohem Masse
und bewirkt beim Verdampfen massiger Mengen Brennen in der Bindehaut
des Auges, vorübergehendes Stechen in der Nase und ein unangenehmes
Gefühl von Völle in den Lungen, das zu zeitweiligem Anhalten des Athmens
nöthigt. Das gleichzeitig bei irgendwie erheblichen Mengen von Akrolein in
der Athmungsluft auftretende leichte Gefühl von Schwindel, Benommensein
und stärkerem Blutandrange zum Kopfe weist auf narkotische Beiwirkung
hin. Sowohl irritirende als narkotische Wirkung ergiebt sich auch bei acuter
Vergiftung von Warmblütern mit subcutan injicirtem Akrolein, wonach nicht
nur Reizung der Augen mit starker Secretion, sondern auch Dyspnoe und
Athmungsverlangsamung und schon vor starker Entwicklung der Athmungs-
störungen Somnolenz eintritt und bei der Section Entzündungsherde in den
Lungen sich finden. Bei Fröschen bewirkt Akrolein motorische Lähmung
und rasch eintretende Starre des Herzventrikels. Beim Menschen kann nach
längerer Beschäftigung mit Akrolein Bindehautkatarrh und quälender Ka¬
tarrh der hinteren Rachenwand, der Kehlkopf- und Broncbialscbleimhaut
entstehen.
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Akrolein. — Akromegalie.
Die örtlich irritirende Wirkung scheint auf fällender Einwirkung auf das Gewebs-
eiweiss zu beruhen; Eiereiweiss und Blutserum werden davon nur wenig afficirt. Rothe Blut¬
körperchen werden davon aufgelöst. Blut wird beim Versetzen mit Akrolein heller roth und
lack färben und zeigt nach Zusatz von Schwefelammonium in langsamer Entwicklung in dem
Absorptionsbande des Hämoglobins die Streifen des Hämochromogens.
Akrolein wird unverändert durch die Lungen ausgeschieden. Man er¬
kennt es am besten durch die intensive Enzianblaufärbung, die es in einem
Gemische von Piperidin und Nitroprussidnatriumlosung erzeugt und welche
durch Zusatz von Eisessig in BlaugrQn und durch Ammoniak in Violett
übergeht.
Literatur: Lewin, Arch. f. experim. Path. 1900, XLIII, Heft 5 u. 6, pag. 351.
Hasemann.
Akromegalie (vergl. Encyclopäd. Jahrb., VIII, pag. 5). Zur Akro¬
megalie liegt wiederum ein sehr grosses und theilweise bemerkenswerthes
casuistisches Material vor. Neue Fälle veröffentlichten Thompson j ), v. Starck *),
Wkisz 2 ), Embden 4 ), Gajkiewicz 6 ), Peiser (i ), Mendelssohn 7 ), Witmer 8 ), Col ®),
Jacoby 10 ), Kauffmann ll ), Naher 1 *), Joffroy 13 ), Chadbourxe u ), Bruhl 16 ),
Pineles(2) l0 ), Erstein 17 ); mit Sectionsbefunden Neal, Smyth und Shattock 18 ),
Bailey (2) 10 ), Spiller 20 ), Johnston und Monro 21 ). Die Fälle von Chad-
boprne u ) und Bruhl 16 ) waren durch Complication mit Diabetes mellitus —
der letztere auch mit parenchymatöser Nephritis — die Fälle von Col®)
und Joffroy 15 ) durch hochgradige Demenz, die Fälle von Pinelks ,6 ) durch
myxödeniartige Symptome (Hautveränderungen und Stupor), der Fall von
Ebstein 17 ) durch eine ausgesprochene Urticaria subcutanea und sehr starke
idioniusculäre Contractionen, besonders am M. biceps brachii, ausgezeichnet.
Von besonderem Interesse sind die fünf oben erwähnten Fälle mit
Sectionsbefund. In vier Fällen darunter war bei Lebzeiten Neuritis und
Atrophia X. optici mit consecutiver Erblindung, einmal auch partielle recht¬
seitige Oculomotoriuslähmung und Fehlen der Kniereflexe (Bailey ,9 ), einmal
biteiuporale Hemianopsie neben Opticusatrophie und Fehlen der Kniereflexe
(Spiller 20 ) beobachtet worden. Die Section ergab in sämmtlichen fünf
Fällen eine meist sehr beträchtliche Vergrösserung der Hypo¬
physis, und zwar zweimal in Form einfacher Hyperplasie (Neal, Smyth
und Shattock 18 ); zweiter Fall von Bailey 19 ), in letzterem finale Blutung in
die vergrösserte Hypophysis); dreimal in Form eines Neoplasmas, einmal
Adenom (Bailey 1 ®), zweimal Rundzellensarkom (Spiller 20 ), Johnston und
Monro. 21 ) ln zwei Fällen fand sich auch Vergrösserung der Thyreoidea, in
einem Falle interstitielle Nephritis. — Alles in allem gereichen demnach diese
Befunde wiederum der jetzt fast allgemein durchgedrungenen Anschauung,
dass es sich bei der Akromegalie um eine (dem Myxödem, der Basedow-
schen Krankheit u. s. w.) verwandte Blutdrüsenerkrankung, in besonders
enger Beziehung zur Hypophysis handelt, zur erheblichen Stütze.
Therapeutisch ist freilich nur über vergebliche Versuche mit Organ¬
safttherapie (Hypophysis- und Schilddrüsentabletten etc.) zu berichten. Be-
achtenswerth dürfte vielleicht der an den Spiller sehen*°) Fall geknüpfte
Vorschlag von Kef.n sein, bei d agnosticirbaren Hypophysistumoren durch
Trepanation vom Stirnbein her vorzudringen und die Hypophysis auf diesem
Wege operativ zu entfernen.
Literatur: ‘o Thompson, Brit. med. Jonrn. 9. April 1898. — v. Starck. Münchener
med. NY echt r.schr. 1898. Nr. öl. — Wfisz. Wiener med. Wochen sehr. 1898. Nr. 10. 11. —
4 ' Emrdkn. Deutsche nud Wochensehr. 1^98. Nr. 3ö. — ■) Gajkiewicz. Sitzungsbericht der
Warschauer uied. Geseilsch. vom lö. Juni 1S. 4 S. — E. Peiser. Deutsche med. Woehensehr.
1898 Nr. 41 — M. Mendelssohn. Verhandl. d. V^rrins f innere Med. 1899 99. — A Fkkjit
Witmer, Joura. of uervous and di'-a^e. 18;«8. H^ft 1. — H. Waldo Col, Journ. of
the American med. association. 1>,«8, XXXVI. Nr. 23. — :: A. Jacobv. New Yorker med.
Wechenschr. 1898. Nr. 8. — Kalffma>>. Brit n:ed. Jonrn. 9. April 1>98. — ’- 5 > A. NAriKm.
I udein. 2. April 1898. — :r * Joffroy. Progrr» m-d. 18c8. Nr. 9- — :i ■ Chadroirnr, New
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Akromegalie. — Anilismus.
15
York med. Journ. 1898, Nr. 14. — 15 ) Brühl, Allg. Wiener med. Ztg. 1898, Nr. 1 (zweifel¬
hafter Fall). — 16 ) F. Pineles, Die Beziehungen der Akromegalie zum Myxödem und zu
anderen Blutdrtisenerkrankungen. Volkmann’s Samml. klin. Vortr. N. F. 1899, Nr. 242. —
17 ) Ebstein, Sitzung d. med. Gesellsch. in Göttingen vom 7. December 1899. — 18 ) Neal,
Smyth und Shattock, Lancet. 23. Juli 1898. — lö ) Pearce Bailey, Philadelphia med. Journ. *
1898, Nr. 18. — 20 ) Spiller, Journ. of nervous and mental disease. 1898, Heft 1. — 21 ) Johh
Mc. Johnston and Monro, Glasgow med. Journ. August 1898. A. Eulenburg.
Ammonlakvergiftnng« Nach den neueren Beobachtungen über
Ammoniakvergiftungen, zu denen die künstliche Eisfabrication vielfach in
den letzten Jahren Anlass gegeben hat, kann es keinem Zweifel unter¬
liegen, dass der Tod als asphyktischer angesehen werden muss und dass in
Fällen, in welchen das letale Ende erst in einigen Tagen erfolgt, die Ver¬
änderungen in den feineren Bronchien die wesentliche Ursache des Todes
sind. Dass es sich um Asphyxie handelt, geht insbesondere auch daraus
hervor, dass die nach Voraufgehen schwerer Dyspnoe in einzelnen Fällen
auftretenden Delirien unter dem Einflüsse der Einathmung von Sauerstoff¬
gas verschwinden, ohne dass dadurch der todtliche Ausgang abgewendet
wird. In zwei Fällen, in denen der Tod am 3. Tage nach der Vergiftung
eintrat, fanden Monro und Workman *) die Lungen zwar stark hyperämisch,
aber lufthaltig, mit Randemphysem, und nur die den kleinsten Bronchien
angrenzenden Alveolen an den Veränderungen participirend, die an sämmt-
lichen Bronchien bis in die feinsten Verzweigungen hinein constatirt wurden.
Diese bestehen in dem Auftreten einer Pseudomembran, welche die mikro¬
skopische Untersuchung als aus weissen Blutkörperchen, meist mononucleären,
in einem Maschenwerke von Faserstoff bestehend nachweist. An die Stelle
des verschwundenen Flimmerepithels sind Rundzellen mit rundlichen oder
eiförmigen Kernen getreten, und die Wandungen der feinsten Bronchien
sind hyperämisch und verdickt. Die in solchen Fällen zu constatirende
Hyperämie der Nieren ist für den tödtlichen Ausgang ohne Bedeutung. Dass
bei ganz acut letal verlaufenden Fällen Glottisödem im Spiele ist, erscheint
wahrscheinlich, zumal da auch in den Fällen von Monro und Workman
Larynx und Trachea croupöse Membranen zeigten.
Dass auch bei Vergiftung durch Verschlucken von Ammoniak neben
acuter Pharyngitis und Gastritis katarrhalische Entzündung der Luftwege
sich finden kann, beweisen zwei neue todtliche Vergiftungen kleiner Kinder. 2 )
Dass derartige Befunde für die gerichtsärztliche Diagnose von Bedeutung
sind, liegt auf der Hand, da der Nachweis von Ammoniak in den Leichen-
theilen in solchen Mengen, dass daraus ein Schluss auf eine Vergiftung
gezogen werden kann, wohl nur in den allerwenigsten Fällen gelingen wird.
Literatur: *) Monro und Workman, Poisoning by gaseous ammonia, with Chemical
and pathological records on two cases treated in the Glasgow Royal Infirmary. Glasgow
med. Journ. 1898, pag. 343. — 2 ) Lesser, Ueber die Vertheilung der Gifte im menschlichen
Körper. 13. Zur Vergiftung mit Natronlauge und der mit Ammoniak. Vierteljahrschr. f. ge¬
richtliche Med. 1898, XVI, pag. 13. Husemann.
Anilismus* Man pflegt diese Bezeichnung gegenwärtig nicht blos
auf die durch das Anilin als solches herbeigeführten Intoxicationen zu be¬
ziehen, sondern auf alle Vergiftungen auszudehnen, welche durch Benzol¬
derivate bei Arbeitern in Anilinfabriken erzeugt werden. In der That ist
die Symptomatologie sowohl der leichteren als der schwereren Erkrankungen
so übereinstimmend, namentlich ein hervorstechendes Symptom, die Cyanose,
bei allen vorhanden. Andererseits ist aber die Gefährlichkeit der einzelnen
Stoffe, mit denen die Arbeiter zu thun haben, überaus verschieden. Nach
den Erfahrungen in der Anilinfabrik in Offenbach a. M. ist das feste Para-
nitrotoluol ungiftig, während das flüssige Orthonitrotoluol einerseits
und das durch Reduction aus dem Paranitrotoluol entstehende Parato-
luidin dem Anilin und Nitrobenzol an Gefährlichkeit nicht nachstehen.
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16
Anilismus.
Dinitrobenzol und ebenso ein Gemisch von Dinitrobenzol und Dinitrotoluol,
auch Nitroacetanilid führen nur zu leichten Intoxicationen, die unter Cyanose,
Mattigkeit und Schwindel oder auch unter Kopfweh und gastrischen Sym¬
ptomen (Appetitlosigkeit, Erbrechen) verlaufen, ohne Arbeitsunfähigkeit zu
bedingen. Die als Rothöle bekannten Gemenge von Anilin mit anderen
Benzolderivaten und das Paranitranilin gehören zu den gefährlicheren
Substanzen.
Wie die Cyanose, so kommt auch der sie begleitende Ikterus nach
Einwirkung einer grösseren Anzahl der Gifte (Dinitrobenzol, Gemenge von
Anilin mit Nitrobenzol und Paratoluidin) vor und kann die übrigen Erschei¬
nungen überdauern. Der Puls ist in der Regel beschleunigt (selbst bis 140
bis 160 Schlägen). In schwereren Fällen kann es bei Nitrobenzol Vergiftung
zu mehrere Tage anhaltender Ataxie mit Taubheit in den unteren Extremi¬
täten, aber ohne Herabsetzung der Sehnenreflexe, bei Anilismus zu inten¬
sivem Rausche kommen.
In Bezug auf die Verhütung des Anilismus ist vor allem zu beachten,
dass die Apparate für Benzol und verwandte Körper so eingerichtet und
aufgestellt werden, dass Verunreinigung der Umgebung, insbesondere auch
der Hände und Kleider der beschäftigten Arbeiter, ausgeschlossen ist. Mess-
gefässe werden zweckmässig mit einem Ueberlaufe versehen. Die schwersten
Gefahren bietet das Einsteigen in die Kessel behufs Reinigung derselben,
das möglichst zu vermeiden, aber bei Kesseln, die unter Druck arbeiten,
nicht zu umgehen ist. Solche Kessel müssen, ehe sie bestiegen werden, durch
Ueberdestilliren oder Auskochen mit Wasser oder durch Fällung mit saurem
Wasser auf die Dauer von 10—12 Stunden und ausgiebige Lüftung durch
Einblasen comprimirter Luft, die auch während der Arbeit zuzuführen ist,
möglichst giftfrei gemacht werden. Die Arbeit im Kessel ist nach 10 Minuten
zu unterbrechen und darf erst nach einer Pause von 10 Minuten durch den¬
selben Arbeiter wieder aufgenommen werden. Der Arbeiter in einem Kessel
ist anzuseilen und stets von zwei anderen während seiner Beschäftigung zu
beobachten. Arbeite^, welche sich nicht wohl fühlen, dürfen nicht zum Rei¬
nigen der Kessel angehalten werden. Nach Erledigung der Arbeit sind kalte
Waschungen und Wechsel der Schuhe und Fusslappen am Platze. Warme
Bäder sind insofern ungeeignet, als sie bei den Arbeitern, die schon Anfänge
der Intoxication zeigen, leicht zu Verschlimmerung führen.
Zur Behandlung ist schwarzer Kaffee zu reichen. Umherführen in freier
Luft ist zweckmässig durch ruhiges Sitzen oder Liegen an einem kühlen
Orte unter Bewahrung vor dem Einschlafen zu ersetzen. Bei völliger Be¬
wusstlosigkeit sind die Kranken auf Decken liegend mit Wasser zu be-
giessen und kräftig abzureiben. Nötigenfalls ist künstliche Athmung an¬
zuwenden.
Auf Erkrankungen ganz eigentümlicher Art bei Arbeitern in Farb-
fabriken ist neuerdings von verschiedenen Seiten aufmerksam gemacht worden.
Schon 1877 hat Grandhomme auf das Vorkommen von Entzündung der Blase
mit Abgang von bluthaltigem Urin bei zwei Fällen von acuter Anilinver¬
giftung im Reductions- und Destillationsraum der Höchster Farbwerke hin¬
gewiesen. Aehnliche Fälle wurden auch in den drei folgenden Jahren beob¬
achtet, wobei die Affection einige Tage dauerte. Analoge Beobachtungen
machte auch Starck (1892) nach Vergiftung mit Toluidin. Nach Bachfeld
sind Harnbeschwerden bei acutem Anilismus zwar nicht constant, doch con-
statirte auch er mitunter in sonst sehr leichten Fällen heftige Strangurie
und Hämaturie, die anscheinend am häufigsten durch Orthotoluidin hervor¬
gerufen wird und constant nach Intoxication mit Rothölen eintritt, in denen
ebenfalls Orthotoluidin die Ursache zu sein scheint. Bei Intoxicationen mit
Anilin, Nitrobenzol und Orthonitrotoluol hat Bachfeld derartige Beschwerden
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Anilismus. — Antidote.
17
nicht beobachtet, wohl aber leichten Harndrang bei Arbeitern im Nitrirraume,
wo Benzol in Nitrobenzol übergeführt wird.
Von besonderem Interesse scheint das von Rehn und Leichtenstern
constatirte Auftreten von Blasengeschwülsten bei Arbeitern in Fuchsin¬
fabriken, die längere Zeit an Strangurie und Hämaturie gelitten und eine
geraume Zeit (15—20 Jahre) in den Fabriken gearbeitet hatten. Besonders
sind es die Arbeiter in den Reductionsräumen, wo die Nitroproducte (Nitro¬
benzol, Nitrotoluol) in die Amidoproducte (Anilin, Toluidin) übergeführt werden,
und in der Fuchsinschmelze, wo die beiden Amidoproducte zur Verdampfung
gelangen. In einem Falle von Leichtenstern war ein Arbeiter erkrankt, der
nicht mit Anilin und Toluidin, sondern ausschliesslich mit der Ueberführung
von Nitronaphthalin in Amidonaphtbalin (Naphthylamin) beschäftigt war.
Da die Bildung solcher Geschwülste auf Strangurie und Hämaturie
folgt, ist es zweifellos von Bedeutung, dass die Arbeiter, sobald sie der¬
artige Beschwerden verspüren, sich sofort beim Arzte melden und vorüber¬
gehend oder dauernd von dem betreffenden Arbeitszweige auszuschliessen sind.
Die länger dauernde Einwirkung concentrirter Dämpfe von Toluidin, Anilin
und Amidonaphtbalin ist durch geeignete Ventilation in den Fuchsindarstellungs¬
räumen zu beseitigen, auch häufiger Wechsel der Arbeiter anzurathen.
Eine eigenthümliche Affection bei Arbeitern in Anilinfärbereien ist ein
Augenleiden, das sich als sepiabraune Färbung der Cornea und der Conjunc-
tiva im Lidspaltenbezirke darstellt. In der betroffenen Partie der Hornhaut
ist das Epithel in Form kleiner Bläschen abgehoben. In einem Etablissement
waren von 37 Arbeitern 18 erkrankt, davon 8 an der Cornealaffection und
10 ausschliesslich an der Affection der Bindehaut. Die Ursache des Leidens
ist in den aus der heissen Anilinschwarzflüssigkeit aufsteigenden
Dämpfen zu suchen, in welchen Oxydationsproducte des Anilins (Chinone)
vorhanden sind, die noch in sehr starker Verdünnung ätzend und färbend
wirken. Diese können direct oder indirect, indem dadurch bewirkte Schmerzen
zum Reiben des Auges Anlass geben, zur Verletzung des Epithels führen.
Nur durch längere Unterbrechung der Arbeit in den Fabriken gelingt die
Besserung oder vollkommene Beseitigung der Affection. Peinliche Rein¬
lichkeit und ausgiebige Ventilation scheinen das Auftreten verhindern zu
können. 4 )
Literatur: l ) R. Bachfrld, Ueber Vergiftung mit Benzolderivaten (Anilismus). Viertel¬
jahrschrift f. gerichtl. Med. 1898, Heft 2, pag. 392. — a ) Rehn, Blasengeschwülste bei Fuchsin-
arbeitern. Arch. f. klin. Chir. L, pag. 588. — 3 ) Leichtenstern, Ueber Harnblasenentzündung
und Harnblasengeschwülste bei Arbeitern in Farbfabriken. Deutsche med. Wochenschr. 1898,
Nr. 45. — 4 ) Senn, Typische Hornhauterkranknng bei Anilinfärbern. Schweizer Correspondenz-
blatt. 1897, Nr. 6. Huaem & nn .
Antidote« Nicht ohne praktisches Interesse ist die an Thieren er¬
kannte antidotarische Wirksamkeit verschiedener alkalisch rea-
girender Alkalisalze bei methämoglobinbildenden Giften. Nach
einer ausgedehnten Versuchsreihe von P. Masoin wirkt die vorherige Ein¬
spritzung von Natriumcarbonat, Natriumbicarbonat, Natriumacetat oder
Natriumformiat auf den Eintritt der Vergiftungserscheinungen nach den vor¬
züglichsten methämoglobinbildenden Giften (Natriumnitrit, Kaliumchlorat,
Anilin, Acetanilid) im allgemeinen retardirend und verhütet den Eintritt
des Todes und unter Umständen selbst der Vergiftung nach letalen Dosen.
Die Intensität des antidotarischen Effects wird dabei durch die Art des
Giftes, des Antidots und des Versuchsthieres modificirt. Im allgemeinen
wirken das Formiat und das Acetat weniger gut. Bei Vergiftung mit Natrium¬
nitrit wird durch vorherige Application der Carbonate die Dosis letalis beim
Frosche von 0,55 Mgrm. auf 0,65 erhöht und bei höheren Dosen (0,7—0,8 Mgrm.)
der Eintritt der Erscheinungen um 18—24 Stunden hinausgeschoben, ohne
Encyclop. Jahrbücher. IX.
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18
Antidote.
dass jedoch der Tod dadurch verhütet wird. Beim Kaninchen hat die vor¬
gängige Application der Carbonate bei schwer toxischen, aber nicht letalen
Dosen Natriumnitrit das Ausbleiben der Vergiftung, bei letalen Dosen eine
Verzögerung des Eintritts der Symptome um 1 2 Stunde, aber nicht Lebens¬
rettung zur Folge. Bei Vergiftung von Kaninchen mit Kaliumchlorat ver¬
hindert vorherige Einspritzung von Carbonaten die postmortale Umwandlung
des Hämoglobins in Methämoglobin; beim Hunde bleibt danach die Intoxi-
cation durch die doppelte, nach Acetat durch die einfache letale Dosis aus.
Bei Anilinvergiftung haben die basischen Salze beim Frosche keinen Ein¬
fluss auf die Vergiftung und die letale Dosis, beim Kaninchen wird die
letale Dosis dadurch um 46% erhöht.
Wenn diese Versuche auch mehr eine präventive als eine eigentlich
curative Wirkung darthun, so ist doch der antidotarische Werth insofern
nicht zu bezweifeln, als einerseits auch bei Thieren die Lebensrettung gelingt,
wenn die Carbonate nur kurze Zeit nach der Einführung des Giftes applicirt
werden, und andererseits selbst bei bereits entwickelten Symptomen ein
weiterer Fortschritt gehemmt und jedenfalls Zeit für die Elimination der
giftigen Stoffe gewonnen werden kann. Allerdings ist nach dem Eintritte der
Krämpfe bei Anilinvergiftung nach den Thierversuchen die Prognose un¬
günstig. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Wirkung in der
Hemmung der Methämoglobinbildung liegt, da man auch durch Zusatz der
basischen Salze zu Blut ausserhalb des Körpers die Methämoglobinbildung
durch Nitrite mehrere Stunden hinausschieben kann. Die Ursache dieser
Wirkung hat man zweifellos in der Alkalinität zu suchen, weil auch Natron
selbst den nämlichen Effect hat und weil auch bei den entsprechenden Kali¬
verbindungen das nämliche Verhalten stattfindet, während die schwefelsauren
und salpetersauren Salze und die Chloralkalien weder einen Einfluss auf die
Methämoglobinbildung noch auf den Verlauf der Vergiftung haben. Worauf
aber die die Methämoglobinbildung verhindernde Wirkung im circulirenden Blut
beruht, lässt sich vorläufig nicht sagen. Man kann sich vorstellen, dass die
Alkalinität ein Hemmniss für das Eindringen des methämoglobinbildenden
Stoffes in die Erythrocyten oder in die Zellen überhaupt abgebe, dass ein
alkalisches Medium die Zellen widerstandsfähiger mache, oder dass in einem
solchen die Methämoglobinbildner sich schwieriger zersetzen und so ihre
Wirkung weniger leicht ausüben können; möglicherweise kann auch che¬
mische antidotarische Veränderung der Methämoglobinbildner im Spiele sein,
oder es kann auch nach der Ansicht von Binz, dass diese Gifte Ozon in
Zellen mit saurer Reaction frei machen, um Abstumpfung dieser Säuren
und Zersetzung des Ozons in Sauerstoff sich handeln.
Die merkwürdige Thatsache, welche die experimentelle Forschung in
Bezug auf die Toxine diverser Infectionskrankheiten zutage gefördert hat,
die Möglichkeit der Immunisirung und der Bekämpfung der bereits ausge¬
sprochenen Krankheit durch das Serum immunisirter Thiere, und die Er¬
kenntnis, dass ein ganz analoges Verhalten auch beim Schlangengift statt¬
findet, haben es nahe gelegt, Versuche anzustellen, ob nicht auch gegen
gewisse Gifte, von denen es durch frühere Erfahrungen feststand, dass be¬
stimmte Thierclassen davon nicht afficirt werden, oder dass sich Thiere
durch längeren Gebrauch allmählich an grössere Dosen gewöhnen, die Serum¬
therapie verwendbar sei. Die bisher vorliegenden Untersuchungen zeigen
jedoch, dass weder von der Serumtherapie noch von einer organothera-
peutischen Behandlung überhaupt etwas Besonderes zu erwarten wäre.
Selbst in Bezug auf ein wirkliches Thiergift, das Cantharidin, sind negative
Resultate erhalten. Die neueren Untersuchungen darüber 2 ) bestätigen zwar
das wiederholt constatirte Bestehen einer ausserordentlich grossen Resistenz
des Igels gegen Canthariden, die durch allmähliche Steigerung der Dosen
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Antidote. — Antimonvergiftung.
19
noch erheblich vergrössert werden kann, so dass der Igel in der That Dosen
von gepulverten Canthariden verträgt, welche für Menschen und Hunde
tödtlich wirken. Fortgesetzte Subcutaninjection von cantharidinsaurem Na¬
trium bewirken, selbst wenn 24 Mgrm. genommen sind, keine Intoxications-
erscheinungen, doch kommt es bei weiterer Zufuhr anfangs zu Anorexie
und Mattigkeit, später zu Gastroenteritis und Nephritis. Aber weder das
Blut gesunder noch der mit Cantharidin gefütterten Igel schützt andere
Thiere gegen die Folgen des Cantharidins.
Wie für das Cantharidin hat Lewix 3 ) auch für das Atropin dargethan,
dass es bei den gegen Belladonna äusserst resistenten Kaninchen weder im
Blute noch in den Organen übertragbare Schutzkörper giebt. Ist auch die
Resistenz bei Kaninchen so gross, dass sie in 14 Tagen mehr als 4 Grm.
Atropin entsprechende Mengen Belladonnablätter und Tollkirschen ohne nen-
nenswerthe Befindensänderung toleriren, so ist doch auch hier die Immunität
nicht unbegrenzt, und schliesslich resultirt Tod durch Störungen der Herz-
thätigkeit. Das Serum der mit Atropin gesättigten Kaninchen vermag aber
weder prophylaktisch noch curativ Meerschweinchen vor den Folgen toxischer
Atropindosen zu behüten und ebenso wirkt Einbringung von Gehirn und
Rückenmark natürlich immuner und mit Atropin behandelter Thiere prophy¬
laktisch gegen Atropinvergiftung.
Mit dem Strychnin scheint es sich nach den bis jetzt vorliegenden
Versuchen etwas anders zu verhalten. Dieses Gift, gegen welches Hühner
und verschiedene andere Vögel, nach den neuesten Untersuchungen von
Falck 4 ) ganz besonders der Staar, dessen Toleranz noch 23mal grösser als
die des Huhnes ist, bedeutende Resistenz besitzen, wird nach Versuchen von
Lusini b ) und Filippi 6 ) in Mischungen mit Blutserum in seiner Wirkung auf
empfindliche Thiere herabgesetzt. In derartigen Gemengen wird die Giftig¬
keit jedoch nicht aufgehoben, sondern nur deren Verlauf verlangsamt und
die letale Dosis insoweit modificirt, als Vj % der letalen Dosis überstanden
wird, während schon bei der zweifach letalen Dosis das tödtliche Ende nicht
abgewandt wird. Da wir übrigens, wie die älteren Versuche von Hüsemaxn
und Kroegf.r, Anrep, Cervello u. a. lehren, mittels Chloralhydrats, Urethans,
Paraldehyds u. s. w. die sechsfache letale Dosis zu überwinden imstande
sind, ist die Serumtherapie für die Strychnin Vergiftung ohne Bedeutung.
Noch mehr ‘gilt dies für die etwaige organotherapeutische Therapie, da
Filippi die von Vidal und Nobercourt 7 ) hervorgehobene Herabsetzung der
Strychninwirkung durch Gehirn- oder Rückenmarkspulpa weit geringer als
die durch Blutserum bewirkte fand, so dass bei Steigerung der letalen Dosis
um ein Drittel der Tod constant eintritt.
Literatur: *) Masoin, Contribution ;i Tetude des »ubstances methemoglobinisant».
Brüssel 1898. — *) Lewin, Ueber die Immunität des Igels gegen Canthariden. Deutsche med.
Wochenschr. 1898, Nr. 24. — 3 ) Lewin, Die Immunität der Kaninchen und Meerschweinchen
gegen Belladonna und Atropin. 1899, Nr. 3. — 4 ) Falck, Zur Strychninvergiftung der Vögel.
Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1899. Nr. 29. — 5 ) Lusini, Azione del sero ematico naturale
ed artificiale »ugli alcaloidi. Riforma med. 1898, Nr. 180. — 6 ) Filippi, Sopra alcune »o-
»tanze che modificano il potere tossico della stricnina. Annali di Farmacoter. März-April, 1899,
pag. 137. — 7 ) Widal et Nobebcoürt , Sur l'action antitoxique des centres nerveux pour la
strycbnine et la morphine. Semaine med. 1898, Nr. 12. Husemann.
Antimonvergiftung. In der Färberei wird in neuerer Zeit unter
dem Namen Brechweinsteinersatz eine leicht lösliche Verbindung von
Antimon mit Fluor und Natriumfluorid, Sb F 3 + 3 Na F + 5 IL, 0, angewendet.
Dass diese stark giftige Wirkung besitzt, beweist ein Fall von tödtlicher
Vergiftung eines 12 , / 2 jährigen Knaben, der ein Stück von etwa 1,75 Grm.
genossen hatte. Die Symptome entsprachen im wesentlichen der Brechwein¬
steinvergiftung. Es trat sofort Leichenblässe und Erbrechen ein, dann folgten
Vo Stunde später sehr heftige Entleerungen per os, brennende Leibschmerzen,
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20
Antimonvergiftung. — Arsenikvergiftung.
grosser Durst, welche Erscheinungen nach einer gut durchschlafenen Nacht
sich wiederholten; abends traten Krämpfe ein, die nach 3 Stunden, 23 1 2
Stunden nach der Vergiftung, den Tod herbeiführten. Die Section wies katar¬
rhalische Gastritis und Enteritis nach. Im Magen, Zwölffingerdarm, Speise¬
röhre und Inhalt einerseits, in Leber, Milz und Nieren andererseits, ebenso
in einer kleinen Portion Urin wurde Antimon spurweise aufgefunden.
Literatur: Lesseb, lieber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Organismus.
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XVI, pag. 93. Husemann.
Argentol, oxychinolinsulfosaures Silber, wurde von Gipseppe
Cipriaxi als Darmantisepticum, überdies für die Wundbehandlung auch bei
veralteten Geschwüren und syphilitischen Ulcerationen empfohlen. Es ist
ein schwer lösliches Pulver, unlöslich im Magensaft, welches im Darm¬
saft und in Berührung mit septischen Stoffen in Oxycholin und Silber zer¬
fällt. Für die Wundbehandlung kommt es in Pulverform, in Salbenform
1 : 50—100 Vaselin oder Lanolin, oder bei Blennorrhoe der Urethra zur
Injection als schleimige Emulsion 1 : 1000—3000 zur Anwendung. Innerlich
als Darmantisepticum bis zur täglichen Gabe von 1,0. Die Patienten klagen
nach der Einnahme von Argentol in den ersten Tagen über einen adstrin-
girenden bitteren Geschmack. Nach Cipriaxi sinkt dabei die Toxicität des
Urins unter die Norm.
Literatur: Expenmentelles und Klinisches über das Argentol, insbesondere als Darm¬
antisepticum. Allg. med. Central-Ztg. 1899, Nr. 68. Loehisrh.
Arsenikvergiftang. Die Frage über die Resorption von
Arseniklösungen bei epidermatischer Application kann nach den neuesten
physiologischen Untersuchungen als dahin entschieden betrachtet werden,
dass wässerige Lösungen nicht zur Resorption gelangen. Vogel l ) con-
statirte nicht nur, dass das Einreiben oder Eintauchen in alkalische wässerige
halbprocentige Arseniklösungen bei Kaninchen und Hunden keine Vergiftung
herbeiführt, während bei wunder Haut Vergiftung und selbst tödtlicher Aus¬
gang die Folge ist, sondern er fand auch, dass nach Einreiben halbprocen-
tiger Arsenlösung an mehreren Körperstellen (am 1. Tage 0.015, am 2. Tage
0,05, am 3. Tage 0.07 As entsprechend) bei ihm selbst weder irgend weiche
Vergiftungserscheinungen auftraten, noch As im Harn nachgewiesen werden
konnte. Diese Versuchsergebnisse stehen in anscheinendem Widerspruche
mit Vergiftungsfällen, in denen der Tod nach der Application von Arsen¬
lösungen auf die angeblich intacte Haut eingetreten sein soll, aber die
letzteren Angaben sind meist sehr zweifelhaft. Wo es sich um Einreibungen
auf die Kopfhaut handelt, um Jucken erregende Parasiten zu entfernen, wird
die Gegenwart von Excoriationen oder Kratzekzemen a priori anzunehmen
sein, welche zur Aufnahme einer toxischen und letalen Menge Arsenik prä-
disponiren. Selbstverständlich ist die Haut von Krätzekranken zur Hervor-
rufung von sogenanntem Arsenicismus externus ganz besonders geeignet;
aber es können solche auch ganz bestimmt dadurch zustande kommen, dass
die intacte Haut durch mehrmalige Einwirkung der Arsenlösung selbst in
einen Zustand von Wundsein versetzt wird, so dass der Schutz, den die
unversehrte Oberhautdecke gewährt, aufgehoben wird. Vogel selbst hat bei
dreitägiger Einreibung halbprocentiger Arsenlösung das Auftreten nicht allein
von Brennen, sondern auch von Ekzem und von kleinen Eiterpusteln an
den Austrittsstellen der Haare beobachtet, somit Bedingungen, welche das
Zustandekommen von Arsenresorption ermöglichen. Selbstverständlich be¬
wirken stärkere Lösungen auch stärkere Läsionen der Haut, und wenn
solche wiederholt auf eine an sich bereits kranke Haut applicirt werden und,
wie dies bei der Krätzebehandlung durch Medicinalpfuscher auch heute noch
vorkommt, über die ganze Körperoberfläche oder doch einen sehr grossen
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Arsenikvergiftung,
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Theil derselben applicirt werden, so ist die Gefahr schwerer Erkrankung und
selbst todtlichen Ausganges sehr nahe. Solche Fälle werden in der Regel
nicht höchst acut unter choleriformen oder Collapserscheinungen verlaufen,
sondern als subacute Vergiftung mit anfänglichen Magendarmstörungen, die
später wieder zurücktreten, Appetitlosigkeit, grossem Durst, Trockenheit der
Zunge, Spannung und Empfindlichkeit des Leibes, Hinfälligkeit und starker
Albuminurie, der bei der Section parenchymatöse Nephritis entspricht. Man wird
in solchen Fällen den Beweis der Vergiftung durch chemische Untersuchung
von Leber, Milz und Nieren liefern, wie dies in dem neuesten Falle dieser Art
geschah, in welchem die dreimal in Intervallen von 8 Tagen ausgeführte
Einreibung eines Schnapsglases voll 2V 2 procentiger alkalischer wässeriger
Lösung von Arsen auf Arme und Beine eines Krätzekranken intensive Ge¬
schwürsbildung auf der Körperoberfläche und Arsenvergiftung mit tödtlichem
Ausgange herbeiführte. 2 ) Manchmal beschränken sich die Erscheinungen auch
auf Uebelkeit, Erbrechen und Zungenbelag. 3 )
Ueber die Vertheilung des Giftes bei acuter Arsenikvergiftung
liegen zwar verschiedene einzelne Untersuchungen aus früherer Zeit vor,
doch war das Material nicht gross genug, um definitive Schlussfolgerungen
zu ziehen, zumal da diverse Widersprüche vorliegen. Wie schwierig es aber
ist, selbst aus einer grösseren Anzahl von Beobachtungen Gesetze oder selbst
Regeln zu construiren, darüber bleibt nach einer Zusammenstellung Lesser s 4 )
über 49 in Berlin und Breslau vorgekommene Arsenvergiftungen, bei denen
vorwaltend Bischoff und B. Fischer die chemische Analyse ausgeführt hatten,
kein Zweifel. Jedenfalls muss es als ausgemacht gelten, dass die Wieder¬
auffindung wägbarer Mengen Arsen in den Leichen durch Arsenikvergiftung
zugrunde Gegangener in den ersten Wegen auch dann gelingen wird, wenn
die Dauer der Vergiftung mehrere Tage betragen hat. Misslingen kann
dieser Nachweis allerdings, wenn seitens des Chemikers zu geringe Mengen
des ihm zur Untersuchung übergebenen Materials verwendet wurden, wie bei
einer von einem anderen Chemiker ausgeführten Analyse an den Leichen-
theilen einer nach Einführung von ungelöstem Arsenik in 62 Stunden ver¬
storbenen Frau, wo statt des ganzen Darmcanals mit Inhalt nur 100 Grm.
zur chemischen Untersuchung mit negativem Resultate gebraucht wurden,
während in Leber und Milz Spuren gefunden wurden. Dass die nach Ein¬
führung ungelösten Arsens im Magen und Darm aufgefundenen Mengen
As 3 0 3 sehr wechselnde sind, ist natürlich, am geringsten waren sie bei
einem erst nach 90 Stunden verstorbenen Mädchen, und hier überwog
die Menge im Darm (17,9 Mgrm.) die im Magen (4 Mgrm.) absolut und re¬
lativ, während in 7 in kürzerer Frist verlaufenen Fällen die Arsenmenge
des Magens überwog. Eine constante Beziehung der Giftmenge in den ersten
Wegen sowohl als des Giftgehaltes im Darm zu der Dauer der Vergiftung
findet indessen nicht statt, wie schon daraus a priori klar ist, dass der
Termin des Eintrittes von Erbrechen und Durchfall ebenso wie deren In¬
tensität in den Vergiftungen sehr divergiren.
Dagegen scheint nicht allein bei Einführung gepulverten Arsens,
sondern auch bei Vergiftung mit Arseniklösungen im grossen und ganzen
eine Beziehung zwischen der Länge der Vergiftungsdauer einerseits und dem
Giftgehalte der zweiten Wege andererseits in der Weise zu existiren, dass
bis zu einem gewissen Zeitpunkte, der für die verschiedenen Organe differirt,
ein Anwachsen des Giftgehaltes und alsdann ein Sinken derselben vorkommt;
doch können auf letztere auch andere Momente influiren und die Abnahme
des procentualen Giftgehaltes verhindern. Das Verhältniss des Giftgehaltes der
ersten und zweiten Wege zu einander zeigt keine gesetzmässige Beziehung,
weder bei Einführung in Pulverform, noch bei solcher in Lösung; es findet
weder eine Coincidenz des Maximums beider statt, noch findet sich die grösste
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O
Arsenik Vergiftung
Giftmorde der Organe neben der kleinsten im Traetus. ühe Hfferenzen kennen
so gross sein, dass z. B. auf einen Giftgehait von 1.5—1.5 Wurm. Ln den
Organen 4.7 oder oder selbst be M^rrn. in den ersten We^c kommen. Selbst
bei F. inna h me in Lösung können Mauen und Inhalt grosse Mengen sT.s oier
*71.7 , enthalten, wär.rend in den Organen nur Spuren nachweisbar sind.
Von den elnielnen Urbaren enthält entschieden die Lerer in a.ien
Fällen d e urvsste prozentuale Glftm.enge. wenn n: ht durch postmona.e
Vergär ne M ir. N.eren oder Lunten einen enormen Giftgehal: aufweisen 47.
berw 11 \i Mgrm. in 11 Gm: in einem Fal.e. wo die Le:^*r den L5zh>:en
Gehalt von 4.7 Mrn hatte Jederda.is k murrt das Gehirn erst h nt^r Nieren.
Herr. Flut und selbst hinter den K‘rr-emuskeln. In der Leber schwankte
der prozentuale Gehalt bei Frwuaohsenen in fünf untersu chten Fähen rwisrhen
i> uri 4.7 >' rr. im Geh.m v n .1 — i.b. in den KT rpemuskebn zwischen
T ' uri 7.5 In 7 Fällen, wo der Grerszhenkelkn:eben auf Arsenik unter¬
sucht wurzle, erraten s ;h 4. 1 f uni 1.5.
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Arsenikvergiftung.
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Häuten, Leder, buntem japanischen Papier, bunten Tafelkreiden, diversen
Anilin- u. a. Farben, arsenhaltigen Mineralwässern, Schrotkörnern und ver¬
schiedenen Nahrungsmitteln, ferner in den Organen mit As 2 0 3 subcutan
oder per os vergifteter Thiere, im Magensaft von Menschen, der mit As 2 0 3
versetzt war, auch nach Zusatz von frisch gefälltem Eisenoxydhydrat. Zur
Auffindung von As in Substanzen, die das Pilzwachsthum hemmen, ist Neu¬
tralisation erforderlich. Abel geht so zuwerke, dass er das arsenhaltige
Material in ERLENMEYER-Kölbchen mit gut gekrümeltem Graubrot vermischt,
dann sterilisirt, hierauf mit Reincultur von Penicillium brevicaule besäet
und hierauf nach Verschluss des Kolbens mit einer Gummiklappe bei 23 bis
27° stehen lässt. Bei geeigneter Absorbirung der gebildeten Gase gelingt
der Nachweis, wenn die As-Menge des zu prüfenden Materials nicht gar zu
gering ist, auch auf chemischem Wege. Von arseniger Säure sind nach Abel
y , 0 — 1 / lQ{) Mgrm., nach Scholz sogar l / i00 — 1 / ßoo Mgrm. biologisch nachzuweisen.
Die früher verbreitete Ansicht, dass Arsen bei Einführung kleiner nicht
toxischer Mengen aus dem Thierkörper in wenigen Wochen verschwinde,
hat Scherbatschew ö ) theils durch Untersuchungen des Harns von Haut¬
kranken, der 70 Tage nach Beendigung der Arsencur noch den Nachweis
von As gestattete, theils durch grössere Versuchsreihen an Hunden und
Kaninchen als irrig erwiesen. In einem Falle konnte beim Hunde nach
25tägiger subcutaner Application von 4 Mgrm. im Tage noch nach 5 Mo¬
naten und 10 Tagen As nachgewiesen werden. Die Ausscheidungsdauer ist im
allgemeinen der Grösse der Gesammtdose proportional; beträgt diese beim
Hunde nur 3 Cgrm., so ist der Nachweis in 70 Tagen nicht mehr möglich.
Am längsten bleibt Arsen im Gehirn und in den Knochen. Ob die Resultate
der Experimente, wonach bei kurzer Zufuhr das Arsen am längsten im Ge¬
hirn, bei längerer in den Knochen nachweisbar ist, auch für den Menschen
zutrifft, so dass bei ausschliesslichem Auffinden von Arsen in den Knochen
dieses von einer früheren Arsenmedication herrühre, muss nach der Ent¬
deckung Gautier’s 9 ), dass Arsen ein normaler Bestandtheil des Orga¬
nismus sei, jedenfalls zweifelhaft sein. Gewiss wird durch diese Entdeckung
die gerichtsärztliche Expertise in Bezug auf Arsenikvergiftung erschwert.
Allerdings sind es nicht alle Organe und Systeme, in denen er sich findet,
sondern er localisirt sich in einzelnen, merkwürdiger Weise in der Glandula
thyreoidea und in geringerem Masse in der Thymusdrüse, daneben in der
Haut und in den Haaren. Spurweise hat Gautier auch As im Euter der
Kuh, in der Milch, in den Knochen, endlich im Gehirn einiger Neugebornen
gefunden. In der Schilddrüse fand Gautier 0,74 Mgrm. in lOOTheilen. Jedenfalls
bleiben Leber, Niere, Muskeln und Schleimhäute, Knochenmark, Blut, Urin und
Fäces Organe, in denen sogenannter normaler Arsenik sich nicht findet. Woher
das normale Arsen in dem Organismus gelangt, ist bisher nicht aufgeklärt.
Von den chemischen Veränderungen, welche Arsenikvergiftung im Thier¬
körper hervorruft, ist die Zunahme der Milchsäure hervorzuheben, die
nicht blos in der Leber, sondern noch mehr in der Magendarmwand und in
den Nieren stattfindet. Morishima 10 ) bezieht sie auf Eiweisszersetzung. Jeden¬
falls ist diese Bildungsweise auch trotz des Schwindens des Glykogens bei
Arsenicismus möglich, da auch Curare und andere Stoffe, welche keine Destruc-
tion des Leberglykogens bewirken, Milchsäurevermehrung in der Leber bewirken.
Literatur: l ) G. Vogel, Ist die unverletzte Haut durchgängig für Arsenik? Arch.
internat. de Pharm. 1838, V, pag. 213. — *) Riedel, Tödtliche Arsenikvergiftung durch Ein¬
reibungen eines Curpfuschers. Vierteljabrschr. !. gerichtl. Med. 1838, XVII, Heft 1, pag. 43. —
3 ) A. M. Roberts, Arsenic as an external irritant. Lancet, 9. Sept. 1839, pag. 719. — 4 ) Lesser.
Ueber die Vertheilung einiger Gifte im menschlichen Körper. 1. Zur Lehre von der Arsenik¬
vergiftung. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1897, XIV, pag. 292. — 5 ) Gulkwitsch, Ein Fall
von Vergiftung mit Arsenwasserstoff. Zeitschr. f. physiol. Chem. 1898, XXIV, pag. 512. —
a ) W. Scholtz, Ueber den Nachweis des Arsens auf biologischem Wege in Hautschuppen,
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Arsenikvergiftung. — Arsenmelanose.
Haaren, Sehweisg and Urin. Berliner klin. Wochrnsehr. 1899, Nr. 42, paff. 913. — \> Abel.
Ueber den Nachweis von Arsen auf biologischem Wege. Münchener med. Wochenschr. Is93.
Nr. 20, pag. 682. — *) Sch ebb atsch eff. Ueber die Dauer der Ausscheidung deg Harns in
gerichtlich chemischer Beziehung. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1900. XIX. H. 2, pag. 233. —
•> Armand Gautier, Localisation, Elimination et l origine de l'arsenic chez les animaux. Compt.
rend. 19UÜ. CXXX. pag. 284. — 10 > Morishima . Ueber das Vorkommen von Milchsäure im
thierischen Organismus mit Berücksichtigung der Arsenikvergiftung. Arch. f. experimentelle
Pathol. 1899, XCLLI, pag. 217. Hustmann.
Arsenmelanose (vergl. Encyclopäd. Jahrb. V. pag. 12). Dass die
Arsenmelanose trotz einer ziemlich umfangreichen Literatur darüber doch eine
ziemlich seltene Affection ist. geht daraus hervor, dass auf der Schrmtter-
sehen medicinischen Klinik in Wien, wo Arsenmedication recht häufig in
Anwendung gebracht wird, im Laufe vieler Jahre nur fünf Fälle beobachtet
wurden. Die dortigen Beobachtungen scheinen dafür zu sprechen, dass Er¬
krankungen der Drüsen zu den prädisponirenden Momenten gehören. da
von den lünf Erkrankten einer an Lymphosarkom und einer an Leukämie
litt. Dass nicht blos das jugendliche Alter betroffen wird, erhellt daraus,
dass drei von den Erkrankten Männer im mittleren Lebensalter waren. Dass
man die Arsenmelanose bisher nicht bei Kindern unter 2 Jahren sah. ist
wohl mit Bestimmtheit auf die Seltenheit von Arsencuren bei Patienten in
diesem Lebensalter zurückzuführen.
Von diagnostischer Bedeutung ist jedenfalls die Thatsache. dass die
Färbung niemals die Schleimhäute betrifft, wodurch sich die Arsenmelanose
von der übrigens auch durch die Farbennuance differirenden Argyrie und
von der durch ihren ganzen Verlauf abweichenden Apluso.n sehen Krankheit
unterscheidet. Die gleichmässige Vertheilung auf der Haut (abgesehen von
einzelnen stärker gebräunten Partien, wohin z. B. die Kniebeugen gehören»
lässt sie von den in Form brauner Streifen und diffuser Verfärbungsflächen
an einze.len Stellen sich darstellenden Pigmentirungen nach Prurigo unter¬
scheiden. Sehr ähnlich der Arsenmelanose mit Freibleiben der Schleimhäute
ist das Chloasma cachecticorum. wo. wenn derartige Kranke Arsenikalien
erhielten, die Möglichkeit einer Verwechslung sehr nahe liegt, und die unter
dem Namen Vagabundencolorit oder Vagantenkrankheit zusammen¬
gefasste Combination von Chloasma caloricum und Pigmentirung e pediculosi
corporis, bei welcher gute Haut- und Körperpflege das Leiden beseitigt. Für
Melanose bei Malariakranken. Diabetes. Syphilis sind die Anamnese und die
begleitenden Erscheinungen der Grundkrankheit massgebend. l i
Dass es sich nicht wie bei der Argyrie um Metallablagerungen handelt,
beweisen auch die in Wien von Seiegler argestellten histologischen und
mikrochemischen Untersuchungen. Hiernach handelt es sich um ein auf meta¬
bolischem Wege entstandenes, nicht aus dem Blute hervorgegangenes Pig¬
ment. das sich in den untersten Basalzellen des Rete und in der Cutis findet.
Dass starke Pigmentirung der Haut nicht blos durch fortgesetzte Ein¬
führung med cinaier Dosen, sondern auch durch acute Vergiftung herbei¬
geführt werden kann, beweist ein von Facklam - berichteter Fall von Para¬
lysis arsenicalis. wo 14 Tage nach der Einführung einer 0.2—0.25 arseniger
Säure entsprechenden Menge »Mäusegift« die Haut auffallend trocken und
pigmentirt gefunden wurde.
Interessant ist auch das Vorkommen von Melanose als Theilerschei-
nung der sogenannten Reichensteiner Krankheit, die sich als Arsen i-
cismus chronicus durch arsenhaltiges Trinkwasser darstelit. Nach Geyer >
hat in der Gegend von Reichenstein an den Nordwestausläufern des Glazer
Gebirges infolge Verhüttung arsenhaltiger Golderze im Mittelalter, wobei
grosse Mengen arseniger Säure in die Luft gingen und zu Boden fielen,
massenhafte Arsenimprägnation des Erdbodens und der Erdwässer stattge¬
funden uni haben letztere die früher sehr verbreitete, jotzt durch Verbesserung
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Arsenmelanose. — Arsonvalisation
25
des Goldgewinnungsverfahrens und durch die Einrichtung einer guten Wasser¬
leitung mehr und mehr verschwindende Affection hervorgerufen, von welcher
sich gegenwärtig noch 50—60 Fälle in Reichenstein befinden. Das Leiden
beginnt bei den von auswärts Zuziehenden meist schon nach Ablauf der
ersten Woche mit Magen- und Darmstörungen, Stomatitis und Onychie,
doch schwinden diese Symptome nach einiger Zeit und an ihre Stelle treten
einerseits Nervenstörungen (Kopfschmerzen, Parästhesien, Tremor, Neuralgien),
andereits Melanose und Keratosen, von langer Dauer, manchmal bis zum
Tode nicht verschwindend. Die an den Seitentheilen des Halses beginnende
Melanose geht zuerst auf den Rumpf und zuletzt auf die Extremitäten über;
die Färbung der Haut ist anfangs hellbräunlich, später schwarzbraun bis
schiefergrau, mit eingestreuten hellen, pigmentfreien Flecken. Dass übrigens
das arsenhaltige Trinkwasser auch das Allgemeinbefinden stark schädigt,
scheinen der im allgemeinen frühzeitige Tod (vor dem 60. Jahre), die Häufig¬
keit von Rachitis, Wassersüchten, Neurosen u. s. w. zu beweisen.
Literatur: l ) Smetana, Braunfärbung der Haut beim Gebrauche von Arsenik. Wiener
klin. Wochenschr. 1897, Nr. 41. — # ) Facklam, Ein Fall von acuter Arseniklähmung. Arch.
f. Psychiatr. 1898, XXXI, Heft 1 u. 2. — 3 ) Geyer, Ueber die chronischen Hautveränderungen
beim Arsenicismus und Betrachtungen Uber die Massenerkrankungen in Reichenstein in
Schlesien. Arch. f. Dermat. 1899, XLI1I, XLIV. Husemann.
Arsonvalisation« Unter »Arsonvalisation« verstehen wir eine
erst der allerjüngsten Zeit angehörige Form elektrotherapeutischer Methodik
— die Benutzung hochgespannter Ströme von starker Wechselzahl
zu Heilzwecken, wie sie durch den französischen Physiologen d’Arsonval auf
Grund sorgfältiger physikalisch-physiologischer Voruntersuchungen zuerst ange¬
regt und durch Apostoli, Oudin, Doumer u. a. in der Praxis eingeführt wurde.
Ein genaueres Studium der interessanten und eigenartigen Erscheinungen, wie sie
Hochspannungsströme von starker Wechselzahl sowohl rach der physikalischen wie nach der
physiologischen Seite hin darbieten, war erst möglich geworden, seit die epochemachenden
Arbeiten des frühverstorbenen Bonner Physikers Heinrich Hertz dazu geführt hatten, auf
experimentellem Wege das zu bestätigen, was schon früher Faraday geahnt und Maxwell
mathematisch dargethan batte: nämlich die Elektricität als eine Erscheinung des den Raum
continuirlich erfüllenden Aethers, als in Wellenform fortschreitende Bewegung
des Aethers zu erweisen, die sich dem Lichte gleich nach allen Richtungen des Raumes
fortpflanzt and deren Ausbreitungsgeschwindigkeit (310 000 Km. in der Secunde) auch mit der
des Lichtes genau übereinstinnnt, so dass die Unterschiede zwischen den elektrischen Wellen
und den Lichtweilen lediglich in der viel grösseren — bis zu mehreren Metern anwach¬
senden — Länge der ersteren gesucht werden müssen.
Gehen wir bezüglich der Wirkungen und Anwendungen hochgespannter Ströme etwas
weiter zurück, so hatten Hittorf, Crookes u. a. zuerst die Leuchtkraft elektrischer
Strahlen im luftverdünnten Raum untersucht und sich dabei zur Hervorrufung der
Lichterscheinungen bereits hochgespannter Ströme von stärkerer Wechselzahl bedient, die
aber für den luftverdünnten Raum noch keine allzuhohc zu sein biauchte. Die Elektri-
citätsquelle bestand dabei in starken RuHMKORFF’schen und ähnlichen Inductoreu, die mit
Stromunterbrechungen von 1000—2000 in der Minute und mit Voltspannungen von 30 000
bis 50 000 arbeiteten. Zu einer weiteren erheblichen Steigerung darüber hinaus gelangte
man erst durch eine wesentliche Bereicherung und Vervollkommnung der Apparate; zunächst
durch die Zuhilfenahme von spannunganhäufenden Vorrichtungen (Condensatoren oder Leidner
Flaschen) — sodann hauptsächlich durch die ebenfalls an Hertz anknüpfende Venver-
thung einer eigenthümlichen Eigenschaft des elektrischen Funkens. Wie nämlich Fbd-
dersek und Hklmholtz zuerst gezeigt hatten, ist bei einer gewissen Ladung der Con
densatoren der überspringende Entladnngsfunke nicht einfach, sondern aus einer unge¬
heueren Anzahl partieller Entladungen (Oscillationen oder Vibrationen) zusammengesetzt die
als solche wegen der Trägheit unseres Sehorgans nicht zur Wahrnehmung kommen und
deren Dauer nur ungefähr den millionsten Theil einer Secunde in Anspruch zu nehmen
braucht. Zur Eizeugung solcher elektrischer Schwingungen verwandte Hertz seinen mit
einer Stromquelle (Batterie) und der primären Spirale eines Inductors verbundenen Oscil-
lator, der aus zwei an Metalldrähten in einem regulirbaren Abstand von einander befind¬
lichen Zinkkugeln besteht, wie wir sie in der »regulirbaren Fuakenst recke« unseres
Armamentars (vergl. unten) benutzt finden, und er vermochte mit dessen Hilfe elektrische
Wellen zu erzeugen, die sich nach allen Richtungen des Raumes ausbreiten und sich
durch eine besondere Vorrichtung, den elektrischen Resonator, als solche nachweisen
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Arsonvalisation
1>G
lsiMsen. — Au! dieser Grundlage, unter Zuhilfenahme der genannten, in entsprechenderWeise
modificirten Vorrichtungen haben dann besonders Tksla und d'Arsonval weiter gearbeitet;
ihre Errungenschaften (ebenso wie die neuerdings zu so grosser Bedeutung gelangte Mar-
coNi’sehe Wellentelegraphie) sind in diesem Sinne unzweifelhaft als Früchte des von Hertz
erschlossenen neuen und weiten Forschungsgebietes zu betrachten.
Der Österreichische Ingenieur Nicolaus Tesla (1857 zu Smiljan in Croatien geboren,
seit vielen Jahren in Amerika ansässig) ging bei seinen Untersuchungen von den über¬
raschenden Lichterscheinungen aus, die durch die Kathodenstrahlen bekanntlich im luftver¬
dünnten Raum hervorgebracht werden. Es handelte sich für ihn zunächst um das Problem,
durch eine Verbesserung und Verstärkung der Apparate diese im luftverdünnten Raum her¬
vortretenden Lichterscheinungen auch für den gewöhnlichen, lufterfüllten Raum zur Geltung
zu bringen. Zu diesem Zwecke arbeitete Tesla mit besonders starken, oft meterlange Funken
liefernden lnductoren; er benutzte ausserdem den Kunstgriff, die vom ersten Inductor ge¬
lieferten, durch Condensator und Oscillator verstärkten und vervielfachten Impulse in die
Primärrolle eines zweiten Inductors (Transformators) hineinzuschicken, um in
dessen secundärer Spirale abermals Ströme von nunmehr ganz ausserordentlich erhöhter
* Spannung — »Millionenvoltströme« — zu induciren. Wir finden dieses Priucip in unserem
Armamentarium in der Form des kleinen Solenoids des Transformators, wie auch des
sogenannten grossen Solenoids verwerthet. Schon Tesla hatte dabei die überraschende Er¬
fahrung gemacht, dass diese »Millionenvoltelektrieität« für den menschlichen Körper absolut
unschädlich zu sein schien , so dass es besonderer Isolirvorrichtungen — von den strom-
erzeugenden Vorrichtungen abgesehen, für die Tesla eine Oelisolirung verwandte — beim
Hantiren damit Überhaupt nicht bedurfte. Er hatte die Ursache dieses eigenthümlichen Ver¬
haltens in einer Art von Selbstladung oder Selbstin du etion des Körpers zu finden
geglaubt, die als Schutzmittel gegen das Eindringen hochgespannter Ströme sich wirk¬
sam erweise. Brachte Tksla sich in Berührung mit den Polen seines Transformators, so
wurde er selbst gewissermasseu zum Pol; die sonst an Metallpolen beobachteten oder von
diesen ausstrahlenden Lichterscheinungen zeigten sich an seinem eigeueu Körper; jede von
ihm in die lland genommene Yaeuumlampe begann zu leuchten, währeud der Körper
selbst, bis auf ein leichtes Wärmegcfühl, von diesen Einfliisseu gänzlich unberührt blieb.
Don weiteren Entdeckungen Tksla s auf dem Gebiete der Linhterzeugung durch Elektrieität
und ihrer technischen Verwerthung können wir hier, so interessant sie auch sind, natürlich
nicht nachgehen. Doch zeigt das Angeführte wohl schon zur Genüge, dass Tesla, wenn ihm
auch jede ärztlich therapeutische Verwerthung seiner Ergebnisse ursprünglich fernlag. doch
auf diese Dinge eim n mächtigen Einfluss geübt hat und sein Name damit in hervorragender
Weise für immer verknüpft bleibt.
Von ganz anderer Seite her und mit anderen leitenden Gesichtspunkten trat der
Physiolog d'Arsonval. unabhängig von Tksla, an das Studium dieser Fragen. d'Arsonval
hatte — wie er selbst u. a. in einer Mittheilung an die Soeiete des eleetrieiens vom April
ISO? ausführt — sich seit 1878 mit dem Mochauismus der elektrischen Nerven- und Muskel¬
erregung beschäftigt und ursprünglich die Factoren bei der Einzelerregung. die dafür cha
rakteristische Form der Erregungswelle studirt — dann den Einfluss immer häufiger auf
einander folgender Erlegungen iu der Zeiteinheit experimentell verfolgt. Ein von ihm zu
diesem Zwecke benutzter 081*2 beschriebener) mechanischer »Alternator« gab bereits
bis zu llHW 8troiuw echsel in der Seeunde. Dabei stellte sieh nun heraus, dass von einer
gewissen Häufung der Unterbrechungen ab die Wirkungen auf den thierischen Organismus,
speciell auf das Nervensystem, keine entsprechende 8teigerung, sondern im Gegentheil eine
Abnahme erfuhren und allmählich sogar gänzlich versagten. Den Grund dieser überraschenden
Erscheinung suchte p Arsonval darin, dass die menschlichen Bewegungs- und Gefübisnerven
gewissermasseu auf bestimmte 8ehw ingurgszahlen elektriseher Erregungen eingestellt ?eien.
durch diese in speeihsoher Weise getrofien würden — ährlieh wie es für Gesichts- und
Gehörnerven in Bezug auf Licht nnd Schallwellen von bestimmter Wellenlänge und Schwin-
gungszahl ausschliesslich der Fall ist. Zu bedeutend höheren Frequenzen gelangte d'Arsonval.
als er seinem mechanischen Alternator den oben« rw ahnten HERTz'schen Oscillator sr.bsrituirte
und auch sonst mannigfache Veränderungen und Verbesserungen der Versuchsanorinung and
des dazu dienenden lnstrumentenapparates voruahm. iu deren Verlaufe er allmählich za dem
jetzt gebräuchlich gewordenen Armamentarium gelangte. Uebrigens beansprucht d'Arsonval
auch zeitlich eine Priorität F ksla gegenüber, da er seine ersten Beobachtungen in der .Soeiete
de biol.'gie am 24. F ebruar and 2,V April l> v Ul vortrug, wahrend die erste Pabilcatioa Tesla 's
iu New \o:k vom 28 Mai 1>'J1 stammt. Wir haben al^o ausreichenden Grund, für die durch
dAksonvai 's Vcrdieust auf Grundlage seiuer Versuche und des von ihm acsgrbil itten Anna
mcuMrs gt 'chaffcuen therapeutischea Verwer.dimgen dieser hoch gr spinnten Strome von star ker
echse’.zahl die B : . :c buuv.g * A rso n v a l*. »a t ion« als zutreffend u:id d-:i anderweitigen
elektrvthcrapcuttsch- u Nau;erg- bürgen entsprechend zu acceptireu.
£ k:-:s Anr.a
Pas von tu : .r benutz t e Armamentarium für die Anwendung
hochgespannter Wechselströme Verfertiger W A. Hirschmann in
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A rso nval isa t ion.
Berlin) besteht aus zwei von einander getrennten Hauptstücken: dem
Apparatensehrank mit seinen Nebenvorrichtungen und dem sogenannten
»grossen Solenoid« in der Form eines aufrecht stehenden Käfigs.
L Der Apparatensehrank (Fig. 1). Er enthält zunächst a) in
seinem obersten Theile den Re hmkobff sehen Funkeninductor nebst den
(im Innern des Kastens untergebrachten, nicht sichtbaren) Condensatore»
Die dazu gehörige Stromquelle (Accumulatorbatterie von 20 Zelle»)
befindet sich im untersten Theile des Schrankes und ist durch Leitung mit
dem Inductor sowie mit den gleich zu erwähnenden Nebenapparaten ver¬
bunden. Der Inductor liefert Funken bis zu 35 Cm. Länge, die bei voller
Ausnutzung Voltspannungen von 50.000 Volt und darüber entsprechen
h) Zum Betriebe des Funkeninductors dient ein Q u ecksüb eru nt erb recher
von neuer und originaler Construction (Hirschmann s *rotirf?uder Queck¬
silberunterbrecher mit Gleitcontacten*)* der durch einen kleinen
Elektromotor in Thatigkeit gesetzt wird. Kr besteht im wesentlichen aus
einem rotirenden Cylinder mit zwei Kupfercontacten. von denen der eine
rotirt, während der andere, feststehende durch eine Feder gegen den ro-
W A HiftjÜMkHK omili H
28
Arsonvalisatioo.
tirenden Contact angepresst wird. Um den Kupfercontact gleichmässig zu
gestalten und die Reibung bei der Rotation aufzuheben, wird Quecksilber
benutzt, das sich am Boden des Qefässes befindet. Dieses wird durch eine
besondere Vorrichtung centrifugenartig gehoben und an die Stelle des glei¬
tenden Contacts hingeführt, so dass beide Contacte stets mit einer die
innige Berührung ermöglichenden Quecksilberschicht überzogen werden. Der
Unterbrecher arbeitet daher sehr gleichmässig, wie sich schon an der Art des
die Unterbrechungen begleitenden Geräusches erkennen lässt. Bei jeder vollen
Umdrehung wird der Strom auf diese Weise durch die Contacte zweimal
geschlossen und geöffnet. Die damit erreichbare Zahl der Unterbrechungen
beträgt 1600 in der Minute. Da nun, wie bereits erwähnt wurde, jeder ein¬
zelnen Funkenunterbrechung des Inductors zehntausende der wellenförmigen
Oscillationen oder Vibrationen entsprechen, so ist klar, dass wir auf diese
Weise leicht zu mehreren hunderttausenden von Unterbrechungen in der
Secunde gelangen. Dieser Quecksilberunterbrecher ist übrigens auch für
Röntgeneinrichtungen in gleicher Weise benutzbar. Platinunterbrecher, wie
sie für die gewöhnlichen medicinischen Inductionsapparate genügen, sind
zur Herstellung eines andauernden und regelmässigen Ganges der Unter¬
suchungen bei den grösseren Funkeninductoren nicht geeignet, c) Die pri¬
märe Leitung verläuft durch einen Strom sch alter, der den Inductor und
den Quecksilberunterbrecher ein- und ausschaltet, zum dj Stromwender,
e) Metallrheostat (der mittels Kurbeldrehung Widerstände von circa
10 Ohm einschaltet) und f) Amperemeter, das die Stärke des primären
Stromes in Amperes (bis zu 5 Amperes) durch Nadelablenkung direct anzeigt —
Die unter c bis f beschriebenen Nebenvorrichtungen befinden sich dicht bei
einander im mittleren, geöffnet sichtbaren Theile des Apparatenschrankes. Im
unteren Theile desselben haben wir ausser den Batterien und dem Quecksilber¬
unterbrecher noch g) zwei Leidner Flaschen von zusammen ca. 2400 Qcm.
Belegfläche, die zur Aufnahme der Spannungen, die von der secundären
Spirale des Funkeninductors dem Transformator zugeleitet werden, bestimmt
sind, h) Im mittleren Schranktheile, links von den unter c bis f beschrie¬
benen Vorrichtungen, finden wir in der Mitte nach vorn die regulirbare
Funkenstrecke (dem HERTZschen Oscillator nachgebildet), die aus zwei
gegenüberliegenden kleinen Zinkkugeln besteht, deren Abstand von einander
sich durch eine Schraubenvorrichtung bis zum Maximum von 2 Cm. beliebig
verändern und an einer Scala ablesen lässt. In der Regel kommen nur
Funkenstrecken von etwa 5—10 Mm. zur Verwendung, i) Dahinter befindet
sich das sogenannte kleine Solenoid oder der Transformator. Er ent¬
spricht einem Inductor mit zwei Spiralen, hat aber äusserlich die Gestalt
eines Solenoids, indem seine äussere Rolle nur aus acht dicken von ein¬
ander isolirten Windungen blanken Kupferdrahtes besteht, die horizontal
nebeneinander gewickelt sind und durch Leitungen mit der secundären
Spirale des Funkeninductors sowie mit Funkenstrecke und Leidner Flasche
im Zusammenhang stehen. Diese primären Solenoidwindungen umschliessen
eine zweite (innere) Spirale, die aus 400 Windungen eines nur 0,5 Mm. dicken
Kupferdrahtes besteht und die im wesentlichen der gewöhnlichen secundären
Rolle unserer Inductionsapparate analog ist. — Da es nicht immer zweck¬
mässig ist, die sämmtlichen primären Solenoidwindungen zu benutzen und
also mit voller Hochspannung der secundären Spirale zu arbeiten, so hat
Hirschmann an dem Apparat noch eine besondere Regulirvorrichtung an¬
gebracht, einen beweglichen Contact, in Gestalt einer Metallfeder, der,
durch Umdrehung in Bewegung gesetzt, auf den einzelnen Windungen hin¬
schleift und bei der Umdrehung von rechts nach links diese der Reihe nach
aus-, bei entgegengesetzter Drehung dagegen successiv einschaltet. Diese
Vorrichtung erfüllt also denselben Zweck wie die Rollenverschiebung bei
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Arsonvalisation.
29
unseren gewöhnlichen Inductionsapparaten; wie an diesen durch Heraus¬
ziehen der secundären Spirale nur ein kleinerer Tbeil der primären Win¬
dungen mit den secundären zur Deckung gelangt und somit eine Abschwä¬
chung der Stromstärke im secundären Stromkreise bewirkt wird, so wird
hier bei Verminderung der eingeschalteten Primärwindungen weniger Span¬
nung auf die secundären Windungen des Transformators und somit auf den
im Kreise des letzteren eingeschalteten Körper übertragen. — Durch ent¬
sprechende Benutzung der reguhrbaren Funkenstrecke, des Rheostaten und
endlich des beweglichen Contactes lässt sich jede für besondere Zwecke er¬
wünschte Veränderung der primären Stromstärke und der secundären Span¬
nungen für die Körperableitung in ausgiebigster Weise erzielen. — Endlich
haben wir kJ die AbleitungsVorrichtungen für den Körper, in der Form
von Leitungsschnüren, Handgriffen verschiedener Art und zur localen An¬
wendung bestimmten Elektroden. Die letzteren sind insgesammt mit einem
starken und hinreichend langen isolirenden Handgriff versehen, wie wir ihn
von der Benutzung bei der Franklinisation bereits kennen; sie sind spitzen¬
förmig, röhrenförmig, knöpf- und kolben- oder flächenförmig in verschiedenen
Grössenverhältnissen gestaltet. Ein Tlieil davon ist mit besonderen Conden-
satorvorrichtungen versehen (»Condensatorelektroden«), auf die
weiter unten noch zurückzukommen sein wird.
Der Gang der primären Stromleitung und der darin er¬
zeugten secundären Hochspannungen ist also, schematisch zusammen¬
gefasst, folgender:
1. Die primäre Leitung verläuft von den Stromquellen (Accumu-
latoren oder centrale Gleichstromleitung) durch Rheostat, Stromschalter,
Amp&remeter, Stromwender zur primären Rolle des Funkeninductors und
durch diese hindurch zu den zugehörigen Condensatoren, sowie zum Queck¬
silberunterbrecher und zur Stromquelle zurück.
2. Die secundäre Spannung entsteht in der secundären Rolle des
Funkeninductors, geht von hier zu den inneren und äusseren Belegen der
Leidner Flaschen, zur regulirbaren Funkenstrecke, zu den Primärwin¬
dungen des kleinen Solenoids und zur secundären Spirale des Funken¬
inductors zurück.
3. Die tertiäre Spannung entsteht in den secundären Windungen
des Transformators, geht von hier durch die Leitungsschnüre und Elek¬
troden zum Körper und direct (oder mittels Erdableitung des anderen Pol¬
endes) zur secundären Spirale des Transformators zurück.
Ausserdem kann der Körper auch parallel zur primären Spirale des
Transformators, also in Verbindung mit den Polenden derselben, als »Extra¬
strom« eingeschaltet werden; vergl. »Methodologisches« unter 3.
Das zweite Hauptstück des Armamentars, das sogenannte »grosse
Solenoid« (Fig. 2), ist eine Erfindung von d’Arsonval. Die von der secun¬
dären Spirale des Funkeninductors gelieferten hohen Spannungen werden
statt zur primären Spirale des Transformators nach diesem Apparate ge¬
leitet, der aus einer Anzahl (14—18) an einem Holzgestelle befestigter,
vertical übereinander in grossen Abständen isolirt hingeführter Windun¬
gen eines dicken Metalldrahtes besteht — also im Grunde nur die auf
einen grösseren Massstab übertragene primäre Spirale des Transformators
reproducirt. Diese Windungen umschliessen einen Innenraum, der gross genug
ist, dass ein Mensch darin bequem aufrecht stehen kann, ohne die Draht¬
windungen selbst irgendwo zu berühren; der Eintritt wird dadurch ermög¬
licht, dass man die Drahtwindungen gleich einer Rolljalousie in die Höhe
rollt und nachher wieder herablässt. Ist nun dieses grosse Solenoid durch
Leitung mit der secundären Spirale des Funkeninductors verbunden, so
werden sehr beträchtliche Inductionswirkungen erzielt, und es wird der darin
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30 Arsunvajisatiun.
eingeschlossene Körper rermügo 4«f; von den Windungen ausstrahlenden
«lekIrisehen Wellen durch ..ein»* Art. Von Selbstinduktion oder »Auto-
cond uciiön« i parlt den» Ausdruck •• von p Arso.vval) elektrisch geladen.
Mau kann die Wirkung steigern oder auch schwächen, je nachdem man die
öesanimüieit der Soleqdirfw.indupge-'n
oder nureinen TheLi derselben mit dem
Funköninductor leitend verbindet. :
Met b od01 ogi sc h ?d. För die pby-
sipkteriischc nnd therapeutische Anwen¬
dung der
beim Manschen koinmöo nach der iro'r-
steljenden fidswhrelbflhg vier Hatiply
»neüiutien in Betracht, von denen die
drei erktbp der- Haupt,*»«ehe narb als
Methode» Idealer -- die vierte als
Mbt böife a ffge bu ein er A r s o n v a i isa.-
Tlon. iln‘gb&ehi»Ä. worden können
1 birevtöAhleitung von den
sec ub darba Windünge« des Trans-
forniatnrs. Es werden die in der
socurtdür-en Bolle dos Tränst»»rmators
irmnCtrlcrf tteebspasnungsströme direct
auf den Körper iihei'g’elührt, und zwar
jd doch Beschaff enhelt und Ansatz weise
der Kibktruden oat-wedee- als bOsehei-
fornügi« AosUtrÄhlung -- bet aii.«-
reicbuadßöi Abstatide der KJRkfcrptfoh
von der KürperoberüftGlto oder als
Fiiitkdfteasttladung .bei nur greriflger
Emtferuung der local applicircen Elektrode. Der zweite Pol kann dabei ent¬
weder zur Erde abgeleitet oder auch mit dem Körper (durch ein? Hand-
'öder''Fwksdiek'.» orte) lebend verbdiideo- werden; erhebliche Verschiedenheiten
dhp Wfrkilßg werden durch die An der Verwendung des zweiten Polos
nicht hen •if irc-rulötl
. ■: St Iddikecte Ableitung. mit Einschaltung von Condonsiitor-
ejektrode«. Auch dabei wird dio Spannn.ug der ^e.cdmiären Windungen
des Trmisfonjtators verwertbek aber dicht direct zürn Körper gelahrt, son¬
dern vorher in einer »Doodensatörelekt rode; gesammelt. Eine solche
öuÖid Mit einer i^oÜrßtVdoß üiissere« Qlasfiäcbe (nlit Graphit- oder Lack-
üherxtisrV, die auf den Körper aufgesetzt wird, wÄbfehd die Innere Fläche
einen; bdlfndow l’eberziiir (Sfonniolbetag) trägt und durch eine dop Strom
emplhn’gerid» metallische Zuleitung geladen Wird. !>er Körper bildet somit
beim AuWtzen der Elektrode gewisserwassferv die httssere>: Belegung des
Candensators. Dis im Innern der Elektrode sich aosammelnde .hohe; Span¬
nung- erzeugt durch inliöenz auf der äusseren, dem Körper unmittelbar an¬
liegenden Fläche.- ebenfalls eine entsprechende Spannung, die bei festem
Aufsetzeij der Etektrodö t>ipe leicht«, sich über die getrwlfewe Oberfläche
verbreitende Funkenbildung verursacht und »ich bei wachsender Entfernung
des Gbndefisators von der Körperohernscht; Zu längeren büschelförmigen
Fupkencntladtmgon .steigert. Dies« »-Coniioflsatorefekiroden^ können ganz
den sonst, üblichen Elektroilenfnriuen «ngepassl. also knopfförojig. röhren¬
förmig und kolben- oder fläcbenföriniff bergcstellt werden. f.-ebrieens bat
u ÄRifovt 'vl sogar ein . >Ift'-cwaden:sateur•- beschrieben'.nach ähnlichem
Princip. indem dabei der auf einem Ruhebett äüsgestreckt.e. durch ein
Kissen isolirte menschliche Körper diu eine Heiegung des ( ‘ondensators
Arsonvalisation.
31
bildet, während die andere durch eine Metallbelegung an der Innenseite des
Kissens hergestellt wird. Die Berechtigung, den lebenden Körper als eine
Art von Condensator auizufassen, dürfte allerdings nach den Untersuchungen
von de Metz in Zweifel gezogen werden. Die Frage ist einstweilen noch
nicht sicher zu entscheiden. Ich selbst konnte die bezüglichen d'Arson-
VAL'schen Versuche am grossen Solenoid nicht durchwegs bestätigen.
3. Parallele Schaltung zu den primären Windungen des
Transformators, nach Analogie des »Extrastroms« der primären Spirale
unserer gewöhnlichen Inductionsapparate. Wie bei diesen die Enden der
primären Drahtrolle einerseits zur Unterbrechungsvorrichtung, andererseits
zum Körper geführt werden — so findet bei den Primärwindungen des
Transformators eine solche Parallelschaltung statt, wobei von den vor den
Solenoidwindungen befindlichen Polenden die Körperableitung in verschie¬
dener Weise vorgenommen werden kann. Es kann nämlich entweder nur
eine unipolare Ableitung zum Körper hergestellt werden, wobei das andere
Ende der Windungen zur Erde geführt wird oder isolirt bleibt — oder es
kann auch das zweite Ende zum Körper (z. B. mittels einer isolirenden
Fussplatte) bingeführt werden. Zur längeren Application auf den Körper
bedient man sich der früher beschriebenen Elektroden, wobei je nach der
Höhe der Spannungen und der Zahl der eingeschalteten Primärwindungen
des Solenoids (unter Benutzung des oben erwähnten beweglichen Contactes)
Büschel- und Funkenentladungen von sehr verschiedener Intensität aus¬
gelöst werden.
4. Selbstinduction (Autoconduction) des Körpers: »allge¬
meine Arsonvalisation«. Der Körper ist hierbei nicht in directer leitender
Verbindung mit einem der Theile des Apparates, sondern er wird von den
durch die Luft fortgepflanzten Energiewellen getroffen, die von den Win¬
dungen des vorbeschriebenen »grossen Solenoids« oder von ähnlich be¬
schaffenen Vorrichtungen ausstrahlen; er vertritt also gewissermassen die
Stelle der secundären Windungen des Transformators und wird auf
dem Wege der Selbstinduction (»Autoconduction«, wie d'Arsonval sich
ausdrückt) von den in den Primärwindungen kreisenden hochgespannten
Wechselströmen beeinflusst. Wie und in welcher Richtung sich diese Ein¬
flüsse nach der physiologischen und therapeutischen Seite hin geltend zu
machen scheinen, werde ich sogleich noch näher ausführen. Hier sei der
Vollständigkeit halber bemerkt, dass an Stelle des grossen, aufrecht
stehenden Solenoids auch eine andere, horizontal gestaltete Vorrich¬
tung benutzt werden kann, worin die Versuchsperson sich in liegender
Steilung befindet; auch können zu besonderen Zwecken kleinere Vorrich¬
tungen für locale Behandlung einzelner Körpertheile, z. B. Arm und Fuss,
hergestellt werden. Bei Verwendung dieser letzteren wäre streng genommen
schon nicht mehr von einer »allgemeinen«, sondern nur noch von einer
»localen« Arsonvalisation die Rede, die aber auch auf dem Wege der
Selbstinduction oder Autoconduction stattfindet. Principiell verschieden davon
ist es natürlich, wenn das »grosse Solenoid«, in gleicher Weise wie das
kleine des Transformators, zum Zwecke directer metallischer Uebertragung
auf den Körper, mit Hilfe der früher beschriebenen einfachen oder Conden-
satorelektroden, Anwendung findet, was dem Wesen nach völlig mit dem
Verfahren der parallelen Schaltung (3) übereinstimmt.
Physiologisches und Therapeutisches. Wie aus diesen me¬
thodologischen Vorbemerkungen hervorgeht, muss man hinsichtlich der
physiologischen und therapeutischen Verwendung der hochgespannten Wechsel¬
ströme unterscheiden zwischen den Wirkungen, die sich bei der localen
Application dieser Ströme heraussteilen, und denen, die bei der Anwendung
in der Form der »Selbstinduction«, oder »Autoconduction«, der »all-
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32
Arsonvalisatiou.
gemeinen Arsonvalisation« zutage treten. Diese letzteren Wirkungen,
die sich in ganz eigenartigen Beeinflussungen des Organismus in Hinsicht
auf Blutdruck, Oxydations- und Stoffwechselvorgängen, in tiefgreifender An¬
regung der Zellenenergie u. s. w. geltend machen sollen, sind es vor allem,
die uns d'Arsonval zuerst in seinen Untersuchungen zur Kenntniss gebracht
hat und die für ihn und seine Schüler und Nachfolger den Ausgangspunkt
der therapeutischen Bestrebungen und die Grundlage weitgehender Indi-
cationsstellungen auf diesem Gebiete gebildet haben. Während es sich nun
dabei dem Wesen nach um etwas ganz Neues und Eigenartiges, von den
bisherigen elektro-therapeutischen Verfahren durchaus Verschiedenes handelt,
ist dies dagegen hinsichtlich der localen Wirkungen hochgespannter Wechsel¬
ströme keineswegs in gleichem Masse der Fall. Hier bieten vielmehr die
wohlbekannten Wirkungen faradischer und Franklinischer Ströme manche
Vergleichspunkte dar, und man kann das Verhältnis vielleicht mit einer
gewissen Berechtigung so charakterisiren, dass bei aller unverkennbaren
Specificität doch die Wirkungen der ungeheuer hochgespannten Wechsel
ströme sich als eine Potenzirung der Wirkungen hochgespannter Ströme
unserer Influenzmaschinen — sowie diese wiederum sich als Potenzirung der
Wirkungen unserer gewöhnlichen Inductionsströme in mancher Beziehung
kundgeben.
Es ist also in solcher Allgemeinheit des Ausdrucks keineswegs zutreffend,
wenn von diesen ungeheuer hochgespannten Wechselströmen gesagt wird,
dass für sie gerade die anscheinende Wirkungslosigkeit auf den thierisch-
menschlichen Organismus, die Wirkungslosigkeit auf das Nervensystem
vor allem das Kennzeichnende sei, wodurch sie sich von den minder hoch¬
gespannten Strömen mit geringerer Frequenz so auffällig unterscheiden.
Dagegen bleibt allerdings bestehen, dass die Einwirkung auf die motorischen
und sensiblen Nerven verhältnissmässig schwach ist und überhaupt nur bei
bestimmten Methoden der localen Anwendung, und auch dann zum Theil in
untergeordneter Weise hervortritt. Ganz besonders gilt dies von der erre¬
genden (tetanisirenden) Einwirkung auf die motorischen Nerven und Muskeln.
Während bereits verhältnissmässig schwache Inductionsströme sowohl bei
indirecter wie bei directer Reizung den Muskel in Tetanus versetzen,
während auch Frankiinische Ströme, sei es bei directer (heller) Funken¬
entladung, sei es bei Einschaltung des Körpers zwischen den äusseren Be¬
legen der Condensatorplatten ziemlich leicht Tetanus hervorrufen, gelingt
dies dagegen mit den hochgespannten Wechselströmen viel schwieriger und
nur bei Anwendung ganz bestimmter Manipulationen. Man muss dazu das
unter Methodik 3 und 4 besprochene Verfahren der parallelen Schaltung
— unipolare Ableitung von den primären Windungen des Transformators
oder des grossen Solenoids — verwerthen. und den einen Pol in Form einer ein¬
fachen Röhren- oder Knopfelektrode oder einer Condensatorelektrode auf einen
Nervenstamm, z. B. auf den Nervus ulnaris über dem Handgelenk localisiren,
während der andere Pol zum Erdboden abgeleitet ist. Man sieht dabei Tetanus
in den vom Ulnaris versorgten Handmuskeln eintreten: gleichzeitig ist auch ein
excentrisches Gefühl in der Hautausbreitung des Ulnaris an den beiden letzten
Fingern vorhanden. Die Wirkung wird ersichtlich stärker, wenn die vom
Körper berührte Stelle des Erdbodens angefeuchtet ist; sie verschwindet
dagegen, wenn man den Körper (durch Auftreten auf eine Hartgummiplatte)
isolirt. Umgekehrt kann man sie verstärken, wenn man das zweite Polende
zu einer Fusselektrode \ metallischen Fussplatte) hinführt und mit dem
Körper direct verbindet — ganz wie es bei den entsprechenden Methoden
der Franklinisation der Fall ist.
Mittels der gleichen Verfahren lassen sich nun auch die Einwirkungen
auf die sensiblen Hautnerven nachweisen. Noch deutlicher jedoch und in
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Arsonvalisation.
o • >
oo
gewissermassen specifischer Weise treten diese hervor, wenn man die Elek¬
trode auf die zu prüfende Hautstelle nicht direct aufsetzt, sondern sie dieser
bis auf einen geringen Abstand nähert, so dass je nach der Beschaffenheit
der Elektrode und der Länge der interponirten Luftstrecke Büschel- oder
Funkenentladungen auf die Haut übergehen. Man bedient sich dazu am
besten einer einfachen oder mehrfachen Spitzenelektrode, wie sie auch bei
der Franklinisation im Gebrauch ist oder einer grösseren kolbenförmigen
(flächenförmigen) Elektrode, je nach dem Umfange der zu reizenden Haut¬
partie; um grössere Büschelentladungen zu erhalten, kann eine Condensator-
elektrode benutzt werden, oder es wird, nach dem OuoiNschen Verfahren,
ein zweites Solenoid (»Resonator«) von einer den Primärwindungen des
Transformators angepassten Länge und Capacität eingeschaltet. Die ört¬
lichen Wirkungen sind ziemlich ausgesprochen; die getroffene Hautstelle
wird erst durch die übertretenden Büschel- oder kleinen Funkenentladungen
in mehr oder minder heftiger Weise schmerzhaft erregt und geröthet, wo¬
bei sich insbesondere ein eigenartig intensives Wärmegefühl einstellt,
das sich unter Umständen bis zur Unerträglichkeit steigert. Bei Entfernung
der Reizelektrode macht dieser Zustand einem Gefühl der Starre und
Abgestorbenheit platz; die Haut wird blass, anämisch, und die mit den
gebräuchlichen Methoden vorgenommene Sensibilitätsprüfung lässt eine (je
nach Dauer und Intensität der Reizwirkung mehr oder minder bedeutende)
Abnahme des Hautgefühls für Berührung und Schmerz, sowie
insbesondere für Temperatureindrücke in Form von Kältereizen
noch für längere Zeit deutlich erkennen. Besonders auffällig ist diese
eigenthümliche Dissociation des Temperatursinnes, die sich darin kundgiebt,
dass, während die subjective Wärmeempfindung enorm erhöht ist, das Gefühl
für Kältereize bedeutend herabgesetzt und sogar vorübergehend fast völlig
erloschen zu sein scheint; ein Phänomen, das ja allerdings in der specifi-
schen Energie der an räumlich getrennte Hautendigungen (Wärme- und
Kältepunkte) gebundenen Temperaturnerven seine Erklärung findet und
auch mit mannigfachen pathologischen Beobachtungen übereinstimmt. Man
kann die Herabsetzung des Berührungs- und Schmerzgefühls, sowie der
specifischen Kälteempfindung oft selbst 10—15 Minuten nach vollendeter
Reizung noch deutlich nachweisen.
Der relativ geringen Wirksamkeit oder scheinbaren Unwirksamkeit
hochgespannter Wechselströme auf die willkürlich motorischen und die sen¬
siblen Nerven wurde von n Arsonval auf Grund seiner an Thieren und Men¬
schen angestellten Versuche eine sehr ausgesprochene und bedeutende Ein¬
wirkung auf das vasomotorische Nervensystem gegenübergestellt. Diese
Einwirkung, die gleich den noch zu erörternden Stoffwechselwirkungen
u. 8. w. allerdings vorzugsweise bei der allgemeinen Arsonvalisation (Auto-
conduction) hervortritt, soll sich in einer auf anfängliche Erniedrigung
folgenden erheblichen und andauernden Steigerung des arteriellen
Blutdrucks, in Veränderungen des Gefässlumens, des Blutumlaufs u. s. w.
bekunden. Die Gefässe des Kaninchenohres sollen sich, ganz wie nach
Sympathicusdurchschneidung, in rapider Weise erweitern, worauf später
eine energische Verengerung folgt. In Betreff der Blutdruckmessungen
äussert sich d'Arsonval folgendermassen: »Le sphygmographe de Marey,
le sphygmomanom&tre de Potain appliques sur l'homme, donnent des indi-
cations identiques. On voit la pression sanguine sabaisser dabord,
puis, peu apres, se relever et se maintenir ä ce taux ölevö; en
faisant une legöre incision ä l'extrömite de la patte d un lapin, on voit le
sang couler beaucoup plus abondamment apres le passage du courant.
Le manom&tre ä mercure, mis en rapport direct avec une artere chez les
animaux, donne les memes indications.« Die Blutdrucksteigerung soll nach
Encyclop. Jahrbücher. IX.
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Arsonvalisation.
;;4
d'Arsonval sogar mehrere Centimeter Quecksilber betragen. Es durfte
angezeigt sein, diese Ergebnisse zunächst mit dem neuen, GÄRTNER'schen
Tonometer am Menschen nachzuprüfen. — Von noch viel grösserer Wichtig¬
keit und Bedeutung für die therapeutische Verwerthung der hochgespannten
Wechselströme sind die von d'Arsonval beobachteten Einwirkungen auf
den Stoffwechsel und die angeblich durch eine directe Anregung der Zell-
thätigkeit, eine Beeinflussung des Zellprotoplasmas erzielten »vitalen«
Wirkungen. Den Beweis für die letzteren will d'Arsonval besonders an
einzelligen Organismen, an Bierhefezellen und verschiedenen Bacillenarten
erbracht haben. Unter anderem hat d'Arsonval mit seinem Assistenten
Charrin die Einwirkung der hochgespannten Wechselströme auf einzelne
pathogene Bacillen, namentlich auf den Bacillus pyocyaneus, näher unter¬
sucht; er will dabei gefunden haben, dass nach einigen Minuten die
chromogene Function erlischt, nach einer halben Stunde der Bacillus
abgetödtet wird. Aber auch die pathogenen Stoffwechselproducte, die
Toxine sollen in ihrer Virulenz wesentlich beeinflusst und abgeschwächt,
sie sollen sogar in immunisirende Substanzen umgewandelt werden und
so die Resistenz der Thiere bei Injectionen erhöhen, was d'Arsonval und
Charrin durch Versuche mit umgewandelten Diphtheritistoxinen bei Meer¬
schweinchen unter gleichzeitiger Inoculation tödtlicher Dosen von wirksamen
Diphtheritisculturen, ebenso wie durch Vergleichsversuche mit Pyocyaneus-
toxin zu erweisen versuchen. Auch diese Versuche bedürfen natürlich weiterer
Nachprüfung und Bestätigung. Nicht minder sind nach d'Arsonval und
seinen Schülern die allgemeinen Wirkungen auf den Stoffwechsel
in Betracht zu ziehen, die sich bei höheren Thieren und beim Menschen
in einer kräftigen Anregung und Steigerung der OxydationsVor¬
gänge, in vermehrtem Sauerstoff verbrauch, vermehrter Kohlensäureaus¬
scheidung, in Zunahme des Oxyhämoglobins, Steigerung der Diurese und
der ausgeschiedenen Harnstoffmengen, in gesteigerter Wärmeproduction und
Wärmeabgabe, beschleunigtem Gewichtsverlust (nach Wägungen bei Kanin¬
chen) u. s. w. bekunden. Bei allen diesen Wirkungen soll ausser der schon
hervorgehobenen Beeinflussung der Vasomotoren ebenfalls die directe An¬
regung der Zellthätigkeit, der auf das Protoplasma geübte Reiz eine wesent¬
liche Rolle spielen, und d'Arsonval selbst, sowie seine nach der therapeuti¬
schen Seite hin arbeitenden Nachfolger sind geneigt, gerade in dieser
directen Einwirkung auf die Zellthätigkeit und der dadurch geübten allge¬
meinen Beeinflussung der Ernährung und der Stoffwechselvorgänge das so¬
zusagen specifische Element in der Wirkungsweise dieser hochgespannten
Wechselströme und das wesentliche Substrat ihrer umfangreichen thera¬
peutischen Verwerthbarkeit zu erblicken.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, haben denn auch Apostoli,
Oudin, Doumer u. a. die Indicationen für die therapeutische Verwendung
der Arsonvalisation aufgestellt und in weitester Ausdehnung gezogen. Vor
allen Apostoli hält die Methode für indicirt bei jener grossen Gruppe krank¬
hafter Störungen, denen nach Bouchard verlangsamte Ernährung als
gemeinsamer Factor zugrunde liege (maladies par ralentissement de
la nutrition), also bei Gicht und chronischen Rheumatismen, Dia¬
betes mellitus, Fettleibigkeit, aber auch bei einer grossen Anzahl an¬
geblich auf »Arthritismus« zurückzuführender nervöser Krankheitszustände,
bei arthritischen Neuralgien und Neurasthenien. Der vor kurzem verstorbene
Apostoli verfügte bereits seit Jahren über ein sehr umfangreiches thera¬
peutisches Beobachtungsmaterial — nach einer seiner letzten Mittheilungen
bei nicht weniger als 91J Kranken — und es sollen sich hervorragende
Resultate bei den eben genannten Krankheitszuständen herausgestellt
haben. Neuerdings will ferner Doimer bei 17 Kranken mit chronischer
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Arsonvalisation.
35
Lungentuberkulose vielverheissende Besserungen und sogar in 5 Fällen
-symptomatische Heilung« beobachtet haben. Dagegen hat sich d'Arsoxval
selbst hinsichtlich der therapeutisch - klinischen Anwendung der hochge¬
spannten Wechselströme vorsichtig zurückgehalten und sich, wie er sich
ausdrückt, auf seine »Rolle als Physiologe« beschränkt; immerhin hat er
Jedoch an einzelnen therapeutischen Versuchen wenigstens einen contro-
lirenden Antheil genommen. Zwei dieser von ihm speciell mitgetheilten Ver¬
suche betrafen Diabetiker; hier wurde nach einer Reihe täglicher, Je zehn
Minuten langer Sitzungen in dem grossen Solenoid eine mehr oder weniger
erhebliche Besserung des Allgemeinbefindens, Abnahme des Zuckergehalts,
vermehrte Toxicität des Harns u. s. w. beobachtet. In dem zweiten Falle war
das Resultat günstiger, wenn die Dauer der Einzelsitzungen von 10 auf
3 Minuten verkürzt wurde. In einem dritten Falle, bei einem 36jährigen
Manne mit hochgradiger Obesität (130 Kgrm.) und Herzarhythmie musste
das Verfahren wegen eintretender dyspnoischer Zustände nach einiger Zeit
eingestellt werden. — Es verdient hervorgehoben zu werden, dass die von
Apostoli für die Mehrzahl der Fälle angegebenen Anzeichen von Besserung
im wesentlichen dieselben sind, wie man sie auch nach anderen Methoden
allgemeiner Elektricitätsanwendung, bei der allgemeinen faradischen und
galvanischen Massage, beim Gebrauche hydroelektrischer Bäder, »elektro¬
statischer Luftbäder« u. s. w. ganz gewöhnlich beobachtet.
Während für die allgemeine Arsonvalisation der entscheidende Werth
darauf gelegt wird, dass die hochgespannten Wechselströme gerade in die
Tiefe des Körpers eindringen und hier ihre specifische, direct vom Zell¬
protoplasma ausgehende, activirende Wirkung entfalten sollen, sind da¬
neben die bei der localisirten Anwendung dieser Ströme erhaltenen Wir¬
kungen namentlich durch Oudin zum Gegenstände therapeutischer Beob¬
achtung in ebenfalls ziemlich weitem Umfange gemacht worden. Oudin hat
eine grosse Anzahl von Haut- und oberflächlichen Schleimhautaffectionen
mit sehr günstigem Erfolge behandelt, wobei er sich des von ihm ange¬
gebenen zweiten, veränderlich langen Solenoids (»Resonator«) bediente, das
durch einen hakenförmig endigenden kurzen Metallfaden mit dem ersten Solenoid
(Transformator) in Verbindung gebracht wird. Bei der Behandlung mannig¬
facher Haut- und Schleimhauterkrankungen soll vor allem die Beseitigung
von Schmerz und Jucken durch die analgesirende Wirkung der Ströme,
sodann deren trophoneurotische und antiparasitäre (baktericide) Wirkung
eine Hauptrolle spielen. Als mit sehr günstigen Ergebnissen behandelte
Dermatosen hebt Oudin besonders hervor: Psoriasis und Ekzem, dann auch
Lichen acutus generalisatus mit heftigem Pruritus und andere Pruritusfälle.
Impetigo, Herpes Zoster, Furunculose, Akne, Akne rosacea, Molluscum con¬
tagiosum und die verschiedenen Formen örtlicher Tuberkulose; endlich
wurden auch adenoide Wucherungen in Nase und Rachen, sowie blennor-
rhoische Cervixkatarrhe in zahlreichen Fällen günstig beeinflusst. Ich
enthalte mich einer wohl von specialistischer Seite zu erwartenden Kritik
dieser immerhin interessanten Heilerfolge und möchte nur darauf aufmerk¬
sam machen, dass zum Theil ähnliche Ergebnisse bereits früher seitens ein¬
zelner Elektrotherapeuten mit den verhältnissmässig leichter und einfacher
zu handhabenden Methoden der Franklinisation bei Hautkrankheiten ge¬
wonnen wurden; so von Doumer bei Ekzem, Akne, atonischen Geschwüren,
von Chatzky bei Psoriasis, von Abranitschef bei chronischer Urticaria.
Oudin selbst fasst seine mehrjährigen Erfahrungen in folgenden Schluss¬
sätzen zusammen: »Die hochgespannten Ströme können mit Erfolg bei Er¬
krankungen der Haut und der Schleimhäute verwandt werden, indem man
sie, wie ich angegeben habe, auf den Locus morbi unmittelbar einwirken
lässt. Sie sind von mächtigem Einfluss auf die Nervenendigungen, was durch
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3 *
Original from
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Arsonvalisation. — Asterol.
»> G
die Beseitigung des Juckens, durch die rasche Heilung von Trophoneurosen
und Herpes Zoster bewiesen wird. Sie äussern ferner eine gifttödtende Wir¬
kung, was sowohl aus den Laboratoriumsversuchen, wie auch der klinischen
Erfahrung hervorgeht, indem die krankhaften Symptome des Arthritismus
rasch wegschmelzen. Auch eine keimtödtende Kraft lässt sich ihnen nicht
absprechen, wenigstens halte ich meine Heilungen des Lupus, des Molluscum
contagiosum, sowie des blennorrhoischen Katarrhs des Collum uteri als be¬
weisend dafür. Sie bilden schliesslich eine neue Form der Um¬
setzung von Elektricität in Licht und dürfen einen ebenbür¬
tigen Platz neben den anderen physikalischen Heilmethoden
beanspruchen.«
Literatur: Etienne de Fodor, Experimente mit Strömen hoher Wechselzahl und
Frequenz. Wien, A. Hartleben, 1894. — d'Arsonval, Action physiologique et therapeutique
des courants ii haute frequence. Arch. d’electrieite med. 1897, pag. 165, 213. — Oudin,
Ueber die Wirkungsweise des Wechselstromes und der hoehgespannten Ströme bei den Er¬
krankungen der Haut und der Schleimhäute; deutsch von Türkheim. Monatsh. f. prakt.
Dermat. Februar 1898, XXVI, Nr. 4, pag. 169. — De Metz (lelectrocapacit^ du corps hurnaiu
et son röle dans le Circuit ä courant alternatif), Vortrag in russischer Sprache auf dem
Congress in Kiew 1898. — Benedikt, Die »Arsonvalisation« in der Medicin. Wiener med.
Wochenscbr. 1899, Nr. 5. — Eulenburg, Ueber die Wirkung und Anwendung hochgespannter
Ströme von starker Wechselzahl (D ARsoNVAL-TE8LA-Ströme). Deutsche med. Wochenscbr. 19U0,
Nr. 12, 13. — Doumer, Action des courants de haute frequence et de haute tension sur la
tuberculose pulmonaire chronique. Compt. rend. de l’Aead. des Sciences. 26. Februar 1900.
A. Eulenburg.
0 CO CH
Aspirin, C 6 H 4 <(^qqjj‘ 3 , Acetylsalicylsäure, auch Salicyl-
essigsäure, wurde von H. Dreser als Ersatz der Salicvlsäure und des
salicylsauren Natrons mit der Begründung empfohlen, dass diese bekannt¬
lich die Magenschleimhaut reizen, während das im sauren Magensafte kaum
zerlegbare Aspirin den Magen beinahe unverändert passirt und erst im
alkalischen Darmsaft in seine Componenten zerfällt. Thatsächlich berichten
Witthauer, Lengyel, Ketly, dass das Aspirin nie Magenbeschwerden oder
Appetitlosigkeit verursacht hat, und dass es im übrigen bei Gelenk- und
Muskelrheumatismus, als Fiebermittel die gleiche Heilkraft wie Salicylsäure
zeigt. Nach H. Dreser drückt Natriumsalicylat die Arbeitsleistung des
Herzens herab, während in der äquimolecularen Concentration das Aspirin-
Natrium die Herzarbeit steigerte. (Es sind 138 G. E. Salicylsäure, 160 G.E.
salicylsaures Natron, 180 G. E. Aspirin und 202 G. E. Aspirin-Natrium äqui-
moleculare Mengen.) Wolffberg und auch Schmeidler verwenden es zur
Herabsetzung der Schmerzen bei bestimmten Augenleiden, namentlich bei
Glaucoma chronicum und haemorrhagicum, Iritis chronica, Episkleritis. Bei
Neuralgien und Pleurodynie fand Floecklyger das Aspirin wirkungslos.
Das Aspirin bildet weisse Krystallnadeln, die bei 135° C. schmelzen,
sich in Wasser von 37° C. zu 1%, leichter in Alkohol und Aether lösen. Das
Präparat giebt mit verdünnter Eisenchloridlösung keine blauviolette Färbung
wie Salicylsäure. Das Mittel hat einen angenehmen säuerlichen Geschmack.
Dosirung. Innerlich in Dosen von 1,0 4mal täglich, zweckmässig mit
der 3—4fachen Menge Zucker in etwas Wasser eingerührt.
Literatur: H. Dreser, Pharmakologisches über Aspirin. Arch. f. d. ges. Physiol. 1899,
LXXIX. — R. Witthauer, Aspirin, ein neues Salicylpräparat. Die Heilkunde. April 1899,
Heft 7. — J. Wohlgbmuth, Ueber Aspirin (Acetylsalicylsäure). Therap. Monatsh. Mai 1899,
Heft 5. — L. Lengyel, Aspirin, ein neues Salicylpräparat. Die Heilkunde, August 1899,
Heft 18. — Ketly, Aspirin. Ebenda. October 1899, Heft 1. — Wolffberg, Aspirin. Wochen-
schiift f. Therap. und Hygiene des Auges. August 1899, Nr. 47. — Schmeichler, Aspirin.
Wiener med. Wochenschr. September 1899, Nr. 38. Loebisch.
Asterol. Paraphenolsulfosaures Quecksilberammoniumtar-
tarat (C 12 H 10 0 8 S 2 Hg) . 4 (C 4 H 4 0, ; ) (NH 4 ) 2 + HoO, wurde von Fr. Stely-
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Asterol. — Augenheilmittel.
37
mann als vorzügliches Antisepticum empfohlen, zunächst wegen seines Ge¬
haltes an Sulfophenolsäure und an Quecksilber, ferner wegen seiner Löslich¬
keit im Wasser. Es stellt ein krystallinisches, röthlichweisses Pulver dar,
welches sich in warmem Wasser leicht und klar löst und dessen Lösungen
auch beim Erkalten völlig klar bleiben. Nach Steinmann kommt dem Asterol
eine bedeutende baktericide Kraft zu, die es auch in eiweisshaltigen Medien
nicht einbüsst. Den Lösungen fehlt der üble Geruch und die unangenehme
Hautwirkung der Carbolsäure und des Lysols und es entbehrt der lästigen
Undurchsichtigkeit und des zerstörenden Einflusses, welchen das letztere
auf Kautschuk ausübt. Die Wunden werden durch die in Betracht kommen¬
den Lösungen nicht geätzt. Die Tiefenwirkung ist eine sehr grosse. Das
Asterol soll sich gut verwenden lassen zur Desinfection der Hände und des
Operationsfeldes sowohl, wie auch der Instrumente, da es dieselben nicht
angreift. Diesen Angaben widersprechen allerdings die Resultate der Unter¬
suchung von Vertun, die ergaben, dass sich das Asterol EiweissVerbindungen
gegenüber durchaus nicht indifferent verhält, Eisen, wenn auch in geringerem
Grade wie Sublimat, angreift und überdies eine 7mal schwächere baktericide
Wirkung äussert als dieses letztere (s. auch Hydrargyrol).
Literatur: Fb. Steinmann, Ueber zwei neue Quecksilbersalze und über deren Werth
als Antiseptiea. Aus der Klinik des Prof. Kocher in Bern. Berliner klin. Wochenschr. 1899,
Nr. 11. — Vertun, Ebenda. Nr. 20. Loebisch,
Atmokausis, s. Vaporisation.
Atrabilin, vergl. Augenheilmittel, pag. 42.
Atropin, Atroscin, ibid. pag. 37, 38.
Angenhellmittel. Von der grossen Menge der in den letzten
Jahren aufgetauchten neuen Heilmittel sollen hier nur diejenigen aufgeführt
werden, welche direct am Auge zur Verwendung kommen, aber nicht die¬
jenigen, welche zur internen Anwendung bestimmt, selbstverständlich auch
vom Augenärzte gebraucht werden, ohne Augenheilmittel im engeren Sinne
zu sein, z. B. das Aspirin, die Albacide, mercurielle Präparate etc.
In erster Reihe sollen die Mydriatica genannt werden und scheint es
vorteilhaft, vergleichsweise auch die alten hier mit zu erwähnen.
In den verschiedenen Solanaceen aus den Gattungen Atropa, Scopolia,
Hyoscyamus, Datura, Mandragora, Solanum, Anisodus sind wenigstens zwei
Alkaloide enthalten, von denen das eine C 17 H 23 N0 3 , das andere C l7 H 31 N0 4
zusammengesetzt ist, so dass das zweite als Oxydationsproduct des ersteren
betrachtet werden kann. Das erster© ist das Hyoscyamin, welches durch
Einwirkung von Alkalien leicht in eine isomere Base, Atropin, sich ver¬
wandelt. Letzteres scheint in geringer Menge auch in manchen der er¬
wähnten Pflanzen direct vorzukommen, doch ist es leicht möglich, dass in
den lebenden Pflanzen stets nur Hyoscyamin enthalten ist und das Atropin
nachträglich in den abgestorbenen Pflanzentheilen sich bildet.
Das Atropin wird aus der Wurzel der Atropa Belladonna gewonnen
und als Atr. sulfuricum oder salicylicum in 0,5—l°/ 0 iger Lösung verwendet.
Es lähmt den Sphincter pupillae und die Accommodation. Die Wirkung
beginnt 15—20 Minuten nach der Einträuflung, hat gewöhnlich in 15 bis
20 Minuten ihr Maximum erreicht; die Wirkung ist eine langdauernde,
beginnt mit dem 3. Tage abzunehmen, ist aber erst in 6—10 Tagen voll¬
kommen verschwunden. Es soll den intraoculären Druck erhöhen, was aber
von anderer Seite in Abrede gestellt wird; sicher ist nur, dass es bei
glaukomatösen Processen druckerhöhend wirkt und daher bei diesen Leiden
oder bei Verdacht auf dieselben streng zu vermeiden ist. Die leichten Ver¬
giftungserscheinungen, die durch Atropin dadurch eintreten können, dass
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Augenheilmittel.
:;8
durch den Thränennasengang etwas von der Lösung nach abwärts gelangt,
bestehen im Gefühle von Trockenheit im Halse, entsprechenden Beschwerden
beim Schlingen und Sprechen; schwerere Erscheinungen, wie Pulsbeschleu¬
nigung, Ueblichkeit, Schwindel, Unruhe, Desorientirung und Delirien werden
wohl selten beobachtet.
Das Hyoscyamin, das in der Augenheilkunde keine Verwendung
findet, soll identisch sein mit Du boisin; nach anderen soll letzteres neben
Hyoscyamin und Hyoscin noch andere nicht genügend erforschte Alkaloide
enthalten. Es stammt von Duboisia myoporoides und wird als D. muriaticum
in 0,5—l%igen Lösungen gebraucht. Es bewirkt wie Atropin Mydriasis
und Accominodationslähmung, die schon nach 7—8 Minuten eintreten, in
einer halben Stunde ihren Höhepunkt erreichen, aber nur etwa 5 Tage an-
halten. Es ist giftiger als das Atropin und wirkt 2—3mal kräftiger. Es ist
daher mit Vorsicht anzuwenden, da Unbesinnlichkeit und Delirien eintreten
können. Manche Kranke, die eine Idiosynkrasie gegen das Atropin besitzen,
vertragen es jedoch ganz leicht.
Das nicht gebrauchte Daturin wirkt dem Atropin ganz ähnlich und
ist diesem isomer.
Die zweite Base ist das Hyoscin oder, was dasselbe sein soll. Sco-
polamin. Es scheint, dass das Hyoscin durch Alkalien eine ähnliche Um¬
wandlung erleide, wie das Hyoscyamin, wenn auch schwieriger und dabei
in inactives Scopolamin oder Atro sc in übergehe.
Das Hyoscin wird als H. hydrojodatum in 0,1 — 0,5° 0 iger Lösung ver¬
wendet. Es wirkt zehnmal kräftiger als Atropin und erzeugt Mydriasis und
Accommodationslähmung in 10—15 Minuten, die Wirkung dauert 5—7 Tage.
Es ist sehr giftig, erzeugt leicht Sprachstörung. Unbesinnlichkeit, Schwindel.
Taumeln. Schlafsucht, Delirien. Es ist deshalb nur wenig verwendet worden.
Trotzdem es mit dem Hyoscin identisch sein soll, ist das Scopolamin
eines der in neuester Zeit am meisten gebrauchten Mydriatica geworden.
Es soll das Hyoscin nach Peters nur ein mehr oder weniger verunreinigtes
Scopolamin sein. Man verschreibt es als H. hydrojodatum oder hydrobro-
matum in 0,1—0,2°/ 0 igen Lösungen. Es wirkt schneller und kräftiger als
Atropin, so dass eine 0.1%ige Lösung etwa einer 0,5%igen Atropinlösung
gleichkommt. Die Wirkung tritt in 7 Minuten ein, wird maximal in 25 Mi¬
nuten und dauert 4—7 Tage. Es wirkt lähmend auf die Hirnrinde, verlang¬
samt den Puls, während Atropin die Hirnrinde reizt und Pulsbeschleunigung
hervorruft. Unangenehme Nebenwirkungen wurden bisher nicht beobachtet,
doch soll es den Binnendruck des Auges nicht vermehren und daher bei
Glaukom zulässig sein, trotzdem ist in dieser Beziehung (wie bei allen
Mydriaticis) zu grosser Vorsicht zu mahnen. Ich benütze es seit mehreren
Jahren fast ausschliesslich an Stelle des Atropins.
Das Atro sein, das in 2%igen Lösungen kräftiger wirken soll als
das Scopolamin, soll häufig leichte Intoxicationserscheinungen machen und
namentlich auch wegen der manchmal versagenden accommodationslähmenden
Wirkung keine Vortheile vor dem Scopolamin besitzen.
Durch Abspaltung von Wasser kann sich das Hyoscyamin leicht in
Apoatropin oder Atropamin verwandeln und dieses wieder in das ihm
isomere Belladonnin.
Die im Handel vorkommenden Präparate sind fast stets Gemenge der
genannten Alkaloide, wenn nicht durch die Forderung der Pharmakopoe
völlige Reinheit gesichert ist (Pinxkr).
Während die aufgeführten Mittel eine möglichst kräftige Wirkung bei relativ
geringster Giftigkeit hervorrufen sollten, handelt es sich bei den jetzt zu
nennenden um eine für den gewünschten Zweck (Pupillenerweiterung behufs
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Augenheilmittel.
Augenspiegeluntersuchung oder Accommodationslähmung wegen Refractionsbe-
stimmung) ausreichende Wirkung und um die möglichst geringe Dauer derselben.
Das Homatropin kommt in der Natur nicht vor; es ist aus Tropin
und Mandelsäure aufgebaut (C 16 H 21 N0 3 ); Tropin und Tropasäure sind Zer-
setzungsproducte des Atropins. Es wird in l%iger Lösung gebraucht, macht
Mydriasis und Accommodationslähmung, die in 12—15 Minuten beginnen, in
40 Minuten ihr Maximum erreichen, aber in 8—10 Stunden, spätestens in
einem Tage verschwunden sind. Intoxicationserscheinungen sind nicht zu
befurchten, bei Glaukom ist es zu vermeiden. Es eignet sich wegen seiner
rasch vorübergehenden Wirkung besonders zu diagnostischen Zwecken,
namentlich wird es als besonders geeignet zur objectiven Refractions-
bestimmung erklärt, da es die Accommodation vollständiger lähmt als
die nachfolgend zu erwähnenden Mittel.
Ueber Gelse min von Gelsemium sempervirens, das eine 12—17 Stunden
dauernde Mydriasis erzeugt, ist wenig bekannt.
Das Gleiche gilt von Ephedrin, das von Ephedra vulgaris stammt.
Eine 10°; 0 ige Lösung von E. hydrochloricum erzeugt Mydriasis mit erhaltener
Lichtreaction und beeinflusst die Accommodation nur wenig; die Wirkung
dauert 4 Stunden, nach anderen 5—20 Stunden.
Geppert nannte eine Mischung von Homatropinum hydrobromicum
0,01, Ephedrinum hydrochloricum 1,0, Aq. dest. 10,0, Mydrin. Groexow
constatirte, dass es nach 8 J / 2 Minuten Mydriasis bewirkt, die nach 30 Mi¬
nuten maximal wurde, nach einer Stunde wieder abzunehmen begann und
in 4—6 Stunden verschwunden war. Die Sehstörungen dauerten, wenn sie
überhaupt vorhanden waren, höchstens 1 Stunde. Nach Schultz ist die
Gesammtwirkung nach 6 — 7 Stunden vorüber. Zu diagnostischen Zwecken
ist das Mittel umso geeigneter, als es die Accommodation nur in geringem
Grade lähmt.
Ueber Mydrol, Jodmethyl-Phenylpyrazol, berichtet Cattanea, dass es
in 5—10%iger Lösung neben starker Contraction der Conjunctivalgefässe
eine nur wenige Stunden andauernde Mydriasis mit nur geringer Beeinflussung
der Accommodation hervorrufe. Weiteres ist über das Mittel nicht bekannt.
In seiner Wirkung ist ihm das Cocain verwandt, das bekanntlich
ebenfalls vasoconstrictorisch wirkt, kurzdauernde Mydriasis mit Erhaltung
der Beweglichkeit der Pupille hervorruft und die Accommodation nur wenig
alterirt. Zu diagnostischen Zwecken findet es deshalb häufige Anwendung
Allen zu letzterem Zwecke dienenden Mydriaticis ist wohl das
Euphthalmin (E. hydrochloricum) überlegen. Es ist das salzsaure Salz des
Mandelsäurederivates des labilen n-Methylvinyldiacetoncalmins. Die Wirkung
einer 5%igen Lösung beginnt nach 5—10 Minuten, erreicht den Höhepunkt
in 6)0—80 Minuten, die subjectiven Beschwerden schwinden nach 2—3 Stunden,
in 4—7 Stunden ist die Wirkung vorüber, schneller als bei Homatropin. Die
Accommodation wird nur wenig, in einem in praktischer Hinsicht ganz zu ver¬
nachlässigendem Grade gelähmt. Auch soll es nach dem übereinstimmenden
Urtbeile mehrerer Autoren den intraoculären Druck nicht beeinflussen und
ohne Nachtheile bei Glaukom angewendet werden können. Einzelne wenden
eine 10%ig© Lösung an. die meisten halten eine 5%ige für vollkommen
genügend. Für diagnostische Pupillenerweiterung verdient es daher vor allen
seinen Rivalen den Vorzug.
Die Miotica anbelangend liegt eine nette Arbeit von Bietti über das
Arecolin vor (s. diese Jahrbücher, VI, pag. 28). Es ist ein kräftiges Mioticum,
wirkt energischer als Eserin und auch in solchen Fällen, wo dieses im
Stiche liess , doch ist die Wirkung rasch vorübergehend (l 1 /.,—3 Stunden)
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Augenheilmittel.
und blieb in einzelnen Glaukomfällen ganz aus. Man wendet 1—2%ige
Lösungen von A. hydrobromicum an.
Anaesthetica. Rogman hat alle die üblen Folgen, welche die Anwen¬
dung des Cocains nach sich ziehen soll, zusammengestellt. In erster Reihe
ist die Austrocknung des Cornealepithels zu nennen, ferner die Mydriasis und
die unbedeutende Accommodationslähmung, die druckerhöhende Wirkung
bei Glaukomdisposition, andererseits die Herabsetzung des Druckes, die sich
bei Staaroperationen unangenehm geltend macht, die Vergiftungserschei¬
nungen in einzelnen Fällen, die Unmöglichkeit, das Mittel durch Kochen zu
sterilisiren.
Alle diese Uebelstände haben keine solche Bedeutung, dass sie der
Verbreitung des Cocaingebrauches hätten hinderlich sein können. Die Cornea
bleibt intact, wenn man während des Cocainisirens das Auge geschlossen
hält. Die Mydriasis ist wenig lästig, da die Beweglichkeit der Pupille er¬
halten ist, die Accommodationslähmung kaum merkbar, die üble Wirkung
auf glaukomverdächtige Augen kann durch gleichzeitige Anwendung eines
Mioticums vermieden werden (vergl. meine diesbezüglichen Untersuchungen
in »Ophthalmologische Untersuchungen an der II. Universit&tsaugenklinik in
Wien«, Wiener med. Presse, 1885), die Vergiftungserscheinungen durch Ein¬
träufelungen gehören zu den grössten Seltenheiten. Trotzdem ist gegen das
Suchen von Ersatzmitteln des Cocains nichts einzuwenden. Nur drei derselben
kommen wesentlich in Frage, das B-Eucain, das Tropacocain und das Holocain.
Das E u c ain ist Benzoylmethyltetramethyl-y-Oxypiperidincarbonsäure-
methylester. Von dessen salzsaurem Salze existiren zwei Formen, die man
als Eucain A und Eucain B bezeichnet hat. Das erste wirkt wahrscheinlich
wegen des Gehaltes an Methylalkohol ziemlich stark reizend und ist zur
Anwendung in der Augenheilkunde nicht geeignet. Das zweite, das Eucain B,
wirkt weniger reizend und kann allein in Frage kommen. Es verursacht
beim Einträufeln unangenehmes Brennen, ruft in 2%iger Lösung nach 2 bis
5 Minuten vollständige Anästhesie hervor durch 10—20 Minuten, Pupille,
Accommodation und Augendruck werden nicht beeinflusst. Es ist weniger
giftig, haltbarer als Cocain und ist durch Kochen sterilisirbar. Aber die
Reizerscheinungen, die es hervorruft (Thränenfluss und Röthung der Binde¬
haut), die bei 4—5%iger Lösung, durch die auch Schädigung des Corneal¬
epithels eintritt, sehr hochgradig werden, machen seine Brauchbarkeit sehr
zweifelhaft.
Das Tropacocain (Benzoylpseudotropein) wurde in den Cocablättern
entdeckt, später aber reiner und wirksamer synthetisch dargestellt. Es wird
eine 3%ige Lösung von Tr. hydrochloricum verwendet, der man stets
0,6% Chlornatrium zusetzen muss, wodurch es jede Reizwirkung verliert.
Die anästhesirende Wirkung tritt nach 1%—2 Minuten ein und dauert
20 Minuten. Es anämisirt nicht, Pupille und Accommodation werden nur in
unbedeutendem Grade beeinflusst. Es ist sehr haltbar, wirkt antiseptisch
und darf gekocht werden. Seiner allgemeinen Verwendung ist nur der ziem¬
lich hohe Preis etwas hinderlich; es kostet dreimal soviel als Cocain.
Holocain ist chemisch p Diäthoxyäthenyldiphenylamidin. Das Holo¬
cain wird als H. hydrochloricum in 1° 0 iger Lösung verwendet; 1—2 Tropfen
wirken schon in %—l 1 /* Minuten kräftig anästhesirend ohne stärkeres
Brennen als Cocain zu verursachen; die Wirkung dauert 10—15 Minuten.
Es bewirkt weder Ischämie noch Mydriasis oder Accommodationsparese,
auch erhöht es nach den bisherigen Erfahrungen den intraoculären Druck
nicht. Es wirkt kräftig antiseptisch und lässt sich auch durch Kochen sterili¬
siren. Die anfänglich angenommene Sicherheit des Cornealepithels gegen Ab-
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Augenheilmittel.
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trocknung ist auch beim Holocain nicht vorhanden. Es ist giftiger als Cocain,
doch dürften wegen der geringeren Concentration der Lösung und der
raschen Wirkung Intoxicationserscheinungen nicht zu befürchten sein.
Schultz, welcher berichtet, dass es auf der Berliner Universitätsklinik in
ausgedehntester Weise seit Ende 1897 verwendet wird, hält es für das zur
Zeit geeignetste Anästheticum in der Augenheilkunde, jedoch nur zum Ein¬
träufeln in l°/ 0 iger Lösung. Auch Knapp spricht sich in sehr entschiedener
Weise zu Gunsten des Holocains aus.
Zum Schlüsse möge noch das Anesin Erwähnung finden. Es ist eine
wässerige Lösung des Acetonchloroforms. Es ist nach v. Vamossy, der es
einführte, gleichwerthig einer 2%igen Cocainlösung, wird also, wo eine
solche nicht ausreicht, das Cocain nicht ersetzen. Baden des Auges durch
1 Minute in der Lösung macht die Cornea unempfindlich, aber nicht die
Iris ; die Pupille bleibt unbeeinflusst. Glänzende Erfolge soll man bei sub-
cutaner Anwendung erhalten, wobei die vollkommene Ungiftigkeit des Mittels
hervorzuheben ist.
Schmerzstillend zu wirken, wenn auch in anderem Sinne als die ge¬
nannten Mittel, ist auch die Aufgabe des Acoins. Acoine sind Alkyloxyphenyl-
guanadine. Das Acoin par excellence, das Acoin C ist Diparanisylmonopara-
phenetylguanidinchlorhydrat. Ins Auge geträufelte Lösungen erzeugen an
Kaninchen sofort oder nach 1—2 Minuten Anästhesie, Lösungen von 1:1000
durch 15 Minuten, 1:200 durch 1 Stunde, 1:100 durch 40 — 80 Minuten,
1:40 länger als einen Tag. Beim Menschen ist die Wirkung viel geringer,
so dass das Acoin mit dem Cocain nicht concurriren kann. Kaltes Wasser
löst ti% Acoin, es ist aber gerathen, nur l%ig e Lösungen anzuwenden.
Das Acoin ist ungiftig, starke Lösungen erzeugen jedoch, unter die Haut
gespritzt, locale Nekrose.
Darier empfiehlt, den von ihm geübten subconjunctivalen Cyanqueck-
silberinjectionen Acoin beizufügen, wodurch sie vollständig unschmerzhaft
werden. Er erzeugte diese Schmerzlosigkeit, wenn er V 4 Pravazspritze ein^r
Lösung von Cyanquecksilber 0.01, Chlornatrium 1,00, Aq.dest.5o einen
Tropfen einer l%i£ en Acoinlösung zusetzte, und fand, dass man auch 1 :300<>
oder 1:1000 schmerzlos injiciren könne, wenn man zwei Theilstriche l%ige
Acoinlösung hinzufügt. Einer 4°/ 0 igen Chlornatriumlösung setzte er zwei
Theilstriche der genannten Lösung für eine ganze Spritze zu. Einen anfangs
empfohlenen kleinen Zusatz von Cocain erklärte er später für überflüssig.
Auch 1:1000 Jodtrichlorlösungen hat Darier mit Acoinzusatz fast ohne
Schmerzen injicirt.
Anzureihen ist an dieser Stelle das Dion in, das salzsaure Salz des
Monoäthyläthers des Morphins. Es bewirkt, in den Conjunctivalsack ge¬
bracht, wie Wolffberg fand, nach wenigen Minuten ein starkes wässeriges
Oedem der Lidränder und eine starke wässerige chemotische Schwellung
der ganzen Conjunctiva bulbi, welche Wolffberg als durch Lymphstauung
entstanden erklärt. Diese Erscheinungen dauern etwa 2—3 Stunden, können
sich aber auch viel länger, bis zu 18 Stunden hinziehen. Bei öfterer Appli¬
cation des Mittels nimmt die Empfindlichkeit des Individuums ab und die
Reaction tritt weniger heftig, oft nur in unbedeutendem Grade auf. Es giebt
übrigens Personen, die überhaupt nur in kaum nennenswerther Weise auf
das Mittel reagiren und bei denen auch die curative Wirkung ausbleibt.
Die lymphtreibende Wirkung soll zu einer Verbesserung der Ernährungs¬
verhältnisse führen und daher sehr heilkräftig sein, besonders bei Hornhaut¬
entzündungen, namentlich auch bei mit Wundinfection verbundenen Horn-
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12
hautverletzungen. Die günstige Beeinflussung der Wundheilung veranlasste
Wolffberg, das Dionin bei jeder Bulbusoperation anzuwenden, auch erwies
es sich als Unterstützungsmittel bei Behandlung des Glaukoms. Betreffs der
Keratitis empfiehlt er es besonders bei solchen, die nicht von Bindehaut¬
leiden abhängig sind. Gräfe führt als günstig beeinflusste Leiden auf:
Cornealalfectionen älteren Datums, alte trockene Katarrhe, chronische Lid¬
randentzündungen, Episcleritis rheumatica, Iritis, Chorioretinitis specifica.
flottirende Glaskörpertrübungen bei Myopie.
Darier entdeckte, dass es ein ausgezeichnetes schmerzstillendes Mittel
sei besonders bei Iritis, schmerzhafter Episkleritis und Keratitis.
Man wendet das Dionin in 5- oder 10%igen Lösungen an (bis zu 14° 0
sind löslich, Darier bevorzugt die erstere), oder bringt ein Körnchen noch
ungelösten Salzes in den Bindehautsack. Injectionen unter die Bindehaut
(bis 0,01 pro dosi) werden nicht von allen Patienten gleich gut vertragen.
Subjective Beschwerden verursacht das Dionin nicht, höchstens ein
leichtes, bald vorübergehendes Brennen.
Dass, wie Gräff. angiebt, nach Dionin Niesen sich einstellt, und zwar
wenn ein Körnchen vorsichtig in den Bindehautsack gebracht wird, kann
ich bestätigen. Ich sah es ab und zu bei Erwachsenen wie auch bei ganz
kleinen Kindern.
Peronin (das chlorwasserstoffsaure Salz des Benzylmorphins) wirkt
dem Dionin ganz ähnlich, doch ist letzteres der leichten Löslichkeit halber
vorzuziehen Heroin und Morphin sind ihrer grossen Giftigkeit halber
nicht verwendbar, entfalten aber nach Darier die gleiche analgesirende
Wirkung.
Atrabilin. Das von Bates, Kyle, Müller, Timofejew, Fromaüet.
Königstein u. a. empfohlene Extractum suprarenale haemostaticum ist, da
es sich sehr leicht zersetzt und übelriechend wird, in der Praxis nicht gut
verwendbar. Die gleichen Uebelstände haben frisch zubereitete anatomische
Präparate und das von Fränkel gefundene Sphygmogenin. Dem Apotheker
Leschnitzer in Breslau ist es gelungen, ein Präparat herzustellen, dem diese
Fehler nicht anhaften und dem der Name Atrabilin beigelegt wurde (von
Capsula atrabilia = glandula suprarenalis). Es ist eine gelbliche, leicht
opalescirende, schwach fleischextractähnlich riechende Flüssigkeit. Die von
Wolffberg, auf dessen Veranlassung das Präparat hergestellt wurde, er¬
probte Wirkung ist folgende: Alle Symptome, die das Cocain hervorbringt,
treten in ungleich stärkerem Grade ein, mit Ausnahme der Anästhesie und
der Mydriasis. Die Ischämie beschränkt sich nicht auf die oberflächlichen
Gefässe, sondern erstreckt sich auch auf die gröberen und tieferen, auf die
eigentlichen Ciliargefässe. Gleichzeitig stellt sich eine spastische Erweiterung
der Lidspalte bei vollkommener Schlussfähigkeit ein und mässiges Hervor¬
treten des Auges bei vollständig erhaltener Beweglichkeit, sowie eine Ab¬
nahme der Thränensecretion.
Man wendet es in 50%i& er Verdünnung oder am besten unverdünnt
an bei Iritis, Episkleritis, Keratitis, Trachom. Bei Iritis räth Wolffberg,
jeder Atropineinträufelung eine Atrabilineinträufelung folgen zu lassen. Man
kann es sehr oft im Tage gebrauchen lassen. Die anämisirende Wirkung
dauert 1—2 Stunden; ich lasse stets von neuem einträufeln, sobald die
Wirkung nachlässt. Der augenblickliche Effect ist in den meisten Fällen
ein geradezu verblüffender.
Man kann es auch zu kosmetischen Zwecken anwenden bei müden,
vom Weinen oder auch vom Wein gerötheten Augen; dazu genügt eine
20%ige Verdünnung.
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Ersatzmittel des Argentum nitricum. Gross ist die Zahl der Mittel,
welche an die Stelle des Argentum nitricum treten wollen. Bei allen an¬
erkannten Vorzügen dieses Heilmittels hat es den Nachtheil, dass es ätzt,
dass durch die oberflächliche Verschorfung der Epithelien das Eindringen in
die Tiefe behindert wird, um dort seine antiseptischen Eigenschaften zu
entfalten und endlich, dass es beträchtliche Schmerzen verursacht, welche
seiner Anwendung in der Praxis manches Hinderniss in den Weg legen.
Diese Uebelstände sollen die neuen Silberpräparate nicht haben. Es ist aber
noch sehr abzuwarten, ob sie imstande sein werden, den Höllenstein zu
verdrängen. Es mögen hier angeführt werden: Argentamin, Argonin, Actol,
Silbersulphophenat, Itrol, Protargol und Largin.
Das Argentamin ist eine Lösung von Aethylendiaminsilberphosphat.
Es ist eine klare Flüssigkeit, reagirt alkalisch, entspricht einer I0°/ O igen
Höllensteinlösung, eine Verdünnung von 1 : 10 hat also den Werth einer
l%igen Höllensteinlösung. Das Aethylendiamin hat die Eigenschaft, die
Niederschläge, welche die Silbersalze bei Berührung mit lebenden Geweben
bilden, wieder aufzulösen, wodurch das Eindringen des Silbersalzes in die
Tiefe, wo es seine kräftige baktericide Wirkung bethätigen soll, wesentlich
begünstigt wird.
Beim Touchiren mit dem Mittel muss man es reichlich anwenden, da
der erste Tropfen, der in den Bindehautsack kommt, einen nur im Ueber-
schusse löslichen Niederschlag bildet.
Pergens theilt mit, dass man in der Fabrik wegen der geringen Halt¬
barkeit des Silberphosphats dieses in äquivalenter Weise durch Silbernitrat
ersetze; es giebt also ein Phosphorargentamin und ein Nitrargentamin.
Die Berichte von Hoor und Darier beziehen sich möglicherweise nur
auf das erstere.
Nach diesen verursacht es viel weniger Schmerz als eine adäquate
Höllensteinlösung (Darier). Nach Hoor macht es keine Schmerzen und keine
Reizungserscheinungen, kann 3—4mal im Tage eingeträufelt werden und
ist bei iritischen und cyclitischen Processen nicht contraindicirt; es führt
nicht zu Argyrose. Es ist dem Höllenstein an baktericider Kraft bedeutend
überlegen, doch sagt Hoor, dass es sich als Prophylacticum bei Neugeborenen
nicht bewährt hat. Darier hält es für gleich wirksam dem Argentum nitricum.
vielleicht wirksamer als dieses, bei Blennorrhoe wirke 2%iger Höllenstein
aber vielleicht energischer.
Argonin ist eine Verbindung von Casein mit Silber, bildet ein in
Wasser lösliches krystallinisches Salz, von dem 15 Theile 1 Theil Silber¬
nitrat entsprechen. Es enthält nur 4,2% Silber, soll keine Reizerscheinungen
machen und sehr rasch Gonokokken tödten, hat aber keine anti catarrha-
lische und adstringirende Wirkung. Darier hat es nicht versucht.
Itrol, citronsaures Silber, wurde von Crki>£ in die Praxis eingeführt
und besonders zu Wundverbänden benützt. Leichtes, ganz feines Pulver, das
sich zu Einstäubungen eignet und nicht die geringste Reizwirkung besitzt;
nach Mergl verursacht es kurze Zeit brennenden Schmerz. Darier hat ge¬
funden, dass es dem Argentanin in nichts überlegen sei und hat es nicht
weiter benützt.
Nbxadowitsch (Moskauer Congress) hat es in 1—3%igen Lösungen
und als Pulver bei granulöser Conjunctivitis mit bestem Erfolg empfohlen;
auch Mergl rühmt es sehr bei secernirenden Bindehautentzündungen. Es
giebt aber Patienten, die das Itrol nicht vertragen und bei denen es die
Cornea angreift.
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Augenheilmittel.
Actol, milchsaures Silber, ist in 25 Theilen Wasser und eiweisshältigen
Flüssigkeiten löslich, sehr antiseptisch wirksam, soll selbst in einer Ver¬
dünnung von 1 : 80.000 Jede Weiterentwicklung von Mikroben hemmen.
Nach Mergl soll es am Auge bedeutend stärkere Schmerzempfindungen
machen als Itrol, — es molestirt den Kranken oft J /. 2 Stunde und ätzt die
intacte Cornea.
Silbersulphophenat. Nach Zanardi hat es alle antiseptischen
Eigenschaften der Silbersalze ohne reizend zu wirken, soll leicht löslich
und sehr beständig sein. Zanariu hat es nach Darier mit Vortheil in
der Chirurgie und Augenheilkunde angewendet, genauere Mittheilungen
fehlen noch.
Das Protargol, eine Eiweissverbindung, Proteinsilber, wird namentlich
von Darier in geradezu enthusiastischer Weise gerühmt. Es stellt ein gelb¬
braunes Pulver dar, das in Wasser in jedem Verhältnisse löslich ist: eine
5%ige Lösung ist hellbraun, dünnflüssig, je concentrirter die Lösung ist, desto
dunkler ist sie, eine 50%ige Lösung ist dunkelbraun, von Syrupconsistenz
und gleicht, wie Darier ganz treffend bemerkt, dem Perubalsam. Die schwachen
5—10%igen Lösungen werden eingeträufelt und können dem Kranken in
die Hand gegeben werden, stärkere Concentrationen werden am besten mittels
eines Pinsels auf die umgestülpten Lider eingestrichen, das ungelöste Pulver
auf die Bindehaut eingestäubt und durch Massagebewegungen mit den Lidern
verrieben. Mit Vortheil kann man auch 5—10%ige Salben mittels eines
Salbenstäbchens in den Bindehautsack einbringen. Durch Licht werden
Lösungen und Salben verändert, sie werden dunkler und verlieren vielleicht
an Wirksamkeit; sie sind also in entsprechend gefärbten Gläsern aufzu¬
bewahren. Verschiedene Personen verhalten sich gegen das Mittel sehr ver¬
schieden ; bei der Mehrzahl verursacht es weder Reizerscheinungen noch
Schmerz, bei vielen ein leichtes Brennen, bei anderen eine stärkere Schmerz¬
empfindung, die nicht unmittelbar nach Application desselben, sondern erst
nach einiger Zeit eintritt; nach vereinzelten Angaben soll der Schmerz bei
stärker concentrirten Lösungen sich von dem nach Argentum nitricum nicht
unterscheiden, ja so heftig sein, dass die Kranken nach letzterem Mittel
zurück verlangten. Im allgemeinen kann man aber das Fehlen des Schmerzes
oder einen unbedeutenden Schmerz als die Regel annehmen.
Das Protargol hat keinerlei ätzende Eigenschaften, was sein Haupt¬
vorzug vor dem Silbernitrat ist, es kann also beliebig oft und in beliebiger
Concentration angewendet werden und auch in solchen Fällen, in denen der
Höllenstein nicht zulässig ist, wie bei membranösen Belegen.
Da das Protargol nur 8,3% Silber enthält, das salpetersaure Silber
aber 85%, so ist es selbstverständlich, dass man von ersterem stärkere
Lösungen und diese häufiger anwenden muss als letzteres. Dass man diese
ausser Acht liess, ist vielleicht auch die Ursache der nicht seltenen Miss¬
erfolge. Die bakterientödtenden Eigenschaften des Protargols stehen ausser
Zweifel und wird namentlich auch die Tiefenwirkung gerühmt, alles ohne
dass dabei das Gewebe zerstört wird.
Die grössten Erfolge weist das Protargol nach Darier und anderen
bei den blennorrhoischen Processen auf, bei der Blennorrhoe der Neugeborenen
und der Erwachsenen; zunächst stehen die einfachen acuten Conjunctivitiden
mit reichlicher Secretion. Es existiren hier jedoch Unterschiede, es scheint als
ob die durch den WEEKS schen Bacillus verursachten Entzündungen leichter
geheilt wurden als die durch den DiplobaciJlus Morax. Bei Trachom wurden
wohl Besserungen beobachtet, eine Heilung trat jedoch nicht ein. Bei Ble¬
pharitis werden von mehreren Seiten die Erfolge gelobt, die Lidränder
werden mit dem in Protargollösung getränkten Pinsel abgerieben. Ziemlich
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einstimmig ist das Lob betreffs der Resultate der Protargolbehandlung
bei Blennorrhoe des Thränensackes; es werden Lösungen eingespritzt oder
nach Antonelli 50%ige Protargolgelatinesonden, die allmählich zerfliessen,
eingeführt.
Emmert lobt das Protargol bei dem jeder Behandlung unzugänglichen
sogenannten Frühjahrskatarrh.
Endlich wird es als Ersatz des Argentum nitricum beim CREDß’schen
Verfahren gerühmt, aber nicht in 1—2%iger, sondern in 20%iger Lösung
(Engelmanx).
Argyrose der Conjunctiva wurde nach Protargol wiederholt beobachtet:
auch müssen die Kranken aufmerksam gemacht werden, dass es Flecke in
der Wäsche verursache.
Largin ist eine Verbindung des Silbers mit einem in Alkohol lös¬
lichen Zersetzungsproduct der ParanucleinproteYde; ein weisslich-graues
Pulver von geringem specifischen Gewicht, leicht löslich in Glycerin, im
Wasser bis 10,5% nur nach tüchtigem Schütteln. Die wässerige Lösung
reagirt alkalisch. Es enthält ungefähr 11*101% Silber, also mehr als das
Protargol. Vom Auge wird es in Lösungen bis 10% gut vertragen ; Reiz¬
erscheinungen fehlen oder sind gering. Indicirt ist es bei secernirenden
Bindehautentzündungen, Pretori lobt es speciell bei Blennorrhoea neonatorum
(6° 0 ige Lösung lmal täglich durch den Arzt anzuwenden, l%ig stündlich durch
die Angehörigen). Falta blieb bei acuter Blennorrhoe beim Argentum nitricum,
Welander (Almqvist) hat es dabei mit Erfolg angewendet. Gute Resultate
wurden von Falta, Pretori und Welanoer mit Durchspritzungen bei Thränen-
sackblennorrhoe erzielt, Trachom heilte unter Larginbehandlung nicht, bei
Katarrhen und ulcerösen Cornealprocessen wurde kein Vorzug des Largins
vor anderen Mitteln constatirt.
Welander macht darauf aufmerksam, dass das Largin ziemlich lange
mit der Schleimhaut in Berührung bleiben muss, weshalb er grosse Gelatine¬
tabletten mit l%iger Larginlösung unter die Augenlider schiebt, wo sie in
etwa 15 Minuten zergehen.
Ersatzmittel des Jodoforms . Sie sollen antiseptisch wirken und im
Gegensätze zum Jodoform geruchlos sein. Letzteres sind wohl die wenigsten,
z. B. Orthoform, Dermatol, einige haben jedoch nur einen sehr schwachen
wenig bemerkbaren Geruch. Zu nennen sind Sanoform, Orthoform, Nirvanin,
Xeroform, Dermatol, Jodoformin, Jodoformogen, Nosophen, Antinosin, Airol.
Sanoform ist Dijodsalicylsäuremethyläther und entsteht durch Ein¬
wirkung von Jod auf Gaultheriaöl. Es ist ein aus weissen Nadeln bestehen¬
des, völlig geruchloses und geschmackloses Pulver, das sich weder bei Auf¬
bewahrung noch bei Licht zersetzt. Es schmilzt bei 110°C., ist leicht in
Alkohol, sehr leicht in Aether und Vaseline löslich, enthält 62,7% Jod und
ist vollkommen ungiftig. Es ist ein grosser Vortheil, dass es sich auch bei
hohen Wärmegraden (200° C.) nicht zersetzt, so dass Sanoformgaze steri-
lisirt werden kann. Es wird als Pulver oder als 10%ige Vaselinsalbe an¬
gewendet, besonders bei phlyktänulären Processen, mit bestem Erfolge bei
Ulcus corneae (Jacobsohn).
Orthoform ist ein namentlich von Chirurgen und Dermatologen ver¬
wendetes, von Augenärzten nur wenig beachtetes locales Anästheticum. Es
ist p-Amido-m-oxybenzoesäuremethylester, ein feines, weisses, leichtes, ge-
ruch- und geschmackloses, völlig ungiftiges, in Wasser schwer lösliches Pul¬
ver. Auf Schleimhäute und auf Substanzverluste der verschiedensten Gewebe
gebracht, wirkt es schmerzstillend und dauert diese Wirkung viele Stunden,
ja Tage. Am Auge, wo es besonders bei Substanzverlusten der Cornea und
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a;
Conjunctiva in Verwendung kommen kann, dauert die schmerzstillende Wir¬
kung nicht so lange, weil der Lidschlag das Medicament wegschwemmt,
weshalb die Anwendung einer 5—10° 0 igen Salbe dem Einstauben des Pulvers
vorzuziehen ist. Unmittelbar nach der Anwendung des Mittels tritt starkes
Brennen ein, das Jedoch bald einem Gefühl der Erleichterung Platz macht.
Ausser der anästhesirenden entfaltet das Orthoform antiseptische Wirkung.
Neuerdings kommt es als »Orthoform neu« etwas verändert in den
Handel, als ein feineres Pulver, das sich weniger leicht ballt und wesentlich
billiger ist. Es reagirt stark sauer.
Der salzsaure Diäthylglycocoll-p-Amido-o-Oxybenzoesäuremethylester,
Nirvanin genannt, löst sich in Wasser, reagirt neutral; 5°/ 0 ige Lösungen
erzeugen im Auge nach einiger Zeit vollständige Anästhesie, wobei die
Conjunctiva vorübergehend gereizt wird, weshalb es sich für das normale
Auge nicht eignet. Dagegen kann es bei Verletzungen und Geschwüren des
Auges zweckmässig mit Cocain combinirt werden, weil man dadurch das
Auge auf lange Zeit anästhetisch zu erhalten vermag. Mit dem Orthoform
hat es die geringe Giftigkeit gemein.
Das Xeroform (Tribromphenolwismuth) ist ein gelbes, neutrales,
feines, leichtes, lichtbeständiges, unlösliches Pulver, welches, ohne sich zu zer¬
setzen, einer Temperatur von 120° C. unterworfen werden kann, sich also
sterilisiren lässt. Ins Auge gebracht erzeugt es ein kurz dauerndes Brennen.
Es wird mit Erfolg angewendet bei Wunden und Excoriationen, sowie bei
nässenden Ekzemen der Lider, bei ekzematösen Bindehaut- und Hornhaut¬
leidens als Streupulver oder als 5° 0 ige Salbe, bei Hornhautgeschwüren über¬
haupt ; Wichkrkif.wicz staubt es nach Staaroperationen ein, Bock empfiehlt
es beim Frühjahrskatarrh.
Das Dermatol, basisch-gallussaures Wismuth, schwefelgelbes, feines,
luft- und lichtbeständiges, geruch- und geschmackloses unlösliches Pulver,
wurde von Bock speciell bei Flächenwunden der Bindehaut, z. B. nach
Operationen oder Verätzungen empfohlen. Unübertrefflich soll es bei Kalk¬
verätzungen sein.
Das Jodoformin (Jodoformhexamethylamin), weissliches oder schwach¬
gelbliches krystallinisches Pulver, in den gewöhnlichen Lösungsmitteln un¬
löslich, und das Jodoformogen, ein Jodoformeiweisspräparat, gleichfalls ein
gelbliches, sehr feines, im Wasser unlösliches, bei 100° sterilisirbares
Pulver, die beide geruchlos sein sollen, besitzen entschiedenen, wenn auch
weniger intensiven Jodoformgeruch, wurden von Hook am Auge bei Ver¬
letzungen und Cornealgeschwüren geprüft und dem Jodoform gleichwerthig
gefunden.
Ebenso verhält es sich mit dem Nosophen (Tetrajodphenolphtalein),
einem lichtbraunen, im Wasser unlöslichen Pulver ohne Geschmack, aber
trotz der gegentheiligen Versicherungen nicht ohne Geruch, wenn auch
in dieser Beziehung dem Jodoform entschieden vorzuziehen. In der Ver¬
wendbarkeit stellen sich wohl beide gleich. Das in Wasser lösliche
Natronsalz des Nosophens (Antinosin) kann zu Einträufelungen verwen¬
det werden.
Airol ist basisch-gallussaures Wismuthoxyjodit. Grünlich-graues, fast
geruch- und geschmackloses ungiftiges Pulver. Es erregt, in den Bindehaut¬
sack gebracht, ein manchmal ziemlich heftiges Brennen, weshalb es anzu-
rathen ist, vor der Application Cocain einzuträufeln. Seine Hauptwirkung
entfaltet es bei ulcerösen Processen der Hornhaut, wo es in Pulverform
oder als 5—10%ige Salbe verwendet wird. Es, liegen zahlreiche lobende
Berichte vor (Boxivknto, Gallkmaerts, Whkrry, Valenti, Aurano, Fischer,
Bourgeois). Auch nach den Erfahrungen des Referenten scheint das Airol
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unter den Jodoformersatzmitteln den ersten Platz einzunehmen. Sehr zu
loben ist auch die Airolpaste, besonders in der Modification mit Liniment,
exsiccans Pick (Airol. 2,0, Boli alb. Lin. exsicc. Pick aa. 4,0), namentlich auch
bei nässenden Gesichtsekzemen.
Das Ichthyol hat bei Blepharitiden, ekzematösen Bindehautentzün¬
dungen und bei Trachom Verwendung gefunden. Zumeist wurde die von
Sehlen angegebene Salbe benützt. Ammon, sulfoichthyol. 0,2—0,5 — 1,0, Amyli
tritici, Oxyd. Zinc. aa. 10,0, Vaselin. 25 nach Belieben modificirt; oder Ich¬
thyolsolutionen. Ammon, sulfoichth. 50, Aq. dest. 40, Glycerini 10 (Eberson).
oder Ichthyol, Aq. dest. aa. 50 (resp. 30 zu 70) [ Ja« ovides]. Die Erfolge bei
Blepharitis sind zumeist sehr gute, bei der Trachombehandlung mit obiger
Lösung rühmt Eberson namentlich die Schmerzlosigkeit gegenüber den
Causticis, wenn sie auch nicht mehr leistet als diese.
Das Ichthalbin (Ichtbyoleiweiss) hat Wolffberg auf Sack’s Erfahrungen
hin als gefässconstringirendes Mittel intern (3mal tägl. 0*5 Grm.) bei Glaukom
und Iritis versucht.
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Original fro-m
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f><)
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des Auges. 1898, I, pag. 18. Rruss.
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Original fro-m
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Bad« Ueber den Einfluss der Bäder auf den Kreislauf und das
Blut sind auf dem ersten österreichischen Balneologencongresse (in Wien
1899) Sammelreferate erstattet worden, und zwar von Kisch über die warmen
und Mineralbäder, von Strasser über die kalten Bäder und die hydriatischen
Proceduren. Aus dem erstgenannten Referate über die wärmesteigernden
Bäder, die Indifferenzzone von 31—35° C. übersteigend, entnehmen wir Folgen¬
des: Dass warme Bäder die Blutcirculation beeinflussen und eine Verände¬
rung des Pulses bewirken, wusste schon Galenus. In seinen Büchern über
den Puls heisst es: Balneae calidae, dum sint moderatae, pulsus creant
magnos, celeres, crebros et paulo vehementiores. Ueber diese grobsinnliche
Wahrnehmung ist die Erkenntniss durch 16 Jahrhunderte nicht wesentlich
hinausgekommen und erst vor wenigen Decennien hat die wissenschaftliche
Erforschung des bedeutenden Einflusses begonnen, welchen die Bäder mit
Temperaturen über dem thermischen Indifferenzpunkte auf Herz- und Ge-
fässthätigkeit, sowie auf Blutbeschaffenheit üben. Nach Kisch waren es
besonders zwei Arbeiten, welche bahnbrechend auf diesem Gebiete wirkten,
nämlich 0. Naumann s Untersuchungen über die physiologischen Wirkungen
der Hautreizmittel (Prager med. Vierteljahrschr., 1863) und M. Schülers
Experimentalstudien über die Veränderung der Gehirngefässe unter dem Ein¬
flüsse äusserer Wärmeapplication (Deutsches Arch. f. klin. Med., 1874). Nau¬
mann wies nach, dass starke Hautreize, auch durch Bäder, die Herz- und
Gefässthätigkeit herabsetzen, die Herzcontraction schwächen, die Gefässe
erweitern, den Blutlauf verlangsamen, relativ schwache Hautreize hingegen
die Herz- und Gefässthätigkeit erhöhen, die Herzcontractionen verstärken,
die Gefässe verengen, den Blutlauf beschleunigen, und dass diese Verände¬
rungen auch längere Zeit nach Beendigung jener Hautreize anhalten. Schüler' s
Untersuchungen legten dar, dass durch Einwirkung verschieden temperirter
und mechanisch differenter Badeformen die Centren und reguiatorischen
Nerven der Herzbewegung beeinflusst werden, und zwar auf reflectorischem
Wege infolge der thermischen und mechanischen Erregung der Hautnerven
derart, dass die Blutmasse im Körper eine sehr verschiedene Vertheilung
erfährt, Blutdruck, Herz- und Respirationsbewegungen ganz bestimmte Modi-
ficationen erleiden. So bewirke das warme Vollbad stets eine kräftige Ver¬
engerung der Piagefässe im Gehirne und folge dann nach längerer Dauer
dieses Bades eine kurze Erweiterung.
Diesen Versuchen reihte sich eine grosse Zahl experimenteller Studien
über die physiologische Wirkung differenter Badetemperaturen auf das Herz,
den Blutdruck und die Blutvertheilung an. Die wichtigeren Ergebnisse der¬
selben sind folgende : Der erste Effect des wärmesteigernden Bades über
35° C. ist nach allen Beobachtern eine Erweiterung der Hautgefässe,
welche auch nach Beendigung des Bades anhält, dabei werden die inneren
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Bad.
Organe blutleerer. Im heissen Bade von 4<> —f>0° C. erfolgt jedoch nach
Baelz zuerst eine Contraction der Hautgefässe, die aber nur kurze Zeit
andauert und einer Erschlaffung der Gefässe mit Röthung der Haut Platz
macht. Deutlich ist weiters die Beeinflussung der Herzaction. Im wärme¬
steigernden Vollbade fand Kernig eine Frequenzzunahme des Pulses, welche
parallel mit der Erhöhung der Körpertemperatur geht; der Puls wird im
warmen Bade voller und grösser. Baelz, Topp, Bornstein beobachteten nach
heissen Wasserbädern über 40° C. eine Steigerung der Pulsschläge bis 120
und mehr in der Minute. Diese gesteigerte Pulsfrequenz erfährt nach den
meisten Beobachtern kurze Zeit nach dem Bade eine compensatorische Her¬
abminderung. Die Pulsbeschaffenheit lässt sphygmographisch die durch
wärmesteigernde Bäder bewirkte Arteriendilatation nachweisen. Die von
Kisch nach dem wärmesteigernden Wasserbade von 3'.»° C. aufgenommenen
Pulscurcen sind ausgezeichnet durch die hohen und steilen aufsteigenden
Curvenschenkel, durch ein Grösserwerden und Tieferrücken der Rückstoss-
elevation; bei höheren Wärmegraden des Badewassers durch Annäherung
der ganzen Pulsform an den Dicrotismus. Dieser Befund wird von Baelz
für heisse Bäder bestätigt. Bezüglich des Blutdruckes fand Jakinow eine
Verminderung derselben in Vollbädern von 28—32° R.; ebenso ergaben
Högerstedt s Versuche ausnahmslos ein Sinken des Blutdruckes während
des Vollbades von 30° R., eine Stunde nach dem Bade war zur Ausgleichung
des Blutdruckes hinreichend. Colombo wies nach sehr lange prolongirten
Bädern bedeutendes Sinken des Blutdruckes nach, es kam sogar zu Ohn¬
machtsanfällen. Tschlenoff fand, dass 38—40° C. warme Bäder den Blutdruck
herabsetzen, zuweilen aber auch unverändert lassen. Schweinburg und Pollack
constatirten diese Herabsetzung des Blutdruckes auch nach warmen Sitzbädern
von 32 —30° R., Wyschegorodski nach warmen Douchen von 30—38° R.
Diesen Resultaten in Bezug auf den Blutdruck widersprechen nur wenige
experimentelle Ergebnisse, nämlich von Grefberg, welcher an curarisirten
Hunden im warmen Bade von 40° C. Steigen des Blutdruckes beobachtete,
Zadek, Schulkowsky und Lehmann, welche eine ansehnliche Blutdrucksteige¬
rung in heissen Bädern nach wiesen. Heitler fand, dass bei Temperaturen
zwischen 32 und 38° R. (Localdampfbad) der Tonus des Herzmuskels erhöht
wird, die grosse und kleine Herzdämpfung an Umfang abnehmen.
Jüngsten Datums und noch nicht abgeschlossen sind die Beobachtungen
über den Einfluss der wärmesteigernden Bäder auf die qualitative Ver¬
änderung des Blutes und seiner zelligen Elemente. Grawitz hat im
Schwitzbade allmählich zunehmende Concentration des Blutes nachgewiesen;
Tarchanoff und Sassetzky als Wirkung des russischen Dampfbades Zu¬
nahme des Hämoglobins, der Erythrocyten und des specifischen Gewichtes
des Blutes. Ebenso fand Hammerschlag nach Dampfbädern Zunahme des
specifischen Gewichtes des Blutes mit Steigerung des Hämoglobingehaltes.
Friedländer sah nach Wärmeeinwirkungen Vermehrung der rothen und
weissen Blutkörperchen, jedoch stärkere Vermehrung der Leukocyten als
der Erythrocyten, Erhöhung des specifischen Gewichtes des Blutes; Wick
nach Bädern von 3P—40° C. den Tag über anhaltende Vergrösserung des
Hämoglobingehaltes des Blutes
Dass die Einwirkung der Mineralbäder auf Herzthätigkeit und Blut-
circulation eine weitaus grössere ist als die der gewöhnlichen Warmwasser¬
bäder, liegt nach Kisch in folgenden drei Momenten: In dem durch den
Gas- und Salzgehalt der Mineralbäder gesetzten chemischen Hautreize,
welcher einen relativ schwachen, aber sich summirenden sensiblen Reiz dar¬
stellt, durch welchen die gefässerweiternde Wirkung der warmen Bäder ge¬
steigert und reflectorisch die die Herzbewegung regulirenden Centren dauernd
angeregt werden. Ein zweites ist, dass die Kohlensäure der Mineralbäder
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eine chemische Erregung der Wärmenerven bewirkt, wodurch eine höhere
Wärmeempfindung des Badenden hervorgerufen wird. Drittens findet durch
die baineotherapeutische Methodik, durch die systematisch längere Zeit sich
wiederholenden Bäder eine Uebung der die Functionen der Herzbewegung be¬
einflussenden Nerven, wie des Herzmuskels, eine gymnastische Anregung ihrer
Kraftäusserungen statt. Von den kohlensäurereichen Säuerlingsbädern, Gas*
bädern und Soolbädern haben sämmtliche Beobachter (Kisch, Basch und
Dif.tl, Jacob, Röhhig, Stifler) eine Abnahme der Pulsfrequenz constatirt
und ebenso übereinstimmend (C. Lehmann, Schott, Stifler, Jacob) eine
Steigerung des Blutdruckes. Der Gesammteffect des kohlensäurereichen Bades
geht dahin, dass dasselbe auch ohne hohe thermische Reize eine sofortige
und nachhaltende arterielle Fluxion zur Haut bewirkt, die peripheren Ge-
fässe erweitert, die inneren Gefässe verengt, den Blutdruck steigert, den
Puls verlangsamt, voller und kräftiger gestaltet, das Volumen jeder einzelnen
Herzsystole erhöht, den Tonus des Herzmuskels stärkt und die Herzarbeit
erleichtert.
Als einer Wirkung, welche mit der durch die warmen Bäder gesetzten
Veränderung des Blutdruckes und der Stromgeschwindigkeit des Blutes
mehrfach im Zusammenhänge steht, ist die Beeinflussung der Diurese durch
Anwendung von warmen Bädern zu erwähnen, wie dies zuerst Koloman
Müller s Versuche (Arch. f. experiment. Path. und Pharmak., 1873) dargethan
und dann andere Beobachter (Berthold und Seiche, Wick) betreffs der
warmen Bäder von 37—38° C. gefunden haben, dass diese wärmesteigern¬
den Bäder ein Sinken der Diurese bewirken, und dass die Harnmenge mit
zunehmender Temperatur des Bades abnimmt, so dass bei Application der
höchsten Wärmegrade in Dampfbädern und Heissluftbädern die Harnaus¬
scheidung ihren Tiefpunkt erreicht. Dieses Verhalten der Diurese findet
aber bei den Mineralbädern eine wesentliche Aenderung, welche wohl darauf
zurückzuführen ist, dass in diesen Bändern, auch ohne dass sie sich unter
dem Indifferenzpunkte der Temperatur befinden, eine Steigerung des Blut¬
druckes zustande kommt. So fand Kisch Vermehrung der 24stiindigen Harn¬
menge nach dem kohlensauren Gasbade, Keller nach dem 3° 0 igen Soolbade
von 35° C., Dronke nach den Schwefelbädern von 33° C.
In dem Berichte Strassers über die Einwirkung der Hydrotherapie
auf Herz und Blutcirculation hebt derselbe vorerst die locale Einwirkung
der Kälte auf die peripheren Gefässe hervor, die an der Applicationsstelle
stattfindende Contraction der Gefässe als Effect des Kältereizes auf die
Vasoconstrictoren, dann die Consequenz der localen Contraction, Verdrän¬
gung des Blutes, locale Anämie mit Abkühlung. Hält die Kältewirkung local
weiter an, so bleibt auch die Contraction bestehen und wird gesteigert.
Wird der Kältereiz excessiv gesteigert und dauert er lange an, so kann
es durch übermässigen Reiz dazu kommen, dass die Contraction der Gefässe
einer Lähmung Platz giebt. Wird der Kältereiz nicht erneuert und nicht
gesteigert, so kommt es local zu einer Reactionsbewegung, indem eine Dila¬
tation der Gefässe mit starker Fluxion und Hyperämie auftritt, welche aber
nicht als passive Hyperämie zu betrachten ist, sondern durch directe Er¬
regungswirkung der die Gefässe zur Erweiterung bringenden nervös-muscu-
lären Elemente. Hervorgehoben wird weiter, dass durch Kälteeinwirkung
ermöglicht wird, von einer central gelegenen Stelle aus collateral liegende
Gefässbezirke zu beeinflussen und ihre Circulation und ihren Blutbestand
zu verändern. Locale Kälte auf einen Gefässstamm und Nervenstamm kann
peripher gelegene Theile anämisiren. Die reflectorischen Einflüsse auf Ver¬
änderungen im Caliber der Blutgefässe sind mannigfach; praktisch und
theoretisch von hervorragendster Bedeutung, dass die Abdominalgefässe
durch thermische Reize von der Haut des ganzen Stammes aus in eminenter
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Bad.
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Weise zu beeinflussen sind. So findet man nach einer Kälteapplication auf
den Stamm und auf die Bauchhaut eine gleichsinnig und nahezu gleichzeitig
auftretende Contraction der Gefässe im Abdomen; es zeigt sich dies durch
Temperaturmessungen, plethysmographische Versuche etc. Ganz besonders
wird betont, dass nicht nur der Primäreffect sich reflectorisch fortpflanzt,
sondern dass in den reflectorisch erregten Gefässbezirken nach Kältereizen
dieselbe Reactionsbewegung vor sich geht wie in den direct betroffenen
Hautstellen. Bemerkenswerth sind gewisse, vom Centralnervensystem direct
auslösbare Aenderungen der Circulation; von der Wirbelsäule aus, insbe¬
sondere von der Gegend des Lendenmarkes kann durch längere Kälteappli¬
cation Hyperämie und Erwärmung der Füsse und Fluxion gegen die Becken¬
organe bewirkt werden. Durch die Wirkung der Kälte (und Wärme) auf die
Blutvertheilung ist es naheliegend, anzunehmen, dass bei Verdrängung des
Blutes aus einem grösseren Gefässgebiete die collaterale Aenderung im Sinne
einer Fluxion sich in selbst entfernt gelegenen Körperprovinzen documen-
tiren, während wieder Dilatationen eines grossen Gefässbezirkes eine Anämi-
sirung anderer Gebiete nach sich ziehen muss. Kurze Kälteanwendungen,
sobald sie von guter Reaction gefolgt sind, können ebenso wie langdauernde
Wärme revulsiv. d. h. ableitend von anderen Körpergebieten wirken. Diese
Thatsache. sowie die durch Kälte hervorgerufene plötzliche Ueberfluthung
anderer Körperprovinzen — die Ruckstauungscongestion — sind für die
Hydrotherapie in praktischer Hinsicht hochwichtige Dinge. — Bei Kälteein¬
wirkung auf den ganzen Körper ist der augenblickliche Effect auf die
peripheren Gefässe derselbe wie bei local angewendeter Kälte, nur wird
durch die grössere Reizfläche die Summe der Reizeffecte grösser sein und
an der Reaction das ganze Blutgefässsystem theilnehmen. Die Rückwirkungen
der allgemeinen Kälteapplicationen (kalte Bäder. Douchen. Abreibungen etc.)
äussern sich vorerst in dem Blutdrucke, welcher eine Steigerung erfährt,
wie dies Winternitz, Glax u. a. nachgewiesen haben; ebenso zeigen die
Pulscurven von der Tonification der Gefässmusculatur nach Kälteeinwirkung.
Diese Aenderung im Blutdrucke und in der Spannung der Gefässe gehen
Hand in Hand mit Veränderungen der Herzaction. Die Regel ist, dass all¬
gemeine Kälteproceduren die Pulszahl, also die Zahl der Herzcontractionen
herabsetzen, durch sehr starke Douchen kann sogar eine sehr bedeutende
Abnahme der Zahl der Contractionen bewirkt werden, nebst Abnahme der
Herzkraft. Die Herzaction lässt sich auch vom Centralnervensystem durch
Kälteapplication auf die Nackenwirbelsäule beeinflussen, indem dadurch nach
kurzdauernder Beschleunigung eine bedeutende Verlangsamung der Pulszahl
bewirkt wird ; dasselbe bringt Kälte, local auf das Herz applicirt, zustande.
Von hydrotherapeutischen Proceduren bringen feuchte Einpackungen Herab¬
setzung des Blutdruckes zustande, wobei aber auch die Pulszahl auffallend
fällt und herabgesetzt bleibt; bei der trockenen Einpackung findet man
nebst Beschleunigung der Herzaction Blutdruckverminderung und Dilatation
der peripheren Gefässe.
Bezüglich des Einflusses der Hydrotherapie auf die Blutbeschaffen¬
heit haben Winternitz und Rovighi constatirt, dass nach Kälteeinwirkungen
auf die Peripherie (kalten Bädern, Douchen) die Zahl der Leukocyten sich
vermehrt erweist. Grayvitz hat Zunahme der Blutdichte nach allgemeinen
und local auf das Abdomen gerichteten Kälteapplicationen (und Abnahme
der Blutdichte unter Wärmewirkung) gefunden. Bei Abreibungen mit nassen
kalten Laken, Tauchbädern, Halbbädern, kühlen und kalten Douchen, wechsel¬
warmen Proceduren und nach kalten Vollbädern, wenn die kühlen Proce¬
duren von guter Reaction gefolgt waren, zeigte sich nach Winternitz eine
Vermehrung der rothen Blutkörperchen, parallel war eine Zunahme der
Leukocytenzahl. des Hämoglobingehaltes und der Blutdichte. Das Maximum
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Bad«
der Zunahme der Erythrocyten betrug 1,860.000, die Zahl der Leukocyten
stieg im Maximum auf das Dreifache, die grösste Zunahme des Blutfarb¬
stoffes betrug 14%. Die Dauer der Wirkung ist sehr verschieden, manch¬
mal hält sie noch 2 Stunden und länger an. Bezüglich der Alkalinität des
Blutes haben die Versuche von Strasser und Kuthy eine Steigerung der¬
selben nach kälteerregenden Proceduren ergeben (bei heissen Proceduren eine
Säuerung, d. i. Abnahme des Alkalescenzgrades), was dahin zu deuten, dass bei
kalten Bädern die Oxydation grösser als der Zerfall ist. Endlich wird auch
der Möglichkeit einer Destruction von rothen Blutzellen unter Einwirkung
von Kälte erwähnt, nämlich bei gewissen Formen von schwerer Chlorose
(Murri) und bei der paroxysmalen Hämoglobinurie (Chvostek u. a.), und
zum Schlüsse auch der Einwirkung der Kälte auf die Wanderungen der
Leukocyten, insbesondere bei Entzündungsprocessen, gedacht. Während Wärme
die wand- und randständige Lagerung, sowie die Auswanderung dieser Zellen
begünstigt, hindert Kälte diese Bewegungsvorgänge.
Ueber den Einfluss kalter und warmer Bäder auf die Diurese
berichtet Glax: Die Versuchsresultate Kolom. Müller’s, dass thermische
Reize auf die Haut applicirt einen Einfluss auf die Diurese üben, und zwar
dass Kälte eine Steigerung, Wärme eine Verminderung der Harnausschei¬
dung hervorruft, sind in neuester Zeit durch Lambert bestätigt worden,
welcher fand, dass eine genügend lang fortgesetzte Abkühlung der Haut
stets eine starke Steigerung der Diurese hervorruft, und zwar eine primäre
und eine secundäre. Die anfängliche Steigerung entsteht infolge Verenge¬
rung der Hautgefässe, wobei der arterielle Blutdruck steigt und die Nieren-
gefässe sich erweitern; die secundäre Steigerung beruht auf einer rapiden
Abnahme des Tonus der Nierengefässe, möglicherweise auf einer Anregung
der secretorischen Nerven. Mit diesen Versuchsergebnissen steht scheinbar
die Beobachtung von Delezexe im Widerspruche, dass die Anwendung von
Eisbeutel, Eiscompressen und Güssen auf die Haut geschorener Hunde ein
Sinken der Diurese hervorriefen; indes mag der Grund in den zu inten¬
siven Reizen gelegen sein. Von kalten Bädern sahen Homolle, L. Lehmaxx,
Merbach, Röhrig u. a. eine Zunahme der Harnausscheidung. Mit der reich¬
licheren Harnausscheidung sinkt die Acidität (Strasser und Kuthy), während
gleichzeitig der urotoxische Coefficient des Urins steigt (Ausset, Roque und
Weile), d. h. die unter dem schädigenden Einflüsse der Bakterien entstandenen
Zerfallsproducte des Protoplasmas werden bedeutend rascher eliminirt.
Mit zunehmender Temperatur des Bades sinkt die Harnmenge (Wick)
und namentlich betreffs der Schwitzbäder haben Frey und Heiligexthal bei
gleichbleibender Flüssigkeitsaufnahme eine bedeutende Verminderung der
Diurese gefunden. Trotzdem können wir, wie Glax betont, das Schwitzbad
in manchen Fällen als Diureticum benutzen, und zwar dann, wenn bei kar¬
dialem oder renalem Hydrops die Gewebe mit Flüssigkeit überfüllt sind.
Gelingt es hier, durch reichliche Diaphorese Herz und Nieren zu entlasten,
so hebt sich die Harnausscheidung. Ob die diuretische Wirkung kühler
Bäder durch einen höheren Gehalt des Wassers an Kohlensäure vermehrt
oder herabgesetzt wird, ist noch nicht genügend festgestellt. Nachdem je¬
doch die günstigen Wirkungen des Kohlensäurebades auf die Accommodation
des Herzens und der Gefässe kranker Individuen unzweifelhaft festgestellt
sind, so dürfen wir immerhin annehmen, dass die Kohlensäure im Bade
wenigstens mittelbar die Diurese beeinflusst. Bezüglich der Wirkung koch¬
salzhaltiger Bäder auf die Diurese sind die Aussprüche der verschiedenen
Forscher widersprechend. Nach Lehmaxx und Robix sollen Salzbäder von
geringem Salzgehalte die Diurese herabsetzen, während Keller von dem
3°, 0 igen Soolbade von 35° C. und 35 Minuten Dauer eine deutlich diuretische
Wirkung beobachtete.
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Bad.
;>t>
Bemerkenswerth ist, dass die Luftwärme eine ähnliche Wirkung auf
die Diurese übt wie die Temperatur des Wassers. Hohe Lufttemperaturen
steigern die Diaphorese und setzen die Harnausscheidung herab, während
niedere Temperaturen die Diurese erhöhen. Aber auch die Luftfeuchtigkeit
übt einen ebenso grossen Einfluss auf die Diurese wie die Luftwärme. Frey
hat zuerst gezeigt, dass ein relativ hoher Feuchtigkeitsgehalt der Atmo¬
sphäre die Harnausscheidung erhöht und ebenso haben Glax und Tripold
ein mit der relativen Luftfeuchtigkeit proportional ansteigendes Zunehmen
der Harnraenge constatirt. Nicht sichergestellt scheint es, dass der hohe
Luftdruck an der See einen diuretischen Einfluss ausübt.
Die Wirkung kohlensäurehaltiger Bäder auf die Circulation
hat Hexsex durch Versuche mit künstlichen kohlensäurehaltigen Bädern auf¬
zuklären getrachtet. Er hat dazu Bäder von 28—24° R. und von folgender
Zubereitung benützt: Vio — 1 Kgrm. Natron bicarb. im Badewasser gelöst
und dann die gleiche Menge 30%ige HCl zugesetzt, indem die Flasche
unterWasser umgekehrt werde, so dass die specifisch schwere HCl lang¬
sam ausfliessen konnte. Die Wirkung dieser künstlichen kohlensäurehaltigen
Bäder auf das Herz und die Blutcirculation hat Hexsex an 04 Patienten
erprobt, die theils an Herzinsufficienz bei Klappenfehlern und Erkrankungen
an Myokarditis, theils an leichter Insufficienz des Herzmuskels, geringen
Dilatationen, geringer Herzschwäche litten. Die Bäder bewirkten fast immer
eine Blutdrucksteigerung, welche häufig nur sehr gering war, wenige Milli¬
meter betrug, in anderen Fällen sich auf 20—30 Mm. Hg belief (die Unter¬
suchungen wurden mit dem Sphygmomanometer von Riva-Rocci vorge¬
nommen), zuweilen nur im Bade, manchmal aber noch bis eine Stunde nach
Verlassen des Bades nachweisbar war. Nur in 8 Fällen unter 55 Bädern
fand ein Sinken des Blutdruckes statt und in 11 Fällen, in denen Verfasser
annimmt, dass die Anwendung und Zubereitung des Bades nicht der Lei¬
stungsfähigkeit des Herzens in dem betreffenden Falle entsprach, war keine
ausgesprochene Reaction vorhanden. Der Puls verhielt sich in diesen Bädern
verschieden, zumeist war die Pulsfrequenz herabgesetzt, doch trat auch Be¬
schleunigung auf oder die Frequenz blieb unverändert. Verschiedenemale
konnte Hexsex eine Verkleinerung der Herzdämpfung (durch bessere Ent¬
leerung des Herzens) nachweisen. Besonders deutlich trat die diuretische
Wirkung der kohlensäurehaltigen Bäder hervor, indem z. B. in einem Falle
die 3stündige Harnmenge von 100 Ccm. mit 1025 spec. Gewicht vor dem
Bade auf 400 Ccm. mit 1012 spec. Gewicht nach dem Bade anstieg.
Die wiederholt erörterte Frage, ob die gute Wirkung kohlensäure-
haltiger Bäder bei der Behandlung Herzkranker auf Verminderung der Herz¬
arbeit und Schonung des Herzens oder auf Anregung und Vermehrung der
Herzthätigkeit, gleichsam Uebungstherapie, zu beziehen sei, möchte Hensen
in letzterem Sinne entscheiden, und zwar werde die Uebung des Herzmuskels,
die Vermehrung der Herzarbeit dadurch bewirkt, dass mit der reactiven
Erweiterung der Hautgefässe und diese Blutdruck erniedrigende Wirkung
zugleich compensirend, im übrigen arteriellen Stromgebiete, besonders im
Splanchnicusgebiete durch reflectorische Contraction der betreffenden Ge-
fässe die Widerstände erhöht, die Arterien besser gefüllt werden und die
allgemeine Circulation gefördert wird. Im Hinblick auf die Blutsteigerung
werden die kohlensäurehaltigen Bäder contraindicirt sein in den Fällen, wo
Apoplexien und sonstige Blutungen zu befürchten sind, ferner bei Aneurysmen
und dann wegen der erhöhten Ansprüche, welche diese Bäder an die Lei¬
stungsfähigkeit des Herzens stellen, in allen Fällen, wo die Herzkraft eine
zu geringe ist, um diesen Anforderungen zu entsprechen.
Ueber die physiologische Wirkung und therapeutische Verwerthung
der Moorbäder liegen mehrere Arbeiten vor:
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UNIVERSITY 0F MICHIGAN
Bad.
r>7
Herm. Schmidt hat die Angaben von Kisch betreffs der Einwirkung
der Moorbäder, dass die Ausscheidung des Harnstoffes durch das Moorbad
vermehrt, die Ausscheidung der phosphorsauren Salze vermindert wird, einer
genauen Nachprüfung an zwei gesunden jungen Individuen unterzogen. Den
Stickstoffgehalt des Harnes bestimmte er nach Kjf.ldahl-Argutinsky, die
Phosphorsäure nach Malot-Mercier, die Acidität nach Freund-Lieblein. Beide
Versuchsindividuen, welche durch Verabreichung einer genau zugetheilten,
stets gleichbleibenden Tageskost annähernd ins Stickstoffgleichgewicht ge¬
bracht wurden und darauf ein Moorbad von 32—35° R. mittlerer Dichte in
der Dauer von 40 Minuten erhielten, erfuhren eine geringe Körpergewichts¬
abnahme, wozu wohl Wasserverluste infolge der durch die Moorbäder ange¬
regten Hautperspiration beigetragen haben. Nach den beiden Moorbädern
mit 32° R. zeigt ferner die N-Ausscheidung (Harn) eine gewisse Tendenz zu
wachsen. Daraus auf eine gesteigerte Eiweisszersetzung zu schliessen, scheint
Schmidt nicht ohneweiters gerechtfertigt. Zunächst müsse man doch an (in¬
folge vasomotorischer Factoren) geänderte Ausscheidungsbedingungen denken.
Jedenfalls liege hierin nichts speciell Charakteristisches. Durch das sehr
heisse Moorbad von 35° R. ist bei der Versuchsperson die ganze Harnaus¬
scheidung stark in Unordnung gerathen, so dass daraus keine Schlüsse zu
ziehen sind. Nach Massgabe eines Versuches wäre die Acidität des Harnes
unmittelbar nach dem Bade etwas geringer, wobei daran erinnert wird,
dass jedes warme Bad auch noch stärkere Aciditätsschwankungen im gleichen
Sinne bewirkt. Bei den Beobachtungen, die Schmidt während der Bäder
über Puls, Respiration und Körpertemperatur machte, fand er die bekannten
Angaben von Kisch bestätigt, er beobachtete im Bade die Pulsfrequenz um
10—25 Schläge vermehrt, die Zahl der Respirationen um 6—10 in der Minute
zunehmend, die Temperatur in der Achselhöhle um \/ 2 bis 3° C. ansteigend.
Bornstein fand bei Ganzeinpackung des Rumpfes und der Extremitäten
in Moor und Fango an sich selbst, nachdem er sich ins Stickstoffgleichgewicht
gesetzt hatte, dass der Harn unter Einwirkung von Moor und Fango
höhere Stickstoff zahlen aufweist, und dass diesbezüglich diese Bäder
infolge ihrer mechanischen und zum Theil chemischen Effecte von grösserem
Einflüsse auf den Stoffwechsel sind als Wasserbäder von gleicher Temperatur.
Die Bädertherapie der Arteriosklerose erörtert A. Löbel und
befürwortet den methodischen Bädergebrauch; man möge nicht daran An-
stoss nehmen, dass mit den Bädern eine geringe und rasch vorübergehende
Blutdrucksteigerung verbunden ist. Speciell empfiehlt er aber im Gegen¬
sätze zu anderen Autoren bei Arteriosklerose die Moorbäder, denen er
eine blutdrucksteigernde Potenz abspricht. Er räth die Moorbäder beson¬
ders bei der Arteriosklerose von Personen mittleren Alters mit Compli-
cationen seitens des Sexualtractes, bei arteriosklerotischen Rheumatikern
und Anämischen, welche im kohlensäurehaltigen Bade Aufregungszuständen
unterliegen, und bei Nephritikern dieser Erkrankungsform mit häufigem
Vomitus, wenn die Mineralbäder deren Harntrieb vermehren. Beim Gebrauche
der Moorbäder in den angegebenen Fällen hielt Löbel darauf, dass sie nur
jeden zweiten Tag benutzt werden und dass die Temperatur des Moorbades
sich in der Indifferenzzone bewegte.
Die Indicationen der Moorbäder bei den verschiedenen Krank¬
heitsprocessen, welche mit typischen oder atypischen Gebärmutterblutungen
einhergehen, giebt Fellner folgendermassen an. Die Moorbäder sind indi-
cirt: 1. Bei Bluterkrankungen. Anämie, Chlorose, Hämophilie, Scorbut, Pur¬
pura haemorrhagica. 2. Erkrankungen des Uterus und seiner Adnexe: Sub-
involutio uteri nach Abortus, früh- und rechtzeitigen Geburten, Metritis
chronica, wenn mit der Vergrösserung des Uterus Erschlaffung desselben
und Succulenz seiner Gewebe einhergeht und auch andere Stasen der Unter-
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;>8
Bad. — Bienengift.
leibsorgane vorhanden sind. :J. Fibromyome des Uterus, wenn dieselben
klein oder mittelgross sind und nicht rasch wachsen, mit profuser Menstrua¬
tion einhergehen. 4. Chronische Entzündungen der Uterusadnexe. 5. Retro-
versio und Retroflexio uteri, nachdem vorher die Aufrichtung und Fixirung
des Organes mittels eines Pessariums vorgenommen worden war. Die Moor¬
bäder dürfen bei Uterinalblutungen nur mit niedrigen Temperaturen, höch¬
stens 35—36° C., mit geringer Consistenz, 100—125 Kilogrm. Moor und
von kurzer Dauer, höchstens 15—20 Minuten, zur Anwendung kommen.
Contraindicirt ist die Anwendung der Moorbäder bei jenen Uterinal-
blutungen, welche indicirt sind durch Carcinom, Sarkom, Tuberkulose des
Uterus und der Tuben, fibröse Polypen, Endometritis chronica hypertrophica.
Literatur: Veröffentlichungen des Centralverbandes der Baineologen Oesterreichs.
Wien 1 ( J00: E. H. Ki*< h, Feber den Einfluss der Balneotherapie auf den Kreislauf und das
Blut. — Alois Stbasseb, Die Wirkung der Hydrotherapie auf Kreislauf und Blut. — Glax,
l eber Diurese nach baineotherapeutischen Massnahmen. Veröffentlichungen der Hcff.i.and-
schen Gesellsch. in Berlin. Berlin 1899. — Mensen, Feber die Wirkung kohlensäurehaltiger
Bäder auf die Circulation. Deutsche med. Wochenschr. 1899, Nr. 35. — Hkkm. Schmidt, Feber
die physiologische Wirkung und therapeutische Verwerthung der Moorbäder. Therapie der
Gegenwart. Juliheft 1899. — Bornstein, l eben deu Einfluss von Moor und Fango auf den
Stoffwechsel. Veröffentlichungen der HrFELAND’schen Gesellsch. Berlin 1899. — Fellner.
Ueber die Anwendung von Moorbädern bei Uterinalblutungen. Ebenda. Kisch.
Hecquerelstrahlen, s. Röntgenstrahlen.
Bienengift* Nach den neuesten Untersuchungen Lange s l ) giebt es
sowohl angeborene als erworbene Immunität gegen Bienengift, doch
ist erstere seltener als letztere und selbst weniger häufig als eine ange¬
borene Ueberempfindlichkeit gegen Bienenstiche.
Der normale Verlauf des Bienenstichs lässt drei verschiedene Stadien
unterscheiden. Das erste oder progressive Stadium dauert vom Momente
des Stiches an 1 2 —2 Stunden und beginnt mit heftigem brennenden Schmerz
und einer kleinen cutanen Blutung um den an der Stichstelle zurückbleiben¬
den, automatisch fortarbeitenden Stachel; dann bilden sich schon nach einer
Minute kleinere, miliare Efflorescenzen, durch deren Confluenz eine grosse,
blassweisse Quaddel entsteht, um welche ein ringförmiger Hof kleinfleckiger
Röthung sich bildet, und die nach 10 Minuten kreuzergross wird und in
20 Minuten die Grösse eines Thalers erreicht. In der Quaddel kommt es
nach Abklingen des Schmerzes zu starkem Juckgefühl, auch treten, so lange
der Stachel noch automatische Bewegungen macht, blitzartig Schmerzempfin¬
dungen auf. Das erste Stadium dauert bis zur Akme der Schwellung der
benachbarten Haut, woran zunächst ein 1 — l 1 3 Tage dauerndes statio¬
näres Stadium, in welchem es zur Bildung eines kleinen, derben Knötchens
an der Stichstelle kommt, und an dieses das regressive Stadium sich
anreiht, in welchem zuerst das gebildete Knötchen durch dunkelrothe Färbung
und mässige Prominenz noch deutlicher hervortritt, dann aber unter gleich¬
zeitiger Abnahme der Schwellung allmählich undeutlicher wird und ver¬
schwindet, bis nach Abschilferung der Oberhaut der normale Zustand in
10—14 Tagen sich herstellt. Sehr häufig, besonders bei Bildung eines grösseren
Blutpunktes, tritt an der Stichstelle ein kleines Bläschen auf, in welchem
reichliche Leukocyten mit Aufnahme rother Blutkörperchen, niemals aber
Mikrocyten sich finden. J )
Nach einer von Langer aus weiteren Kreisen herbeigeschafften Statistik
fand sich bei 164 Imkern 4mal verringerte Empfindlichkeit, wo zwar der
Schmerz und der Blutpunkt nach dem Stiche eintraten und es zur Bildung
einer Quaddel kam, aber die sämmtlichen Erscheinungen in l / t Stunde ver¬
schwanden. Dagegen fand sich bei 28 Personen eine Ueberempfindlichkeit,
indem einerseits die örtliche Entzündung sich in hochgradiger Weise ent¬
wickelte und z. B. nach einem Stiche in die Finger die ganze obere Ex-
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Bienengift.
;>9
tremität anschwoll und das stationäre Stadium 5—6 Tage anhielt, anderer¬
seits aber auch allgemeine Symptome sich einstellten. Hierhin gehört
einerseits Urticaria (bei 14 Personen beobachtet), andererseits plötzliches
Angst- und Schwächegefuhl, Ohnmacht, Schweissausbruch, Brechneigung,
Frösteln, Zittern, Unruhe, Schwindel und vermehrter Herzschlag, welche oft
schon nach einem einzigen Stiche auftraten, während es nach mehreren
Stichen sogar zu mehrtägigem Krankenlager kommen kann. Deutliche Herab¬
setzung der reactiven Empfänglichkeit erfuhren von 153 gegen Bienengift
empfindlichen Imkern 126 während eines mehrjährigen Betriebes der Bienen¬
zucht. Ais solche ergab sich einerseits Fortbleiben der Urticaria und der
Allgemeinsymptome auch nach mehreren Stichen, andererseits Verkürzung
und quantitative Verringerung der localen Stadien. Ein höherer Immunitäts¬
grad bestand bei 91 Personen in dem Ausfälle des stationären Stadiums,
während der höchste Grad der Immunität, in der nur partiellen Entwicklung
des ersten Stadiums (sehr geringe Schmerzhaftigkeit, oder blosses Juckgefühl,
Verschwinden der Quaddel nach einigen Minuten) und in Abkürzung des
dritten (Verschwinden jeder Schwellung in einigen Stunden) bestehend, nur
bei 7 Personen vorkam. Wieviele Bienenstiche zu der Herbeiführung einer
derartigen Immunität gehören, geht daraus hervor, dass sie erst nach
mehreren Jahren eintritt und dass einzelne Bienenzüchter angaben, während der
jährlichen Bienenflugzeit (März bis September) von 200 bis über 1000 Bienen
und beim Schwarmeinfangen mitunter von 20—100 Bienen gestochen
worden zu sein. Manchmal scheinen gehäufte Stiche (20—100) den Anstoss
zur Immunität zu geben. Die Dauer der erworbenen Immunität ist nur eine
geringe, so dass sie meist im Winter bedeutend geringer wird und bei mehr¬
jähriger Aussetzung der Imkerei, auch durch intercurrente Krankheiten, ganz
verloren geht Bei vielen immun Gewordenen bleibt die Reaction nur an
dem zumeist betroffenen Vorderarme aus, während sie an anderen Stellen
(Gesicht, Genitalien) bestehen bleibt. ! )
Für die grössere oder geringere Einwirkung des Bienengiftes ist selbst¬
verständlich auch dessen Menge von grösster Bedeutung. Das längere Zurück¬
bleiben des Stachels führt bei den automatischen Bewegungen desselben zu
völliger Entleerung der Giftblase und daher zu heftigerer Entzündung;
ebenso ist das giftige Secret im Hochsommer am reichlichsten. Die Angabe,
dass Bienenstiche zur Zeit der Blüte des Buchweizens und die Stiche ruhr¬
kranker Bienen besonders schädlich seien, bedarf weiterer Untersuchung. >)
Das Verhalten des Bienengiftes gegen das Blut variirt bei ver¬
schiedenen Thierarten, insofern es zwar bei allen Thieren lösend auf die
Erythrocyten wirkt, jedoch in sehr wechselnder Intensität. Recht empfind¬
lich sind die rothen Blutkörperchen des Menschen und Hundes, am wenigsten
die des Rindes. Der nach Injection von Bienengift in die Venen bei den
meisten Thieren zu beobachtende schwere hämorrhagische Process fehlt beim
Kaninchen ganz. Kaninchenblutserum schwächt auch die örtliche Reiz Wirkung
des Bienengiftes ausserordentlich ab. 2 )
Intern applicirt ist Bienengift unwirksam: Pepsin hebt in grösseren
Mengen (10 : 1) den Effect auf die Applicationsstelle und das Blut vollkommen
auf, wobei das Bienengift seine Alkaloidreactionen und das Pepsin seine hydro¬
lytischen Eigenschaften einbüsst. Aehnlich wie Pepsin wirken Papain und Lab¬
ferment, weniger stark und langsamer Pankreatin und Diastase; Hefe ist ohne
Einfluss. 2 )
Als beste Antidote des Bienengiftes sind Brom - und Chlorwasser
zu betrachten, durch welche nicht blos die örtliche, sondern auch die Blut¬
wirkung aufgehoben wird. LrGOL'sche Lösung ist ohne Effect. Die Wirkung
der genannten Halogene beruht auf Oxydation; in analoger Weise wirken
auch Kaliumpermanganat, Kaliumpersulfat, Jodsäure und concentrirte Sal-
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00 Bienengift. — Bleivergiftung.
petersäure, nicht aber Wasserstoffsuperoxyd. Reducirende Mittel sind ohne
Einfluss. 2 )
Literatur: *) Länger, Der Aculeatenstich. Pick, Festschr. Separatabdruck. Wien und
Leipzig 1898. — s ) Langer, Untersuchungen über das Bienengift (Zweite Mittheilung: Ab-
schwächnng und Zerstörung des Bienengiftes). Arch. Internat, de Pharm. 1899, VI, Fase. 3
und 4, pag. 181. Husemaitn
Bleivergiftung. Dass noch immer neue Gewerbe der chronischen
Bleivergiftung tributpflichtig werden, ist ebenso wahr wie das Fortdauern
dieser Affection auch in den Gewerben, in welchen die Schädlichkeit längst
erkannt wurde, ungeachtet aller ernstlichen Bestrebungen, durch Fabriks-
inspectionen u. s. w. die hygienischen Uebelstände abzustellen. Nach den
neuesten österreichischen Berichten über Gewerbekrankheiten J ) kam Blei¬
vergiftung als solche in den Jahren 1884—1896 zur Beobachtung in Accu-
mulatorenfabriken, bei der Fabrication elektrischer Beleuchtungsapparate, in
Buchdruckereien, in Porzellan- und Thonwaarenfabriken, in Glashütten, bei
der Granat- und Edelsteinschleiferei, bei Feilenhauern, Schmieden, insbeson¬
dere Schiffsschmieden, bei Lackirern und Anstreichern, bei der Fabrication
von Bleikabeln, Bleiröhren und Schrot, in Bleiweiss- und Mennigefabriken, in
Hüttenwerken, in Farbenfabriken, Seidenfärbereien u. s. w. Die Ausdehnung
war in einzelnen österreichischen Fabriken ausserordentlich. So wird z. B.
angegeben, dass in einer Accumulatorenfabrik die Hälfte der Arbeiter er¬
krankte. Hier ist ja allerdings die Beschäftigung mit Blei sehr mannig¬
fach. Blei wird geschmolzen und in Platten- oder Rahmenformen gegossen,
die man nach vollendetem Guss mit Meissei, Scheere oder Kreissäge be¬
arbeitet. Ausserdem werden Bleioxyde gesiebt, mit Alkohol, Benzin und
Säuren durchmischt und die feuchten Massen auf die Platten gestrichen.
Dieses Füllen der Platten scheint die meisten Gefahren zu bieten, doch er¬
kranken auch Bleigiesser und Dreher. Dass bei der Durchführung der nöthigen
hygienischen Massregeln die Verhältnisse sich bessern, zeigt eine Wiener
Accumulatorenfabrik, in welcher die Zahl der erkrankten Arbeiter unter 61
nur 6 beträgt. Leider stossen die Massregeln nicht selten auf Widerstand
der Arbeiter und insbesondere werden die den Streichern gelieferten Gummi¬
handschuhe nicht benutzt.
Dass aus manchen Gewerben die Bleivergiftungen ganz verschwinden
können, ist zweifellos. In der Feilenhauerei und in der Edelstein¬
schleiferei geht die Intoxication von den als Unterlage dienenden blei¬
haltigen Platten aus. Es ist gar kein Zweifel, dass diese durch solche aus
nicht bleihaltigem Material ersetzt werden können. In Wien hat die Fach¬
schule für Edelsteinschleifereien die Bleiplatten entfernt und lässt nur auf
Zinnscheiben schleifen und auf Zinn- und Kupferplatten poliren. Auch die
Xaxosschrairgelscheiben des Handels gestatten das Schleifen von Edelsteinen
bis zum 8. Grad. Man hat auch Scheiben aus Harz und pulverisirtem Feuer¬
stein hergestellt, die für die Aufnahme von Schleifmaterial (Schmirgel) sehr
empfänglich sein sollen. Die Erkrankung der Schiffsschmiede rührt davon
her, dass sie mit Mennige angestrichenes Eisenblech von dem Anstriche zu
befreien haben, dessen Staub sie einathmen. Durch die Beseitigung der
Manipulation des Abkratzens und die Entfernung des Anstriches durch Aus¬
glühen in geschlossenen Flammöfen ist die Erkrankung zu verhüten.
Sehr günstige Resultate haben geeignete hygienische Massregeln be¬
sonders in den Kärntner Bleiweiss-, Glätte- und Mennigefabriken gehabt,
wo 1882 noch bei einem durchschnittlichen Arbeiterstand von 30 Personen
in einer einzigen Fabrik 107 Fälle von Bleivergiftung vorkamen. Man ver¬
hindert hier die Staubentwicklung in den Arbeitsräumen durch Anbringung
von Absaugemänteln oberhalb der Fülltrichter und der Ausbringeröffnungen
der Mühlen und der rotirenden Siebe, durch vollkommen hermetischen Ver-
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Bleivergiftung.
Ul
Schluss der Umhüllungen der Mühlen und Siebvorrichtungen und durch
Anwendung ruhig wirkender Pressen zur Verdichtung der pulverförmigen
Producte in den zu ihrer Verpackung dienenden Kistchen oder Fässern an
Stelle des früher gebräuchlichen Einstampfens oder Schütteins. Ein Saug¬
mantel oberhalb der Presse, der mit einem Exhaustor in Verbindung steht,
macht die Verbreitung des minimalen Staubes in den Arbeitsräumen un¬
möglich und ausserdem schützen sich die mit der Verpackung betrauten
Arbeiter noch durch Wergbündel, die sie vor Nase und Mund binden. Selbst¬
verständlich sind besondere Garderobe- und Esszimmer vorhanden. In den
Mennige- und Glättefabriken sind noch kräftige Abzugsmäntel oberhalb der
Arbeitsthürchen der Brennöfen gegen die Einwirkung des beim Füllen und
Entleeren der Oefen entstehenden Staubes angebracht. Beim Entleeren der
Bleikammern wechseln die Arbeiter nach jeder Schichte ab und sind dann
verpflichtet, durch ein warmes Bad den Körper vom Staube zu befreien. Um
Vergiftung bei den Arbeiterinnen zu verhüten, welche mit dem Beschälen
der Hütchen und Würfel, in denen ein grosser Theil des Bleiweiss in den
Handel gebracht wird, betraut sind, wird diese Arbeit nicht mehr auf ge¬
wöhnlichen Tischen, sondern innerhalb von Glaskästen verrichtet, deren offene
Seite der Arbeiterin zugewendet ist und welche mit einem Exhaustor in Ver¬
bindung stehen, wobei die durch die offene Seite strömende Luft den Staub
mit sich reisst und in eine Kammer zur Wiederbenutzung absetzt. Für jeden
Arbeiter sind 3— 4 Bäder im Monat vorgeschrieben. Ausserdem wird für gute
Ernährung der Arbeiter gesorgt. Besonderer Werth wird auf die tägliche
Vertheilung einer Portion Speck gelegt, der, roh mit Brot genossen, sich
als gutes prophylaktisches Mittel gegen Bleivergiftung bewährt haben soll.
In einzelnen Gegenden von England scheint die innerliche Anwendung
von Bleipflaster (Emplastrum diachylon) als Abortivum sehr im Schwünge
zu sein und mitunter thatsächlich zu Abortus, daneben aber zu schweren
Erscheinungen von Bleivergiftung und selbst zum Tode zu führen. Die abor¬
tive Wirkung des Bleies soll übrigens auch in Sheffield bei einer Massen¬
vergiftung durch bleihaltiges Trinkwasser sich gezeigt haben, wo eine grössere
Anzahl erkrankter Gravidae abortirte oder zu früh niederkam.
In einem günstig verlaufenen Falle von Vergiftung durch in abortiver Absicht ge¬
nommenes Emplastrum diachylon, wo Fehlgeburt eintrat, kam es zu Gastroenteritis und Kolik,
maniakalischem Delirium, leichten epileptiformen Krämpfen, intensivem Kopfweh, Beein¬
trächtigung des Sehvermögens und solcher Prostration und Schwäche der Glieder, besonders
der Arme, dass die Kranke vollkommene Lähmung befürchtete. In einem anderen Falle, wo
es ebenfalls zu Abortus kam, trat einseitige Ulnarislähmung ein. In einem von Crooke 3 )
genau beschriebenen letalen Falle, wo bei einer 23jährigen Frau auf das wochenlang fortge¬
setzte Einnehmen von Diachylon ebenfalls Fehlgeburt eintrat, kam es 8 Tage nach dem
Abortus zu Anfällen maniakalischer Delirien und im Anschlüsse daran zu Koma und Convul-
sionen bei stark gesteigerter Temperatur und sehr rapider Athmung; der linke Arm schien
gelähmt zu sein und im Harn fanden sich Eiweiss und Fibrincylinder. Dem maniakalischen
Anfalle waren intensive Kopfschmerzen, Leibweh, Anorexie und Durst, Anfälle von Diarrhoe
und Erbrechen, Vertaubung und Schwäche im linken Arm und Hand und allgemeine Schwäche
und Prostration vorausgegangen. Die Section ergab sehr weiche Consistenz und Trübung der
mit punktförmigen Blutextravasaten durchsetzten Hirnsubstanz, sowie fleckenweise Trübung
und Verdickung, auch Ekchymosirung der Pia mater, in welcher Venen und Capillaren stark
erweitert waren und verschiedene Arterien Thiomben enthielten, die aus einem feinfaserigen
Netzwerk von Fibrin, das Leukocyten und wenige rothe Blutkörperchen einschloss, bestanden.
Mikroskopisch zeigten sich in der weichen Hirnhaut die Wandungen der kleinsten Capillaren mit
zahlreichen Oeltrüpfchen und Albuminoidkügelchen getüpfelt, an den grösseren Gefässen körnig¬
fettige Degeneration des Endothels der perivasculären Lymphscheiden und der Gefässwanduog
selbst, sowie der Gefässmuskeln; einzelne Gefässe waren aneurysmatisch erweitert. Im Ge¬
hirn wurde mikroskopisch pigmentäre und fettige Degeneration der spindelförmigen und
pyramidalen Nervenzellen und der Neuroglia nachgewiesen; das Corpus striatum und der
Thalamus opticus zeigten nur allgemeine Blässe und Trübung der grauen Substanz und ver¬
waschene Conturen der Nuclei. Die Seitenventrikel enthielten viel Flüssigkeit. In den Lungen
bestand Oedem und hypostatische Pneumonie; in dem sehr weichen und schlaffen Herzmuskel
wurde mikroskopisch leichte braune Atrophie und körnige Entartung nachgew r iesen; die ver-
grösserte und hyperämische Leber w T ar ebenfalls körnig und fettig degenerirt. Die Magen-
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Bleivergiftung.
02
Schleimhaut war hyperäinisch und ekchymosirt, die Darmsehleimhaut theilweise sehr hyperii-
mLeh: ausserdem bestand parenchymatöse Nephritis.
Das auch in Deutschland Bleiglätte als Abortivum benutzt wird, be¬
weist ein von Lesser 3 ) mitgetheilter Fall, wo der Tod drei Tage nach dem
Einnehmen von angeblich einer Messerspitze voll Bleiglätte und 24 Stunden
nach dein Eintritte von Abortus erfolgte. Bischoff fand im Magen, Duo¬
denum und Inhalt (345 Grm.) 2,05, in Theilen der Leber, Milz, Niere und
Bauchspeicheldrüse (1136 Grm.) 2,53 Mgrm. Weit geringer war der Blei¬
gehalt in den Leichentheilen einer Frau, die infolge Einnehmens von 45 Mgrm.
Bleiweiss nach vorausgegangenem heftigem Erbrechen und Durchfall, woran
sich Koma und Krämpfe schlossen, nach vier Tagen gestorben war, trotz¬
dem dass sich bei der Section die Magenschleimhaut mit Schwefelblei schwarz
gefärbt fand. Der Bleigehalt von 286 Grm. Magen nnd Darm und 920 Grm.
diverser Organe betrug hier im ganzen nicht mehr als 1 Mgrm. In beiden
Fällen bleiben die Zahlen sehr zurück gegen Bleimengen, wie sie bei Per¬
sonen angetroffen werden, die an chronischer Bleivergiftung zugrunde gehen.
Bei einem durch die einen Monat hindurch fortgesetzte Benutzung bleihaltigen
Wassers, das im Liter 950 Mgrm. metallisches Blei gelöst enthielt, zugrunde
gegangenen Mädchen fand B. Fischer in 482 Grm. Magen, Zwölffinger¬
darm, Speiseröhre und Inhalt 7,5 Mgrm., in 735 Grm. Leber, Niere und Milz
24,7 Mgrm. Blei. Zu bedauern ist, dass in diesem Falle nicht das Gehirn
untersucht worden ist, das nach einer älteren Untersuchung von zwei Blei-
w r eissarbeitem, die an Saturnismus chronicus zugrunde gegangen waren, sich
durch grossen Bleigehalt auszeichnete. Nach dieser enthielten die ganze Leber
0,016 und 0,081, die Nieren 0,03 und 0,053, das Gehirn 0,072 und 0,081.
Man hat in diesem hohen Bleigehalte des Gehirns sogar einen charakteristi¬
schen Unterschied der chronischen von der acuten und subacuten Bleiver¬
giftung finden wollen. In einem criminellen Falle, wo der Tod nach wieder¬
holter Darreichung Bleiacetat acut nach Einführung einer grösseren Menge
eingetreten war, fand Hi gounexq *) im Magen nur Spuren, im Dickdarm 0,215
und im Dünndarm 0,043%, in der Leber 0,005, im Gehirn 0,0008, in Lungen
und Nieren nur Spuren, im Herzen kein Blei. Dass das Gehirn bei chroni¬
scher Vergiftung mit Bleipräparaten eine hervorragende Stellung unter den
bleihaltigen Organen einnimmt, beweisen auch Thierversuche von Oppen¬
heimer 6 ), in denen constant das Gehirn, die Knochen und das Knochenmark
den höchsten Pb-Gehalt zeigten, hier sogar mehr als Leber und Darm (in¬
folge der subcutanen Zufuhr des Giftes).
Wie lange bei acuten, nur durch eine einzige hohe Gabe veranlassten
Intoxicationen der Bleinachw r eis im Harn möglich ist, geht aus einer Beobach¬
tung von Zinn 6 ) hervor, wo 28 Tage nach der Vergiftung mit 1 Theelöffel
voll Bleiglätte der Nachweis noch gelang, jedoch nur bei Vereinigung des
Harns von 3 Tagen.
An Stelle der FRESENiüS-BABOschen Methode, die bei Untersuchung
des Harnes von Bleikranken manchmal im Stiche lässt, empfiehlt es sich nach
dem Vorgänge von Zanardi den bis zur Sirupdicke eingedampften Harn mit
Salpetersäure auf dem Wasserbade zu erwärmen, bis man einen ganz weissen
Niederschlag hat, dann nach Behandeln mit Lösung von alkalischem Am¬
moniumnitrat das eingeengte, leicht mit H CI angesäuerte Filtrat mit Schwefel¬
wasserstoff unter Erwärmen auszufällen, worauf an dem in HNO a gelösten
Niederschlage die bekannten Pb-Reactionen angestellt werden . 7 )
Literatur: *) Kosenfkid, Gewerbekrankheiten und ihre Verhütung in den österreichi¬
schen Fabriken. Wiener med. Blätter. 1898, Nr. 1 nnd 2. — 2 ) Crooke, Fatal case of acute
poisoning by lead eontained in* diachylon which was taken in the form of pills with the pur-
pose of bringing on a misearriage. Lancet. 30. Juli 1898, pag. 256. — 3 ) Lesser, Ueber die
Vertheilung einiger Gifte im mensehl eben Körper. Tod durch acute und chronische Bleiver¬
giftung. Viertel jahrsehr. f. geriehtl. Med. 1898, XVI, pag. 194. — 4 ) Hlgounenq, Contribution
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Bleivergiftung. — Borsäure- und Boraxvergiftung.
r>3
ä la toxieologie du plomb; de la diffusion du metal dans les divers Organes. Journ. de Pharm,
et de Chir. Deeember 1898, pag. 529. — *) Oppenheimer, Zur Kenntniss der experimentellen
Bleivergiftung. Berlin 1899. — ß ) Zinn, Ueber acute Bleivergiftung. Berliner klin. Wochen¬
schrift. 1899, Nr. 50 — 7 ) Benjamin, Ueber Blei in der Leber eines Gichtkranken, sowie
Bemerkungen über den Nachweis von Blei im Harn und in den Organen. Charite-Annal.
1898, XXIII. JJusemann.
Borraglneenalkaloide* Die Frage, ob in verschiedenen Bor-
ragineen nach Art von Curare wirkende Alkaloide vorhanden seien, ist noch
eine offene, da den positiven Angaben von Diedülin und Bichheim und Loos
von verschiedenen Seiten widersprochen worden ist. Besonders haben neuer¬
dings Schlagdenhauffen und Reeb x ) aus Cynoglossum, Heliotropium euro-
paeum und Echium vulgare nur alkaloidartige Körper gewinnen können,
welche ausschliesslich eine central lähmende Action besassen. Nach den
neuesten Untersuchungen von Greimer 2 ) lassen sich indes unter Benutzung
von Quecksilberchlorid in alkoholischer Lösung als Fällungsmittel sowohl
aus Cynoglossum als aus Anchusa officinalis und Echium vulgare nach der
procentischen Zusammensetzung übereinstimmende Pflanzenbasen gewinnen,
deren chlorwasserstoffsaures Salz curareartig wirkt. Eine ganz analoge Base
wird auch aus Symphytum officinale gewonnen, doch wirkt diese lähmend
auf die Nervencentren. Neben diesen als Cynoglossin bezeichneten Bor-
ragineenalkaloiden findet sich aber ein zweites Alkaloid, das nach Abfiltriren
des in alkalischer Lösung erzeugten Niederschlages von Cynoglossin-Platin-
chlorid im Filtrat bleibt und daraus mit Aether gefällt wird und welches
central lähmende Wirkung besitzt. Dieses von Greimer als Consolidin be-
zeichnete Alkaloid spaltet beim Behandeln mit Säuren in der Wärme Gly-
kose und ein neues Alkaloid, Consolicin, ab, das aus der alkalisch gemachten
Lösung mit Chloroform ausgeschüttelt werden kann. Dieses wirkt ebenfalls
central lähmend, ist aber dreimal giftiger als Consolidin. Ist es, wie es scheint,
auch in der Pflanze präformirt vorhanden, so dürfte es sich leicht erklären,
weshalb verschiedene Experimentatoren die Existenz curareartiger Borragineen-
alkaloide überhaupt geleugnet haben. Wie sich zu dem Cynoglossin das an¬
geblich dem Curarin in seinen Löslichkeitsverhältnissen und seinen Farben-
reactionen entsprechende Alkaloid von lähmender Wirkung verhält, das
Drescher 8 ) in Echium vulgare gefunden haben will, bleibt unentschieden.
Literatur: ') Schlagdenhauffen und Reeb, Note sur les racinea et les semences de
la cynoglosse. Journ. Pharm. Els.-Lothr. XVIII, pag. 285. — a ) Grf.imer, Ueber giftig wirkende
Alkaloide einiger Borragineen. Arch. f.experim. Path. XLI, pag. 287. — 8 ) Drescher, Blue weed.
Chem. and physiol. Notes. New York med. Rec. 9. October 1897, pag. 519. Jlascm&nn .
Borsäure- und Boraxvergiftung. Weder der Borsäure noch
ihren Alkalisalzen hat man in früherer Zeit giftige Wirkung zugeschrieben.
Die erste darauf bezügliche experimentelle Studie Binswangers *) lässt nach
den Selbstversuchen des Autors das Sal sedativum Hombergi, wie man die
Borsäure nannte, als »ganz indifferente« Substanz erscheinen, die höchstens
in Dosen von 8,0—12,0 zu etwas Reizung des Magens und Darms führe,
dagegen in kleinen Dosen als Natriumsalz den Organismus mit Harn, Speichel
und Galle verlasse, ohne ihm Schaden zuzufügen. Trotz dieser Angabe Bins-
wanger s über die Harmlosigkeit der Borsäure und des Borax, für welche
die Mehrzahl neuerer Autoren, die sich mit experimentellen Studien über
diese beschäftigten, eingetreten ist, lässt sich jedoch nicht in Abrede stellen,
dass Borsäure in sehr hohen Gaben selbst tödtliche Intoxication hervorrufen
kann, und dass ausserdem durch längere Zeit fortgesetzte grosse inedicinale
Dosen von Borsäure oder Borax ebenfalls Störungen entstehen, die man als
chronische Intoxication zu bezeichnen berechtigt ist.
Da bei beiden Formen der Vergiftung in der Mehrzahl der Fälle Haut¬
ausschläge auftreten, die ja bekanntlich häufig als Nebenwirkungen von
Arzneimitteln Vorkommen, liegt allerdings die Frage nahe, ob es sich nicht
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Borsäure- und Boraxvergiftung.
uin Nebeneffecte handle, die nur bei besonders prädisponirten Personen sich
geltend machen. Gewiss ist nicht in Abrede zu stellen, dass derartige Prä¬
dispositionen, wie gegen andere Medicamente, auch gegen Borsäure und
Borax bestehen können, und da, wo diese, wie in einem von Sonden *) beob¬
achteten Falle von Urticaria nach einem Massenklystiere von Borsäure¬
lösung, als Urticaria oder als polymorphes Exanthem auftreten, wird man
über die Natur des Exanthems zweifelhaft bleiben können. Um ein soge¬
nanntes Arzneiexanthem handelt es sich höchst wahrscheinlich in einem Falle
von Johnson 3 ), wo nach mehrmaligem Einnehmen von Borsäure zu 3,6 pro die
Fieber, Appetitverlust, Kopfschmerzen, Röthe der Bindehaut und Rachen¬
schleimhaut und lebhaft rothes Erythem mit Papeln und Pomphi an den
Streckseiten der Glieder und um die Gelenke herum auftrat, das nach Aus¬
setzen der Borsäure in vier Tagen verschwand. In den schwersten Fällen
acuter Intoxication durch Borsäure handelt es sich aber um Einführung
solcher Mengen, von denen niemand zweifeln kann, dass sie auch ohne Prä¬
disposition toxisch wirken können, und noch dazu wird ihre Activität da¬
durch gesteigert, dass nicht der Magen, sondern der geschwürige untere
Theil des Darms oder seröse Cavitäten die Applicationsstelle bilden. Dass
die vorwaltend durch Hautausschlag charakterisirte chronische Intoxication
durch Borax als selbständige, der Bromakne vergleichbare, wahrscheinlich
auf Eliminationswirkung beruhende Affection aufzufassen ist, geht daraus
hervor, dass es sich hier nicht um gewöhnliche Formen des Arzneiexanthems
handelt. Auch die Exantheme bei acuter Vergiftung lassen sich dadurch er¬
klären, dass die Haut einen Theil der Ausscheidung übernimmt. Der Nach¬
weis dafür ist experimentell allerdings noch nicht geliefert, wie überhaupt
die Eliminationsverhältnisse der Borsäure trotz mehrfacher Studien
noch nicht völlig geklärt sind. Erwiesen ist nur, dass bei dem chronischen
Borismus eine starke Verzögerung der Elimination der Norm gegenüber
stattfindet. Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist die Borausscheidung nicht
gerade besonders langsam. Nach Jay 4 ) erscheint Borsäure sehr bald, nach
grösseren Mengen schon in 3 Stunden im Harn; die Ausscheidung erreicht
ihr Maximum zwischen 11 und 13 Stunden und ist in 30 Stunden beendet.
Wild 5 ) konnte nach Einnehmen von 12 Grm. schon nach 4 und noch nach
26, aber nicht mehr nach 44 Stunden Bor im Harn constatiren. Diese Angaben,
die sich auf Anwendung kleiner und grosser Dosen bei Gesunden beziehen,
contrastiren sehr mit den Untersuchungen Fer£‘s ö ) über Kranke, die nach
längerem Gebrauche grösserer Dosen von Borax Albuminurie zeigten, indem
hier noch 41 und selbst 43 Tage nach Aufhören der Zufuhr Bor im Harn
nachgewiesen werden konnte. In einem Falle acuter Intoxication mit Exan¬
them, aber ohne Albuminurie wies Bruzelius 7 ) noch am 9. Tage nach Aus¬
setzen der Einfuhr Bor im Harn nach. Auch Johnson hat Borsäure bei
einem Kranken mit pleuritischem Exsudate 15 Tage nach dem Aufhören
nachgewiesen. Sehr geringe Borsäuremengen werden nach Vigier s ) und
Johnson auch durch den Speichel eliminirt. Auf stärkere Betheiligung der
Hautdrüsen weisen die Angaben Johnsons hin, wonach er mehrfach nach
internem Borsäuregebrauche Borax im Schweisse, einmal sogar zwei Tage
nach dem Fortlassen der Borsäure constatirte.
Acute Borsäurevergiftung (Borismus acutus). Diese Form der
Vergiftung wurde zuerst 1881 von Molodenkow in Petersburg 9 ) beobachtet,
dessen Wahrnehmungen sehr bald durch verschiedene schwedische Aerzte,
namentlich durch Bruzelius, Warfvinge 10 ) und Hogner 11 ) Bestätigung er¬
fuhren. Als Ursache erscheint in den meisten Fällen die Anwendung als
Antisepticum in zu grossen Mengen, und zwar in Form hochprocentiger
Lösungen zu antiseptischen Spülungen oder antiseptischen Massenklystieren,
wobei dann in einzelnen Fällen bestimmt, in anderen sehr wahrscheinlich
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Borsäure- und Boraxvergiftung.
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ein Theil der eingeführten Flüssigkeit in den Cavitäten zurückgehalten wurde.
Bei Spülungen von Abscesshöhlen oder der Pleuracavität oder auch des
erweiterten Magens bedarf es nur einer einmaligen Spülung, wogegen nach
Massenklystieren die Effecte erst nach wiederholter Application auftreten.
Wie gross in solchen Fällen die dem Darm zugeführte Borsäuremenge sein
kann, ohne dass der Ausgang ein tödtlicher zu sein braucht, wird durch
den Fall von Bruzelius (1882) demonstrirt, wo fünf Tage morgens und
abends 1400—1500 Ccm. 4%ige Borsäurelösung, dann fünf Tage nur lrnal
im Tage dieselbe Menge, somit, da das Einzelklystier 56—60 Grm. Borsäure
enthielt, im ganzen 840—900 Grm. als Massenklystier in den Darm ge¬
langten und nur zum Theil wieder abgingen. Auch in dem Falle von Warf-
vixge, wo erst nach 15tägiger Anwendung von 2 1 / 2 %iger Lösung in Kly-
stieren von 300 Grm., somit von 15 Grm. pro dosi Erscheinungen auftraten,
war der Verlauf günstig. Dass grössere Mengen bei Spülungen tödtlich
werden können, scheinen Molodenkows Fälle, in denen einmal die Pleura¬
cavität, das anderemal eine grosse Abscesshöhle eine Stunde lang mit 30 Pfund
Borsäurelösung (entsprechend 750 Grm. Acidum boricum) ausgespült
wurden, wobei ebenfalls ein Theil zurückblieb, zu beweisen; doch ist zu
beachten, dass es sich um so sehr decrepide Personen handelt, dass man wohl
Zweifel daran haben kann, dass die Borsäure Todesursache sei. Dass bei
Mengen dieser Art keine Unwegsamkeit der Nieren vorhanden zu sein
braucht, um eine Allgemeinwirkung hervorzubringen, liegt wohl auf der Hand.
Es ist übrigens nicht absolut nothwendig, dass die Application in Form von
Lösung stattfindet; auch die Tamponade der Scheide mit Borsäure hat nach
Welch 13 ) mehrmals zu intensiver Vergiftung geführt. Ob Natriumborat
(Borax) in sehr grossen Dosen acuten Borismus hervorrufen kann, ist
zweifelhaft; obschon behauptet wird, dass bei Anwendung solcher als Abortiv¬
mittel Vergiftungen vorgekommen seien, sind beweisende Fälle doch nicht
beschrieben worden. Jedenfalls müssen hier kolossale Dosen genommen
werden, da die an sich sehr geringe local entzündliche Wirkung der Bor¬
säure ihrem Natriumsalz ganz abgeht und Borax mindestens 4—5mal
schwächer als Borsäure wirkt. Zu dem acuten Borismus gehören auch einige
Fälle, wo Borsäure auf Wunden, Geschwüre, Decubitusflächen applicirt wurde.
Dass bei Anwendung saturirter Borsäurelösung und von Borsäure in
Substanz zunächst örtliche Reizungserscheinungen auftreten, kann nicht auf¬
fallen. Solche können schon nach Einnehmen weniger Gramme im Tractus
hervortreten. So trat in Versuchen von Schlenker und Förster 13 ) nach
8 Grm. Acidum boricum, auf 2mal in einer Stunde eingenommen, 8 / 4 Stunden
nach Genuss der 2. Hälfte Nausea, Erbrechen und mehrstündiges Gefühl von
Druck und Völle im Magen ein. Noch intensivere Erscheinungen hat Wild
bei sich selbst nach 8 Grm. in 4 Stunden genommen beobachtet, nämlich
ausser Nausea heftige Kolikschmerzen und einen Tag anhaltende Diarrhöen,
wozu am zweiten Tage Kopfschmerz, Appetitmangel, Gefühl von Depression
und ausgesprochene Röthung der Haut hinzutraten. Nach Rosenthal 14 ) be¬
wirken 4—6 Grm. Borsäure beim Gesunden etwas Uebelkeit und Steigerung
der Diurese, 12—15 Grm. unangenehmes Gefühl im Magen. Symptome ört¬
licher Irritation fehlen aber auch bei Application an anderen Körperstellen
nicht. In einem Falle von Welch wird als Folge der Tamponade der Scheide
mit Borsäure heftiger Schmerz in der Vagina hervorgehoben. Hogner beob¬
achtete bei Ausspülung der Harnblase mit 1000 Grm. 2—3—4%iger Lösung
und Zurücklassung von 150 Grm. in der Blase Harndrang, Blut, Schleim und
Schleimhautfetzen im Harn, sowie Diarrhöe. Auch beim Einblasen von Bor¬
säure ins Ohr resultirt mitunter Schmerz und vermehrte Secretion.
Solche irritative Entzündung ist aber auch als entfernte Wirkung
grösserer Mengen Borsäure möglich und kann sich infolge der Ausscheidung in
# Encyclop. Jahrbücher. IX.
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Borsäure- und Borax Vergiftung.
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erster Linie an den Nieren, aber auch an den verschiedensten Schleim¬
häuten, besonders leicht, wenn durch die Nierenaffection die Elimination er¬
schwert wird, aber auch ohne diese zeigen. Auf diese Weise erklärt sich
auch das Auftreten von Gastroenteritis oder Enteritis bei Vergiftungen von
serösen Häuten oder entfernten Schleimhäuten, da auch die Darmschleim-
haut, wie Johnson’s Versuche zeigen, an der Elimination der Borsäure sich
betheiligt, wenn auch in etwas ungleichmässiger Weise. Dass die Hautaffec-
tionen ihre Erklärung in der eliminativen Irritation der Hautdrüsen finden,
wurde bereits angedeutet und die in einzelnen Fällen beobachteten irrita-
tiven Erscheinungen an der Nasen- und Rachenschleimhaut (Bruzelius) sind
ebenfalls auf Eliminationswirkung zurückzuführen.
Eine directe Wirkung auf das Nervensystem kommt der Borsäure nicht
zu. Da, wo Nervenerscheinungen Vorkommen, sind sie wohl als Folge der
Organveränderungen, namentlich der Nierenaffection, anzusehen. Als Ursache
der Schwächezustände, die überall ausgesprochen sind, müssen die Altera¬
tionen im Tractus in erster Linie angesehen werden.
Das Krankheitsbild des Borismus acutus ist, von den ausschliesslich
auf Symptome seitens des Magens und Darms sich beschränkenden Fällen
abgesehen, nicht immer gleich. Die meist sehr hervorstechende Hautaffection
wechselt nicht nur in der Form, sondern kann, wie in dem Warfvinge-
schen Fall, ganz fehlen. In dem Falle von Bruzelius , der für die langsam
in Genesung endigenden als typisch bezeichnet werden kann, wird das Vor¬
handensein einer Nierenaffection ausdrücklich in Abrede gestellt. Hier trat
nach der 8tägigen Behandlung einer chronischen Enteritis mit Massen-
klystieren am 9. Tage Irritation und Röthung der Nasen- und Pharyngeal-
schleimhaut auf; dann kam es am 11. Tage zu allgemeinem Unwohlsein.
Kopfweh, beträchtlicher Somnolenz, Prostration, Röthung der Bindehaut und
Fieber, das über 40° stieg und am 12. Tage entwickelte sich die Haut¬
affection, anfangs in Form kleiner Aknepusteln, dann als ausgedehntes Ery¬
them von 3—4 Tagen Dauer, mit leichter Desquamation verbunden, woran
sich schliesslich eine 3tägige Urticaria und einzelne zerstreute Petechien
reihten. Völlige Genesung erfolgte erst in 3—4 Wochen. In den rasch tödt-
lich endigenden Fällen Hogner s, in denen Magenspülung den Borismus be¬
dingte und der Tod in 3, respective 7 Tagen erfolgte, bildeten neben Er¬
brechen und Appetitlosigkeit Fieber und Mattigkeit die hauptsächlichsten
Erscheinungen und das Exanthem charakterisirte sich als Purpura haemor-
rhagica (in einem Falle im Gesichte als Erysipelas). In dem Falle von Welch
(nach Scheidentamponade) verbanden sich Nierenerscheinungen (Spanurie),
Schwellung der Haut und Formication mit heftigen örtlichen Schmerzen und
Collapserscheinungen.
Besonders auf klärend über das Wesen der acuten Borsäurevergiftungen haben die bisherigen
Versuche an Thieren nicht gewirkt. Dass Borsäure bei Thieren, welche nicht erbrechen,
wie Kaninchen, in Dosen von 4 Grm. Entzündung des Magens und Darmcanals mit tödt-
liehem Ausgange in einigen Stunden bewirkt, hat schon Mitscherlich l5 ) constatirt. Schwere
Gastroenteritis erzeugen nach Neumann 16 ) auch grössere Dosen bei Hunden, die nach 0,3
bis 0,5 pro Kilogramm nur starken Temperaturablall zeigen, nach 1,0 pro Kilogramm unter
schweren Lähmnngserseheinungen sterben. Selbst bei intravenöser Application liegt die Dosis
letalis bei Thieren sehr hoch, da nach Vigier Natriumborat zu 1,0—2,5 keinerlei Intoxi-
cationserscheinungen macht. Hunde scheinen nach Neumann etwas empfindlicher zu sein als
Kaninchen; auch das Verhalten des Peritoneums gegen verschieden concentrirte Lösungun
schwankt bei verschiedenen Thierarten. Junge Hühner toleriren 0,5 und 1,0 ohne Krank-
heitssyrnptome (Ltkbrkich 17 ). Mäuse gehen erst nach Dosen von l ,\. 0Q ihres Körpergewichtes
zugrunde (Jaknjcke lb ). Die von Plaut 10 ) hei Kaninchen nach subcutaner oder intraperitonealer
Vergiftung fast coustant gefundene Nephritis parencbymätosa (mit Albuminurie und Hämat¬
urie) findet ihr Analogon in den oben erwähnten Beobachtungen.
In Bezug auf die Therapie des Borismus acutus scheint die Zufuhr
grösserer Mengen von Flüssigkeiten behufs Elimination der retinirten Bor¬
säure besonders indicirt zu sein. Prophylaktisch ist auf das Vermeiden
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Borsäure- und Boraxvergiftung.
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starker (4 —5%) Lösungen zu dringen, da solche bestimmt leichter als
schwächere Lösungen local entzündlich wirken. Mit der Herabsetzung der
Concentration wird bei gleichbleibender Menge des Vehikels natürlich auch
der Betrag der eingeführten Borsäure verringert. So erklärt es sich, dass
in einem von Sofia Grumpelt 20 ) beschriebenen Falle, wo eine an Enteritis
chronica leidende Dame nach Irrigation mit einer Borsäurelösung von
2,8 Borsäure und Acidum boricum in 567 Grm. lauwarmen Wassers leichte
Vergiftungserscheinungen zeigte, nach Herabsetzung der Borsäuremenge auf
die Hälfte nicht blos die gastrischen Symptome, sondern auch die entfernten
(Kopfweh und intensive Hauttrockenheit) ausblieben.
Chronische Borsäurevergiftung, Borismus chronicus. Diese
Form der Borsäurevergiftung tritt am häufigsten in der Form von Haut-
affectionen auf, die nach längerem internen Gebrauche kleiner Dosen sowohl
von Acidum boricum als von Borax erscheinen. Nach Borsäure ist sie schon
von Binswanger constatirt, der bei sich selbst im Laufe seiner Versuche
einen impetiginösen Hautausschlag beobachtete, ohne diesem viel Be¬
deutung beizulegen. Häufiger führte der in Frankreich und England in neuerer
Zeit üblich gewordene interne Gebrauch des Borax gegen Epilepsie zu dieser
Intoxicationsform, auf deren häufigste Art, die Psoriasis boracica, 1881
zuerst Gowers 21 ) hinwies. Das besonders ausführlich von Lemoine 22 ) und
F£r£ 23 ) behandelte Leiden kann selbsverständlich auch durch längere An¬
wendung kleiner Dosen von Borsäure auf Schleimhäute hervorgebracht
werden, wie sie in neuester Zeit Evans 23 ), Wild u. a. mehrmals bei Behand¬
lung von Cystitis mit innerlichen Gaben Borsäure beobachteten. Es kann
sogar keinem Zweifel unterliegen, dass die Borsäure weit leichter als der
Borax zu chronischer Vergiftung führen kann.
Der Borismus cutaneus stellt sich in der überwiegenden Mehrzahl der
Fälle als ein mit grosser Trockenheit der Haut verbundener Schuppenaus¬
schlag dar, der gewöhnlich an den Extremitäten sich localisirt und sowohl
die Beuge- als die Streckfläche befällt. Solche Fälle werden meist als Pso¬
riasis borica bezeichnet. Mitunter ist auch die Kopfhaut die vorwaltend er¬
griffene Partie, wo die Trockenheit und Schuppenbildung, wie in einem Falle
von Wild, vereinzelt beginnt, ehe sich schuppige Flecke an den Armen oder
Beinen zeigen. In solchen Fällen kommt es auch frühzeitig zum Ausfallen
der Haare. Manche solcher Kopfausschläge können zu Schwankungen in der
Diagnose Anlass geben; so war es in Wild’s Falle zweifelhaft, ob man das
Exanthem für Psoriasis capitis, Pityriasis rubra, Dermatitis seborrhoica oder
für ein Syphilid erklären solle. An den Gliedmassen können neben rothen
psoriatischen Flecken auch Papeln in deren Peripherie Vorkommen. In ein¬
zelnen Fällen kommen auch abweichende Exanthemformen vor, wie in Fällen
von Rasch 24 ) und Evans universelle Erythrodermie, die in dem RASCH'schen
Falle mit starker Hauttrockenheit sich verband und ihren Ausgangspunkt
von einer circumpilären Läsion, die ein Centrum für kleine, schnell wach¬
sende, confluirende Ringe bildete, hatte. Lemoine und F6re weisen auch auf
das Vorkommen von Hautblutungen (Purpura, hämorrhagischen Rash) hin.
Die Exantheme haben das Charakteristische, dass sie sich nach Auf¬
hören der Zufuhr der Borpräparate zurückbilden und nach Wiederaufnahme
sich wieder bilden, manchmal sogar in verstärktem Masse. Ihre Dauer ist
oft recht lang; in Rasch’s Falle begann der Ausschlag nach 10 Tagen zurück¬
zugehen und war in 24 Tagen vollständig verschwunden. Das Defluvium
capillorum ist meist nicht dauernd, doch erfolgt das Wiederwachsen der Haare
manchmal sehr spät, in Evans’ Falle erst nach sechs Wochen. Ausnahmsweise
kommt es auch zu Onychie und rissiger Beschaffenheit der Nägel. Die
Affection verläuft meist nicht ohne anderweitige Störungen. Namentlich ist
das Allgemeinbefinden gestört und es kann sich ein kachektischer Zustand
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Borsäure- und Boraxvergiftung.
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entwickeln, der vielleicht mit einer nicht selten gleichzeitig nachzuweisenden
Nierenaffection in Connex steht. Fere will sogar eine Cachexia borica und
eine Nephritis borica als besondere Formen des Borismus chronicus sta-
tuiren und für erstere hat Lemoine 25 ) sogar in einem dem Bleisaum ver¬
gleichbaren dunklem Rande am Zahnfleisch, der unter Anschwellung und
Röthung sich entwickelt, ein charakteristisches Symptom erkennen wollen,
das nach Ftnt indes keineswegs constant ist. Es ist möglich, dass sowohl
Kachexie als Nephritis für sich als Folge chronischer Vergiftung mit Bor¬
präparaten Vorkommen können; in der Regel aber kommen beide in Ver¬
bindung unter einander und mit dem Borexantbem vor, wodurch das Krank¬
heitsbild sich dem acuten Borismus ähnlich gestaltet. In einzelnen Fällen von
chronischem Borismus wird das Vorhandensein von Albuminurie und sonsti¬
gen Zeichen von Nephritis in Abrede gestellt. Zu letzteren dürfen wohl die
vereinzelt vorkommenden Störungen des Sehvermögens gerechnet werden,
wie sie von Hairiox (Abnahme der Sehschärfe um die Hälfte) und Rasch
(Neuritis optica) constatirt wurden. Ob die Hautschwellung, die mitunter
dem Ausbruch des Exanthems vorausgeht, von Unwegsamkeit der Nieren
abhängig oder ein entzündliches Oedem darstellt, ist nicht überall mit
Sicherheit zu sagen. Den Ausgangspunkt für die Abmagerung und die all¬
gemeine Schwäche bilden in der Regel Appetitverlust und Verdauungs¬
störungen. Dass bei starker Nephritis Tod durch Urämie eintreten kann
(Wild), ist wohl nicht zu bezweifeln.
Was die Dosen der Borsäure und des Borax anlangt, die zu chroni¬
schem Borismus führen können, so sind dieselben gewiss auch von der
Individualität abhängig. Gefährdend wirken natürlich schon bestehende Rei¬
zungszustände der Nieren, welche die Retention der Borverbindungen fördern.
Die niedrigste Menge Borsäure, welche bei einem an Cystitis Leidenden zur
Erkrankung führte, ist in einem Falle von Hall 26 ) lOtägige Darreichung
von 1,09—1,8 Grm. in steigenden Gaben, etwa 14,0 im ganzen, woran sich
der Fall von Evans (Bwöchentliche Behandlung mit steigenden Gaben von
0,6—1,2, etwa 12,0 im ganzen) anreiht. In dem Falle von Wild war 45 Tage
3mal 0,6 Acidum boricum, somit 81 Grm. gegeben. Mit den Borsäuredosen
von Hall und Evans contrastiren die Boraxgaben sehr, welche Exantheme oder
Nephritis erzeugten. Als solche giebt Gowers mehrmonatlichen und selbst
zweijährigen Gebrauch von 3,6 (also mindestens 216 Grm. in toto), Lemoine
2 — 6monatlichen von 2,0 (mindestens 120 Grm.), Wild 4wöchentliches Ein¬
nehmen von täglich 5 Grm. (140 Grm.) an. Die Differenz dieser Dosen lässt
sich nicht aus dem verschiedenen Borgehalte der Borsäure, H 3 B 0 3 und des
Borax, NaB 4 0 7 + 10H 2 0, ableiten, da dieser sich wie 18: 11,5 verhält. Die
ungünstigen Ausscheidungsverhältnisse und die stärkere örtliche Wirkung der
Borsäure müssen dabei nothwendig eine Rolle spielen, wobei zu beachten
ist, dass nach den Versuchen von Wild die Borsäure im Harn nur theil-
weise an Natrium gebunden, theilweise als solche im Harn erscheint
Wie bei dem acuten Borismus ist auch bei dem chronischen neben
der Beseitigung der Noxe durch Sistiren des Gebrauchs von Bormitteln die
Förderung der Elimination einerseits und die Linderung der nephritischen
Erscheinungen durch reichliches Getränk anzustreben. Alkalische Getränke
sind zu bevorzugen, um die frei gebliebene Säure an Alkali zu binden. Für
die günstigen Effecte der diluirenden Behandlung sprechen auch die Resultate
der älteren Versuche Polli s 27 ), der bei 8 Personen weit grössere Mengen
Borsäure in Milch darreichte, 45 Tage 2 Grm. und 23 Tage 4 Grm., ohne
dass irgend schädliche Effecte folgten, und gerade auf Grund dieser Versuche
für die Verwendung der Säure als Antisepticum eintrat.
Im ganzen und grossen dürfen wir sowohl den acuten als den chroni¬
schen Borismus als vorübergehende toxikologische Erscheinungen betrachten.
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Borsäure- und Borax Vergiftung.
G9
Der erstere ist seit Mitte der Achtziger-Jahre fast völlig aus der Literatur
verschwunden, indem man, durch die Erfahrungen belehrt, von den Massen-
klystieren und -Spülungen abstrahirte und ähnlich wird es dem Borismus
chronicus gehen, indem man die ohnehin nicht besonders erfolgreiche Epilepsie¬
behandlung mit Borax und die Borsäurebehandlung der Cystitis über Bord
wirft und an deren Stelle den Gebrauch von Mitteln, die keine derartigen
Nebenwirkungen haben, z. B. Bromipin, das ebenso sicher wie Bromkalium,
ohne Akne oder sonstige Nebeneffecte, Epilepsie heilt und Urotropin, das
der Borsäure bei Cystitis mindestens gleichkommt, setzt.
Man hat in neuerer Zeit mehrfach versucht, die unbestreitbare schäd¬
liche Wirkung kolossaler Mengen Borsäure und der monatelang fortge¬
setzten Einverleibung grosser medicinaler Gaben Borax oder Borsäure zur
Verdächtigung der in den beiden letzten Decennien sich immer mehr ver¬
breitenden Benutzung des Borax oder der Borsäure zur Conservirung von
Nahrungsmitteln zu gebrauchen. Dies ist jedoch in keiner Weise statthaft. Ein
aus directer Beobachtung beim Menschen entnommener Grund für den Verdacht
der Schädlichkeit mit kleinen Mengen von Borpräparaten conservirter Sub¬
stanz existirt nicht. Für Fleisch und Fische, bei denen das Verfahren in
höchst ausgedehntem Masse gebräuchlich ist, liegt nicht eine einzige Mit¬
theilung über Erkrankungen vor, die man davon ableiten könnte. Ein eng¬
lischer Fall von Vergiftung durch ein Blancmanger, das mit einer über¬
mässig stark mit Borsäure versetzten Milch bereitet war, ist von Lieb¬
reich 17 ) mit Recht als nicht unter die Kategorie des Borismus fallend und
auf ein in der Milch vorhandenes, in weit kleineren Dosen toxisches Gift
zurückgeführt worden. Die bisher an Thieren angestellten Versuche er¬
weisen das gerade Gegentheil einer Schädigung selbst sehr erheblicher
Dosen, insofern danach wiederholt Zunahme des Körpergewichts dargethan
wurde. Diese zuerst von Cyox 28 ) constatirte Thatsache der Gewichtsver-
niehrung ist neuerdings von Liebreich 39 ) an verschiedenen Versuchsthieren
bestätigt worden. Sie kommt bei Hunden sogar vor, wenn nach der Verab¬
reichung hoher Dosen Borax in Substanz anfangs heftige Darmerscheinungen
auftreten, die bei Anwendung in Lösung vermisst werden. Die zuerst von
Förster, später auch von Chittexden und Gies 80 ) und von Liebreich be¬
stätigte Thatsache, dass bei Einführung von Borax mit der Nahrung der
Stickstoffgehalt der Fäces zunimmt, beweist keineswegs, dass der Borax die
Ausnutzung der Eiweissstoffe beschränkt, sondern erklärt sich, wie dies
schon Förster angab, recht wohl dadurch, dass durch Beschränkung der
Fäulniss stickstoffhaltige Substanzen im Darme nicht in resorbirbare Fäul-
nissproducte übergeführt werden. Ein störender Einfluss auf diverse Ver¬
dauungsfunctionen ist offenbar die Folge der alkalischen Beschaffenheit des
Borax und vielfach geringer als die von Natriumbicarbonat oder Salpeter.
Letzteres gilt auch in Bezug auf die der Borsäure und den Borpräparaten
imputirte schädigende Wirkung auf Magen- und Darmepithelien, die durch
4mal schwächere Lösungen von Salpeter hervortritt. Man wird daher mit
Liebreich Borsäure und Borax als Conservirungsmittel für unschädlich an-
sehen dürfen. Für die Conservirung des Fleische* verwerthet man Mengen
von 0,25—0,75% Borsäure, wovon aber beim Wässern des Fleisches noch ein
grosser Theil verloren geht, so dass der Schätzung nach höchstens 0,25%
in den Körper gelangen. Diese Mengen bleiben unstreitig bedeutend hinter denen
zurück, die sich als den Organismus belästigend erwiesen haben. Mit Recht be¬
zeichnet Liebreich es als eine grosse nationalökonomische Calamität, wenn
man aus einem Vorurtheile die Conservirung von Nahrungsmitteln, die sonst
der Fäulniss anheimfallen, mit Boraten aufgäbe, die, wie Liebreich betont, unter
den Antiseptica insofern eine Sonderstellung einnehmen, als sie nur wirklich
frische, nicht aber bereits zersetzte Materialien zu erhalten imstande sind.
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Borsäure- und Boraxvergiftung. — Brillen.
Literatur: l ) Binswanger, Pharmakologische Würdigung der Borsäure, des Borax
und anderer borsaurer Verbindungen in ihrer Einwirkung auf den gesunden und kranken
thierischen Organismus. München 1847. — 2 ) Sonden, Discussion in Svenska Läkare Siillsk.
in deren Forhandl. 1882, pag. 87. — 5 ) Johnson, Kliniska studier öfver borsyrans och borax
inverkan p& mensküga Organismen äfvensom deras elimination ur den samma. Nord. med.
Ark. 1885, XVII, Nr. 9. — 4 ) Jay, Sur la vitesse de Felimination de l’acide borique. Annal.
d’hygiene pnbl. 1897, XXXVII, pag. 493. — 6 ) Wild, Dermatitis and other toxic effeets pro-
duced by boric acid and borax. Lancet. 7. Januar 1899, pag. 23. — 6 ) Fer£, Le boiisme et
les accidents de la medication par le borax. Semaine med. 1894, Nr. 62. — 7 ) Bruzeliis,
On borsyre forgiftning. Hygiea. 1882, pag. 548. — *) Vigier, Note preliminaire sur l action
physiologique du borate de soude. Compt. rend. de la Soc. de Biol. 1883, pag. 44. — Molo*
denkow, Vergiftungen durch Borsiiuresi iilung. Centralbl. f. Chir. 1881, Nr. 39. — 10 ) Warf*
vinge, Fall af borsyre forgiftning. Svenska Läk. Sällsk. Protok. 1883, pag. 10. — ll ) IIogner,
FÖrgiftningsfall genom borsyre söljungar. Eira 1884, pag. 489. — 12 ) Welch, Toxicological
effeets of boracic acid. Med. Record. 3. November 1888, pag. 531. — ,s ) Förster, Verwend¬
barkeit der Borsäure zur Conservirnng von Nahrungsmitteln. Arch. f. Hygiene. 1884, II,
pag. 75; Schlenker, lieber die Verwendbarkeit der Borsäure u. s. w. München 1884. —
,4 ) Rosbnthal, Untersuchungen und Beobachtungen über Arzneimittel. Borsäure. Anzeiger d.
Gesellsch. d. Aerzte zu Wien. 1894, Nr. 12. — lö ) C. H. Mitscherlich, De acidi boracici ef-
fectu in animalibus. Berol. 1847. — lft ) Neumann, Experimentelle Untersuchungen über die
Wirkung der Borsäure. Arch. f. experim. Path. 1881, XIV, pag. 149. — 17 ) 0. Liebreich, The
so called danger from tbe use of boric acid for preserved foods. Lancet. 6. Januar 1900,
pag. 13; Bemerkungen über den fortgesetzten Gebrauch kleiner Mengen Borsäure. Zeitschr.
f. öffenil. Chemie. 1899, pag. 492. — le ) Jaenicke, Ueber die therapeutische Verwerthung
der Borsäure. Therap. Monatsh. September 1891, pag. 477. — 19 ) Plaut, Untersuchungen über
die Rückwirkung der Borsäure auf die Nieren. Würzburg 1889. — ,0 ) Sofia Grumpelt, Sym¬
ptoms of poisoning by boracic acid. Brit. med. Joum. 7. Januar 1899, pag. 9. — ,J ) Gowers,
On psoriasis from borax. Lancet. 24. September 1881. — 22 ) Lemoine, De la toxicite de
l’acide borique. Gaz. nied. 1890, Nr. 18, 19. — l3 ) Evans, Toxic effect of boracic acid. Brit.
med. Journ. 28. Januar 1899, pag. 309. — * 4 ) Rasch, Ett fall af borsyreexantem. Hospit. Tid.
1897, pag. 709. — l6 ) Lemoine, Lisere gingival consecutif ä l’injection du borax. Bull. gen.
de therap. 30. Mai 1892, pag. 533. — S6 ) Hall, Boric acid poisoning. Lancet. 28. Januar
1899. — * 7 ) Polli, Applicazioni terapeutiche dell’ acido borico. Gaz. med. ital. Lombard. 1877,
Nr. 26. — 28 ) Cyon, Sur l’action physiologique du borax. Compt. rend. 1878, LXXXVII,
pag. 845. — ,9 ) Liebreich, Gutachten über die Wirkung der Borsäure und des Borax. Viertel¬
jahrschrift I. gerichtl. Med. 1900, Heft 1. — 30 ) Chittenden und Gies, The influence of borax
and boric acid upon nutrition with Bpecial reference to proteid metabolism. Anier. Journ. of
Physiol. 1898, I, pag. 1. Husemann.
Brillen. Die Fabrik Mantois in Paris bat im Jahre 1896 unter dem
Namen Isometropglas ein Bariumsilicat-Crownglas in den Handel gebracht
das einen Brechungsindex von 1,5778 besitzt; dasselbe Glas soll schon zehn
Jahre vorher das glastechnische Laboratorium von Schott und Genossen in
Jena nebst anderen Barytgläsern gefertigt haben, und es soll dies auch jetzt
dort hergestellt werden, aber nicht unter dem patentirten Namen: Iso-
metrope.
Diesem Glase werden von freundlicher und gegnerischer Seite ver¬
schiedene Vorzüge und Nachtheile zugeschrieben. Es soll keine Unreinig¬
keiten und Schlieren haben, dasselbe darf auch bei den zum Zwecke der
Brillenfabrication gefertigten Silicatgläsern nicht der Fall sein. Es hat einen
höheren Brechungsindex als das gewöhnlich zu Brillen verwendete Glas, der
nach Galezowski 1,5295 betragen soll. Nagel (Anomalien der Refraction
und Accommodation, in Gräfe-Sämisch, Handbuch der gesamraten Augenheil¬
kunde, 1. Aufl., VI, pag. 209) giebt ihn als zwischen 1,52 und 1,55 schwan¬
kend an. Um denselben optischen Effect zu erreichen, brauchen also die
Isometropgläser eine geringere Krümmung der brechenden Flächen, würden
also eine geringere sphärische Aberration besitzen. Das ist wohl richtig,
nach den Berechnungen von KrCss ist aber der Unterschied so gering, dass
er praktisch nicht in Frage kommt. Ebenso ist das grössere Farbenzer¬
streuungsvermögen, das den Isometropgläsern vorgeworfen wird, wegen der
Kleinheit der Differenz von dem bei gewöhnlichen Gläsern zu vernachlässigen.
Bezüglich des Durchlässigkeitsvermögens für Licht fand Krüss einen Unter¬
schied von 1° 0 zu Gunsten der Isometropgläser. Die Härte der beiden
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Brillen. — Bromeigone.
71
Glassorten ist nach Krüss die gleiche, nach Fortuxati ist das Isometrop-
glas etwas härter. Im ganzen ging aus diesen Untersuchungen hervor, dass
die Isometropgläser keine bemerkbaren Vortheile besitzen, aber theurer sind
als gewöhnliche.
Einen wesentlichen Unterschied hat Wolffberg gefunden. Er eruirte,
dass Staaroperirte mit Isometropgläsern eine viel bessere Sehschärfe erlangen,
ö 5
z. B. V — gegen V ^ () bei gewöhnlichen Brillen. Wolffberg meint, dass die
Undurchgängigkeit des Isometropglases für die ultravioletten Strahlen eine
Rolle spielen, wenn es auch noch eine offene Frage bleibt, ob sie die Ur¬
sache des besseren Sehens ist. Wie Widmark experimentell nachwies (»lieber
die Grenze des Spectrums nach der violetten Seite«), gehen durch die
Krystalllinse des Auges die ultravioletten Strahlen nicht durch. Fehlt die
Linse, so können die genannten Strahlen ihre schädlichen Wirkungen aus¬
üben. Deshalb würde Wolffberg Isometropgläser überall da empfehlen, wo
ultraviolettes Licht in grosser Menge vorhanden ist (elektrisches Bogenlicht,
Gasglühlicht, Schneelicht, Mondlicht)
Als Schutzbrille für Arbeiter hat H. Wkiss Celluloidbrillen empfohlen,
die in genügender Durchsichtigkeit und in verschiedenen Farben hergestellt
werden. Sie werden aus einem Stück für beide Augen geschnitten, sind
muschelförmig und werden mit einem Bande um den Kopf befestigt; Venti¬
lationsöffnungen kann man seitlich anbringen. Auf die beschränkte Anwend¬
barkeit bei Feuerarbeitern macht Weiss selbst aufmerksam, namentlich aber
Stitblp, der berichtet, dass sie schon bei dem kleinsten Funken, mit dem sie
in Berührung kommen, in Flammen aufgehen.
Literatur: Galezowski, Recneil d’Ophthalmologie. 1896, Nr. 5. — Fortunati, Le
lerte iaometropi. Bnll. d. R. Accad. di Roma. 1897, XXIII, pag. 177. — Javal, La France med.
1897, Nr. 33 und Revue med. 1897, Nr. 162. — Krüss, Ueber die Eigenschaften der Iao-
metropglüser. Klin. Monatsbl. f. Augenhk. Mai 1898. — Parent, Les verres isometropes. Arch.
d’Ophthalm. October 1897. — Wolffberg, Eine sehr bemerkenswerthe Eigenschaft der Iso-
metropebrillen. Wochenschr. f. Therap. u. Hygiene des Auges. 1898, II, Nr. 14. — Wolff-
bebg, Isometropebrillen. Ebenda. 1899, Nr. öl. — Wkiss, Ueber Celluloidbrillen, insbesondere
über Schutzbrillen aus Celluloid. Sitzungsbericht der 27. Vers, der ophthalmolog. Gesellschaft.
Heidelberg 1898, pag. 334. — Hillemanns, Referat über Arbeiterschutzbrillen. III. Vers,
rheinisch-westphälischer Augenärzte. 1900 (Niedkn, Stöwer, Stuklp). Die ophthalmologische
Klinik. 1900, III, Nr. 5. B^uss.
Bromeigone. Mit Hinweis auf den Artikel Eigonpräparate in
Bd. VIII d. Encyclopäd. Jahrb., pag. 65 genügt es zu berichten, dass analog
der von der chemischen Fabrik Helfenberg früher dargestellten Jodeigone
nunmehr von derselben Fabrik auch Bromeigone in den Handel gebracht
werden, und zwar das Bromeiweiss mit dem Namen Bromeigon und das
Brompepton mit dem Namen Peptobromeigon. Beide Präparate zeigen im
Vergleiche zu anderen Bromei Weissverbindungen des Handels den höchsten
Bromgehalt. Das Bromeigon stellt ein weisses, fast geruch- und geschmack¬
loses Pulver dar, welches in Wasser — zum Unterschiede von Peptobrom¬
eigon — unlöslich ist. Dasselbe lässt sich mit einem Bromgehalte bis zu
12°/ 0 nach dem K. DiETERicH schen Verfahren herstellen und kommt mit
einem durchschnittlichen Gehalte von circa 11% Brom in den Handel. Es
enthält neben Spuren von Bromwasserstoffsäure nur Brom in gebundener
Form. Freies Brom ist nicht einmal in Spuren vorhanden. Das Peptobrom¬
eigon ist ein peptonisirtes Bromeiweiss und in Wasser — im Gegensätze
zum Bromeiweiss — ziemlich leicht löslich. Dasselbe stellt ein fast geruch-
und geschmackloses weisses Pulver dar und enthält ebenfalls circa 11%
gebundenes Brom. Die Versuche, weiche Beddies und Physicus Tischer
über die physiologische und therapeutische Wirkung der Bromeigone ange¬
stellt haben, ergaben, dass diesen im ganzen grossen die Wirkung der Brom-
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72
Bromeigone. — Bromipin.
alkalien zukommen, jedoch sollen die Bromeigone gleichmässiger wirken und
auch bei grösseren Dosen keinen Bromismus erzeugen. Bei Potatoren konnten
bis zu 20 Grm. Bromeigon pro die ohne Nebenwirkungen gegeben werden.
Wir möchten doch darauf aufmerksam machen, dass, während 100 Grm.
Bromeigon nur 12% Brom enthalten, in der gleichen Gewichtsmenge Brom¬
kalium 67,22% Brom enthalten sind; es wird sich also kaum durchführen
lassen, dass das Bromeigon und das Peptonbromeigon in ebensolchen Dosen
wie das Bromkali verschrieben werden, umsoweniger, als im Bromeigon das
Brom sehr fest gebunden sein soll. Bakteriologische Versuche zeigten, dass
dem Bromeigon eine geringere desinfectorische Kraft zukommt, als den Jod¬
eigonen. Letztere Erfahrung spricht also für die Annahme einer sehr festen
Bindung des Broms im Bromeigon, da im entgegengesetzten Falle viel leichter
Brom abgespalten und die desinfectorische Kraft als bedeutend höher hätte
gefunden werden müssen. Die neuen Präparate kommen in Pulver- und
Tablettenform, sowie als Liquor Ferro Mangani brompeptonati (0.6% Fe.
0,1° o Mn und 0,1% Br) in den Handel.
Literatur: Ueber Bromeigone. Pharm. Ztg. 1899, pag. 780. Loebisvh.
Bromipin, ein Bromadditionsproduct des Sesamöles, ist ebenso wie
das analoge Jodipin (s. dieses) ein halogenisirtes Fett und bildet wie dieses
eine gelbliche, rein ölig schmeckende Flüssigkeit, die sich in ihren physi¬
kalischen Eigenschaften wie fettes Oel verhält und 10% oder 33%% Brom
(s. Dosirung) enthält. Es wird als von unangenehmen Nebenwirkungen freies
Ersatzmittel der Bromalkalien empfohlen, wobei besonders hervorgehoben
wird, dass es weder Eruptionserscheinungen, noch andere Erscheinungen des
Bromismus bedingt, andererseits die sedativen Wirkungen der Bromalkalien
in vollem Masse besitzt. Wie Winternitz am Jodipin nachgewiesen, werden
die halogenisirten Fette im Magen nicht zerlegt und erst das Pankreas-
secret und die Galle machen die Halogene aus ihrer Verbindung frei. Das
Bromipin wurde bisnun in Fällen, wo man sonst Bromalkalien verordnet,
versucht. Patienten, welche gegen Brom eine Abneigung haben, wie dies
bei Epileptikern, die lange Brom genommen haben, häufig vorkommt, kann
man es geben, ohne dass sie wissen, dass sie ein Brompräparat nehmen;
auch lässt sich das Mittel subcutan anwenden und in die Haut einreiben ;
für beide Anwendungsarten ist die Resorption des Broms durch das nach
kurzer Zeit im Harne nachweisbare Brom festgestellt.*
Dosirung: Epileptikern 2 Theelöffel (1 Theelöffel voll Bromipin = 3.5
enthält 0,35 Brom), 3—4mal täglich, Kindern die Hälfte dieser Gabe. Bei
Seekrankheit prophylaktisch 1—3 Theelöffel 3mal täglich, bei ausgebrochener
Seekrankheit 2—3 Theelöffel alle 2 Stunden (Wui.ff). Da viele Leute schon
durch Einnehmen von soviel Oel allein Nausea bekommen, wäre das Bromipin
in diesem Falle zweckmässiger in Kapseln zu reichen. E. Merck stellt ausser
dem 10° 0 igen ein 33%%iges Bromipin dar, welches in Kapseln, die je 2 Grm.
dieses hochwerthigen Präparates enthalten, verabreicht wird. Eine solche
Kapsel hat einen Bromgehalt von 0,66, gleichwerthig 0,99 Kaliumbromid.
Literatur : Hugo Wjntkrnitz, Ueber Jodfette und ihr Verhalten im Organismus, nebst
Untersuchungen über das Verhalten von Jodalkalien in den Geweben des Körpers. Zeitschr.
f. physiol. Chemie. XXIV, pag. 425. — Leubuschrr, Monatssehr. f. Psych. und Neurol. 1899,
pag. 340. — F. Schulze, Inaug.-Dissert. Göttingen 1899. — E. Merck, Berichte über die
Jahre 1897, 1898, 1899. Loehisch.
* Ich habe in letzter Zeit bei Epileptikern das Bromipin nach dem Vorschläge von
Rothe (Friedrichsroda; mehrfach in Clvsmen (30,0 auf einmal; gegeben, und konnte dabei
eine auffallend langsame Ausscheidung des Broms durch den Harn — bis zu 14tiigiger Dauer
nach jeder einzelnen Application — constatiren. Eulenburg.
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Cacteengifte. Dass das als Pellote bezeichnet© mexikanische Be¬
rauschungsmittel einen weiteren Verbreitungsbezirk hat, als man gewöhnlich
annimmt, kann keinem Zweifel unterliegen. Lumholtz hat den Gebrauch auch
bei den höhlenbewohnenden Tarahumari-Indianern im Staate Chihuahua und
bei einigen südlich wohnenden Stämmen beobachtet, so dass man ihn vom
26.—30. Breitegrad, von der Pacificküste des mittleren Mexiko bis zu den
Prärien von Texas und dem Indianerterritorium findet. Von Interesse ist,
dass von den in weit getrennten Bezirken wohnenden Tarahumanern und
Huicholen (im Staate Jalisco), trotzdem sie verschiedene Sprachen reden, die
Pflanzen denselben Namen Hik-o-li führen. Bei beiden Stämmen knüpft sich
der Gebrauch an ihre religiösen Ceremonien; bei den Huicholen bildet er
einen besonderen Theil der Verehrung ihres Hauptgottes Ta-te-coa-li (Gott
des Feuers). Man verzehrt die Pellote roh oder in der Regel zermahlen und
mit Wasser gemischt. 2—3 Stück der Pflanzen genügen zur Hervorbringung
deutlicher Effecte. Die Huicholen und der ebenfalls Pellote geniessende Nachbar¬
stamm der Cora ziehen die Pflanzen in besonderen kleinen Gärten; die
Huicholen treiben auch Handel damit. Der Name Peyotl scheint tarahumari-
schen Ursprunges zu sein.
Ueber die Frage, ob Anhalonium Lewinii und A. Williamsi besondere
Species oder Varietäten derselben Species seien, ist die Discussion noch nicht
geschlossen. Im Berichte des botanischen Gartens von Missouri hält C. H.
Thompson *) an den von Coulter gegebenen Criterien, wonach A. Williamsi
gewöhnlich 13, A. Lewinii 8 unregelmässige Rippen zeigt, fest. Michaelis 2 )
hat auch in der Anzahl der Nebenzellen und dem Vorhandensein krystall-
führender Hypodermzellen Verschiedenheiten gefunden, die für Differenzirung
zweier Arten sprechen sollen. Auch Heffter 3 ) tritt dafür ein, weil, wenn
auch die Zahl der Rippen und der Habitus in keiner Weise zur Unter¬
scheidung ausreichen, doch die chemische Thatsache für zwei Species spreche,
da Anhalonium Williamsi nur ein einziges Alkaloid, das Pellotin, dagegen
A. Lewini vier Alkaloide, von denen keines zum Pellotin in leicht ersicht¬
licher Beziehung stehe, enthalte. Die von Heffter untersuchten Mescal- oder
Mezcalbuttons des Handels bestanden stets aus Anhalonium Lewinii, ebenso
der Pellote der Huicholen und direct aus Saltillo im Staate Cohahuila
(Mexiko) bezogene Cactus.
Nach allen bisher vorliegenden Beobachtungen ist das Pellote ein in
seiner Wirkung bisher isolirt dastehendes Gehirngift, das sich zwar der Can¬
nabis indica etwas nähert, aber doch wesentliche Unterschiede zeigt. Dem
Pellote fehlt der schlafmachende Effect, den indischer Hanf schliesslich doch
äussert, auch die melancholischen Gemüthsstimmungen, die man nach Haschisch
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74
Cacteengiftc.
beobachtet, fehlen bei der Pellote und die farbigen Visionen, neben denen
übrigens auch mitunter Hallucinationen in der Geruchs- und Gehörssphäre
Vorkommen, sind so eigentümlich, dass man die Intoxication als sui generis
bezeichnen muss. Durch das Gefühl von Wohlbehagen und die Schlaflosig¬
keit charakterisirt sich Pellote mehr als Stimulans denn als eigentliches
Narcoticum. Inwieweit der Effect auf das Gehirn mit einer Einwirkung auf
das Herz zusammenhängt, ist noch klarzustellen. Jedenfalls besitzen sämmt-
liche von Hefftek nachgewiesene Alkaloide, Pellotin, Mezcalin, An-
halonidin, Anhalonin und Lophophorin einen den Herzschlag verlang¬
samenden und den Blutdruck steigernden Effect. Von diesen Alkaloiden ist
das von Heffter zuerst als Alkaloid A bezeichnet Mezcalin dasjenige, welches
sich mit den Effecten der Droge am besten deckt, insofern es allein beim Men¬
schen die eigenthümlichen farbigen Visionen hervorruft, welche den Pellote-
rausch charakterisiren.
Heffter sah bei sich selbst nach 0,02—0,08 des salzsauren Mezcalins Verlangsamung
des Pulses, Kopfschmerz und Gefühl von Abgeschlagenheit der Glieder, eine oder mehrere
Stunden anhaltend. Nach 0,1 traten die nämlichen Erscheinungen in verstärktem Masse (Puls
von 82 auf 64 in 8 Stunden herabgehend), ausserdem leichtes Gefühl von Uebelkeit und
Fülle des Magens ein. Nach 0,15 erschienen auf dem Papier violette und grüne Flecken und
bei geschlossenen Augen Visionen, anfangs in Form undeutlich begrenzter grüner und violetter
Flecke, dann Teppichmuster, Krenzgewölbe, später auch Landschaften und Architekturbilder.
Diese Erscheinungen hielten 3 l / 2 Stunden an und waren nicht mit Gesichtsfeldbeschränkung,
weder im allgemeinen noch insbesondere für Farben verbunden. Gleichzeitig bestand eine
Zeitlang Herabsetzung des Zeitsinns, wie sie bei Versuchen mit Fluidextract der Mezcal
Buttons in Heffter’s Selbstversuchen aufgetreten waren; ausserdem auch Pupillenerweiterung,
Kopfschmerz, Schwindelgefühl und Erschwerung der Bewegung der Extremitäten. In einem
an einer anderen Person angestellten Versuche mit 0,2 Mescalin traten die nämlichen Er¬
scheinungen und das Farbensehen in noch exquisiterer Weise ein, nur eine Beeinflussung
des Zeitsinnes ergab sich dabei nicht. In diesem Versuche bestand auffällig lange Dauer dqr
Nachbilder.
Sämmtliche Cacteenalkaloide beeinflussen bei Thieren das nervöse Centralorgan; nur
das Anhalonidin lähmt beim Frosch die peripheren Nervenendigungen. Die auf das Grosshirn
gerichtete Action des Mezcalins tritt nur bei Fröschen ein. Lophophorin bewirkt bei Fröschen
und Säugern ein Stadium abnorm gesteigerter Erregbarkeit des Rückenmarkes und des ver¬
längerten Markes, Pellotin, Anhalonin und Anhalonidin bewirken zuerst ein narkotisches, dann
ein tetanisches Stadium; das narkotische Stadium dauert beim Anhalonidin am längsten, beim
Anhalonin am kürzesten. Bei letzterem fehlt es bei Säugern, wo es in kleineren Dosen den
Blutdruck steigert und die Herzschlagzahl beschleunigt, in grösseren Sinken des Blutdruckes
bewirkt. Nach Dixon 4 ) verlangsamen kleinere Dosen Mescalin, Anhalonidin, Anhalonin und
Lophophorin den Herzschlag unter bedeutender Steigerung des arteriellen Druckes vermöge
directer Erregung der intracardialen Ganglien, der Vagusendigungen und des vasomotori¬
schen Centrums, während bei letalen Dosen die Vagusendigungen gelähmt werden. Der Tod
ist überall Folge von Athmungslähmung. Alle Alkaloide steigern die Diurese ; der Harn der
vergifteten Thiere ruft die typischen Vergiftungserscheinungen beim Frosche hervor.
Beim Menschen bewirkt Anhalonidin zu 0,1 — 0,25 Hydrochlorid etwas Schläfrigkeit und
ein dumpfes Gefühl im Kopfe, Anhalonin zu 0,1 Schläfrigkeit; Lophophorinum hydrochloricum
erzeugt zu 0,02 in 15 Minuten schmerzhaften Druck im Hinterkopfe, Hitze und Rothung im
Gesicht, ausserdem geringe Erhöhung der Pulsfrequenz auf die Dauer von 40 Minuten.
Das Vorkommen toxischer Alkaloide in vielen anderen Cacteen ist
wahrscheinlich, da solche auch in Cereus peruvianus, Anhalonium
(Echinocactus) Visnagra, Anhalonium Jourdanianum und Mamillaria
centricirrha existiren. Die Alkaloide von Cereus peruvianus und Anhalo¬
nium Visnagra bringen bei Fröschen zu 5 — 10 Mgrm. erhöhte Reflexerreg¬
barkeit und tetanische Anfälle hervor. In Anhalonium Jourdanianum sind
zwei Alkaloide, ein lähmendes und ein tetanisirendes vorhanden; der Alkaloid¬
gehalt ist aber ein weit schwächerer als in den Mezcal Buttons. Das Alkaloid
in der Mamillaria ist nur schwer löslich. Sehr geringe Alkaloidmengen fand
Heffter auch in Echinocactus myriostigma, Phyllocactus Acker-
manni und Phyllocactus Russelianus.
Literatur: l ) Thompson, Report of the Missouri Botanic Garden. 1898, pag. 127. —
2 ) Michaelis, Beiträge zur vergleichenden Anatomie der Gattungen Echinocactus, Mamillaria
und Anhalonium. Erlangen 1896. — 3 ) Heffter, Ueber Pellote. Beiträge zur chemischen und
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Cacteengiftc. — Carboisäurevergiftung. 75
pharmakologischen Kenntniss der Cacteen. Zweite Mittheilung. Arch. f. experira. Pathol. 1898,
XL, pag. 385. — 4 ) Dixon, A preliminary note on the pharmaeology of the alcaloids derived
from the mescal plant. Brit. med. Joum. October 1898, pag. 1060; The physiological action
of the alcaloids derived from Anhalonium Lewini. Joum. o! Physiol. 1899, XXV, pag. 19.
Husemann.
Caltha. Die auf sumpfigem Terrain und feuchten Plätzen überhaupt
bei uns sehr verbreitete Sumpfdotterblume (Dotterblume, Goldblume, gelbe
Maiblume), Caltha palustris L., gilt ziemlich allgemein als giftig, wofür
a priori ihre Zugehörigkeit zur Familie der Ranunculaceen spricht. Man
schreibt ihr in der Regel eine scharfe Wirkung wie den Angehörigen der
Gattungen Anemone und Ranunculus zu. Von einzelnen wird sogar das früher
in einigen Gegenden übliche Einmachen der Blutenknospen in Essig zum
Ersatz der Kappern widerrathen. Für die Giftigkeit für Kühe sprechen ältere
Angaben von Brugmaxs in Groningen (1785), nach welchem Caltha nament¬
lich in der Blütezeit bei diesen Entzündung des Darms hervorrufen kann,
während sie im Sommer weniger oder nicht schädlich wirke. Auch die einzige
authentische Vergiftung beim Menschen ist schon sehr weit zurück. Sie be¬
traf fünf Personen, darunter drei Kinder, die sämmtlich auf den Genuss eines
Hakmus aus Caltha palustris nach 1 / i Stunde anhaltende Schmerzen im
Magen und in der Nabelgegend, schmerzhafte Vomituritionen (zwei der Er¬
krankten auch Erbrechen), Meteorismus, Durst, Aufstossen, Myosis, Schwindel
und Sausen in den Ohren, Anschwellung des Gesichtes, am folgenden Tage
auch Verringerung der Urinentleerung und Auftreten von rothen Flecken
und später pemphigusartiger Blasen an verschiedenen Körperstellen bekamen,
Erscheinungen, die allerdings auf einen entzündlichen Process des Magens
und Darms und wahrscheinlich auch der Nieren hindeuten, da doch nicht
wohl an eine »Nebenwirkung« bei gleichzeitiger Erkrankung von fünf Per¬
sonen gedacht werden kann . l ) In Esthland soll man sie ebenfalls als Speise
benutzt, jedoch wegen der dadurch hervorgerufenen Diarrhöen wieder auf¬
gegeben haben. In Siebenbürgen gilt die Wurzel als Wurm-, Brech* und
Abführmittel. Nach Krilow 2 ) wird im Gouvernement Perm eine Abkochung
der trockenen Pflanze zusammen mit örtlicher Application des zerquetschten
Krautes bei Wassersucht und das Pulver der Früchte zu Kataplasma bei
Panaritien benutzt. Auch als Wundheilmittel bedient man sich in Russland
der ganzen oder zerkleinerten Blätter. Johansox s ) giebt an, dass die Esthen
die Pflanzen »Froschtabak« (konna tabak) nennen und angeblich zum Rauchen
benutzen. Das Nicotin, das sie in der Pflanze vermutheten, existirt nach den
späteren Untersuchungen von Brondgeest 4 ) in der Pflanze nicht, auch exi-
stiren grössere Mengen giftiger Alkaloide oder Glykoside darin nicht. Auf
Frösche wirkt der Saft subcutan applicirt lähmend und letal, die Lähmung
ist central und geht vom Gehirn auf das Rückenmark über. Wässeriges
Destillat frischer Pflanzen liefert kein Anemonin und besitzt keine giftige
Wirkung; dagegen sind die Producte der Ausschüttelung mit Aether aus
saurer und mit Benzin und Chloroform aus alkalischer Lösung bei Fröschen
stärker giftig als der Saft. Kaninchen können sehr erhebliche Mengen frisches
Kraut ohne Schaden verzehren. Calthaextract wirkt durch seinen grossen
Gehalt an Kaliumchlorid giftig.
Literatur: l ) Spiritus,Rüst’s Magaz. 1825, XX, Heft 1, pag. 452; Feank’s Magaz. I,
pag. 411. — *) Nach Demitbch, Russische Volksmittel aus dem Pflanzenreiche in Kobebt's
histor. Untersuchurgen. 1, pag. 187. — a ) Johanson, Sitzungsbericht der Naturforschergesell¬
schaft zu Dorpat. 1877, pag. 544. — 4 ) Beondgeest, Onderzoekingen over Caltha palustris.
Nederld. Weekbl. Geneeskunde. 1899, Nr. 7. llusemann.
Car bolsflure Vergiftung. Sowohl die acute Carbolsäurever-
giitung als die sogenannte Carbolgangrän durch Carboiwasserüberschläge
kommen auch jetzt noch in solcher Menge vor, dass die Beseitigung der¬
selben durch sanitätspolizeiliche Bestimmungen, wenn eine solche möglich
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Carboisäurevergiftung. — Cheiranthin.
71)
wäre, sehr erwünscht erscheint. In Frankreich besteht besondere Gefahr
darin, dass man in den Apotheken wegen der leichteren Darstellung von
Lösungen aus verflüssigter Carbolsäure eine Lösung von 9 Theilen Acidum
carbolicum in 1 Theil Alkohol unter dem sehr leicht zu der irrthümlichen
Annahme, dass es sich um eine 10%ige Lösung von Carbolsäure in Wasser
handle, führenden Namen »Acide phenique liquide, solution au
dixiöme« vorrätliig hält, wodurch leicht Verwechslungen veranlasst werden
können, welche die Ursache äusserer Verätzungen werden . } ) Jedenfalls ist
mit der Beseitigung dieser nur ein Theil der Ursachen des Carbolismus be¬
seitigt. Da die Mehrzahl der acuten Vergiftungen mit Carbolsäure durch
Verwechslung mit Getränken herbeigeführt wird, wäre es zweckmässig, über¬
haupt die flüssige Form zu beseitigen. In dieser Beziehung dürften die
Carbolsäuretabletten von Lutze Beachtung verdienen, die sich beim Schütteln
mit Wasser leicht lösen, wobei die darin enthaltenen 10% Borsäureanhydrid
anfangs durch Ausscheidung die Lösung trüben, aber rasch in Solution
gehen. 2 ) Das von Schaeche 8 ) befürwortete Verbot der Abgabe von Carbol-
säurelösungen ohne ärztliches Recept würde allerdings die Carboigangrän sehr
wesentlich beschränken.
Die Vertheilung der Carbolsäure in den einzelnen Organen stellt sich
nach der bei acuten Vergiftungen von Lesser 4 ) gemachten Zusammenstellung
Berliner und Breslauer Fälle so, dass die ersten Wege constant mehr ent¬
halten als die zweiten. Aber unter den 19 Fällen sind 12, in welchen auch
in den ersten Wegen die gefundene Carboisäuremenge so gering war, dass
eine spontane Entstehung nicht ausgeschlossen ist. Constante Beziehungen
der in dem Verdauungskanal vorfindlichen Mengen zu der Dauer der Ver¬
giftung oder zu dem Intervalle zwischen Tod und Analyse existiren nicht.
Dass die Menge des Giftes in den Organen eine sehr variable ist, geht aus
einer grösseren Anzahl Beobachtungen hervor. So betrug in zwei Fällen der
procentuale Gehalt in der Leber 43, beziehungsweise 17, in der Niere 62,4,
beziehungsweise 17,9, im Blute 22,4, beziehungsweise 7,3, im Gehirn 21,8,
beziehungsweise 8,0, im Herzen einmal 21,8, in einem anderen Falle fanden sich
nur Spuren. In allen Fällen war die aus den grossen Unterleibsdrüsen isolirte
Carbolmenge grösser als diejenige von Lungen, Herz und Gehirn. In dem Harne
eines binnen 15 Minuten tödtlich verlaufenen Falles wurden 8% Phenol auf¬
gefunden, in dem Harne eines nach % Stunden Verstorbenen nur Spuren.
Literatur. ! ) Adrian, Note sur les Solutions officinales de l’acide phenique. Bull.
g6n. de Th^rap. 1899, pag. 726. — 2 ) Georg Mayer, Ueber Carbolsäuretabletten. Deutsche
med. Wochenschr. 1899, Nr. 4. — 3 ) Schaeche, Zur Verhütung des Carboibrandes. Therap.
Monatshefte. August 1899, pag. 461. — 4 ) Lesser, Ueber die Veitheilung einiger Gifte im
menschlichen Körper. 6. Zur Lehre von der Carboisäurevergiftung. Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1898, XV, pag. 277. Husemann.
Celluloidbrillen, s. Brillen, pag. 71.
Cheiranthin» In Cheiranthus Cheiri, dem gewöhnlichen Gold¬
lack, dessen Saft in Frankreich noch jetzt gegen Harngries und bei Wasser¬
sucht Verwendung findet, findet sich ein stickstofffreies, nach Art des Digitalins
wirkendes Glykosid, das in Wasser, Alkohol, Chloroform und Aceton sich leicht
löst, in Aether und Petroleumäther unlöslich ist. An Giftigkeit übertrifft es
sowohl Digitalein als Helleborein, Coronillin, Apocynein und andere in Wasser
lösliche Herzgifte. Die Samen enthalten mehr Glykosid als die Blätter. Neben
dem Glykosid enthält der Goldlack noch Cholin und ein bei Kalt- und Warm¬
blütern centrale Lähmung bewirkendes Alkaloid, das bei Fröschen auch die
Muskeln lähmt, ohne das Herz und die peripheren Nerven zu afficiren.
Literatur: M. Kekb, Ueber das Cheiranthin, einen wirksamen Bestandtheil des Gold¬
lacks. Arch. f. experirn. Pathol. 1898, XLI, Heft 4 u. 5, pag. 302. — Weitere Untersuchungen
über die wirksamen Bestandtheile des Goldlacks. Ebenda. 1899, NL1II, Heft 1 u. 2, pag. 131.
Husemann.
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Chorioepithelioma.
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Chorioepitlielloma« Als Chorioepithelioma malignum bezeichnet
man eine Geschwulstform, welche im Fruchthalter zur Entwicklung gelangt,
und zwar stets an der Stelle, an der ein normales oder pathologisches Ei
einstmals gesessen hat. Diese in klinischer und pathologischer Beziehung
interessante Geschwulstform ist in den letzten 12 Jahren Gegenstand eifriger
wissenschaftlicher Forschung gewesen. Es ist einleuchtend, dass Klarheit
über ein Tumorgewebe, das an der Eiinsertionsstelle zur Ausbildung ge¬
langt, nur dann gewonnen werden kann, wenn Ober den histologischen Bau
der Eiinsertionsstelle genügend Licht verbreitet ist. So kommt es, dass die
Forschungen Ober das Chorionepithelioma malignum eng mit der fortschreiten¬
den Erkenntniss der Embryologie und Pathologie des Eies verknöpft sind.
Ueber die reichen Resultate aller dieser Forschungen, welche in den letzten
Jahren von Gynäkologen, Pathologen und Embryologen ausgefuhrt worden
sind, soll im folgenden kurz berichtet werden.
Vor 12 Jahren wurde die Aufmerksamkeit auf ein neues, scharf um¬
schriebenes Krankheitsbild gelenkt, welches seither von fast allen beschäf¬
tigten Gynäkologen beobachtet wurde. Es ist dies das damals sogenannte
maligne Deciduom des Uterus (Saenger *), Pfeiffer 2 ). Die klinischen Charak-
teristica der Krankheit sind folgende:
Die Krankheit befällt meist Frauen im geschlechtsreifen Alter, niemals
vor der Pubertät. (Der Ausbruch des Leidens nach Eintritt der Climax ist
hingegen nicht ausgeschlossen.) Die Prädilectionsjahre liegen zwischen 25—35.
Unbedingte Vorbedingung ist es, dass die Frau einmal concipirt haben muss,
doch kann die Gravidität lange Jahre zurückliegen oder auch, ohne bemerkt
worden zu sein, entstanden und unvermerkt abortiv geendet haben. Der Sitz
des Eies kann ein intra- oder extrauteriner gewesen sein. In circa der
Hälfte aller Fälle ist der Abgang einer Blasenmole voraufgegangen. — Die
Cardinalsymptome sind die einer eminent malignen Uterusgeschwulst:
Blutungen von bedrohlicher Stärke mit folgender schwerster Anämie und
rapidem Kräfteverfall, intrauterine Jauchung, häufig von allgemeiner Sepsis
begleitet; wenig Schmerzen. Der Tod erfolgt sehr oft an Sepsis oder an
Entkräftung, nachdem noch ante finem Symptome dazutreten, die von den
Metastasen ausgehen, z. B. besonders Lungensymptome. Meist schliesst sich
das Krankheitsbild direct an das Spätwochenbett an, doch kann, wie oben
erwähnt, eine längere Zeitdauer dazwischen liegen. Die Krankheit dauert
kaum länger als ein halbes Jahr, meist kürzere Zeit.
Bei der Section findet man an der meist im höchsten Grade anämisch-
kachektischen Leiche einen primären Tumor in der Uterushöhle (beziehungs¬
weise in selteneren Fällen in der Tuba Fallopii oder in der Vagina). Der¬
selbe hat ein hochrothes Aussehen, eine wenig feste Consistenz, inserirt
breitbasig, ist an der Oberfläche zerfallen, gangränös, besitzt keine Kapsel.
Auf der Schnittfläche ist er hochroth, von ausgedehnten frischen und älteren
hämorrhagischen Herden durchsetzt. An solchen Stellen hat er ein mehr
solides Gefüge. Wo das nicht der Fall, d. h. das Tumorgewebe unverändert
ist, besteht dasselbe aus röthlichen Strängen und Balken von netzförmiger
Anordnung, mit Blut in den Gewebsmaschen. Das Bild ähnelt im ganzen
dem einer Placenta, beziehungsweise eines Placentarrestes, welcher einige
Zeit nach Ausstossung der Frucht im Uterus retinirt wurde und hier die
bekannten Veränderungen durchgemacht hat (Nekrobiose und fibrinoide Ent¬
artung der Zotten, Gerinnung und Verödung der intervillösen Räume, even¬
tuell Verjauchung des Gewebes), welche zur Bildung des sogenannten Placentar-
polypen führen.*
* Ehe man über die Histogenese dieser Tumoren aufgeklärt wurde, hat man sie als
»hämorrhagisches Sarkom« diagnosticirt und sah dann in der vorausgegangenen Schwanger¬
schaft nur ein zufälliges Ereigniss, ohne directe Beziehung zur Geschwulstbildung. Auch
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78
Chorioepithelioma.
Der Tumor setzt sich nicht mittels scharfer Grenze vom uterinen
Gewebe ab, sondern dringt in dasselbe ein und durchsetzt die Uteruswand
meist bis an das Peritoneum. Auch kann ein eigentlicher intrauteriner Tumor
infolge Zerfalls fehlen, vielmehr nur scheinbar eine septisch-nekrotische
Placentarstelle vorliegen, und erst bei der Durchschneidung der zugehörigen
Uteruswand sieht man, dass diese zerstört und durch Tumorgewebe ersetzt ist.
Bei der Section der anderen Organe findet man sehr oft metastatische
Knoten von demselben Bau wie der Primärtumor. Doch sind dieselben kleiner
(meist circa haselnussgross), etwas weniger roth (die Hämorrhagien sind
nicht so ausgedehnt) und ohne Zeichen des septischen Zerfalls (ausser wenn
sie an der Körperoberfläche sitzen). Lieblingslocalisationen sind: Scheide
(und grosse Labien), Lunge, Milz.
Die Diagnose der Erkrankung ist in fortgeschritteneren Fällen
aus dem oben beschriebenen klinischen Bilde leicht zu machen, doch kann
sie dann nur dazu dienen, eine absolut schlechte Prognose zu stellen. Hin¬
gegen ist der Tumor im Anfangsstadium nur aus ex utero entnommenen
Stückchen mit Hilfe des Mikroskops und nur von einem guten Kenner der
Eihistologie diagnosticirbar (und selbst ein solcher kann Irrthümern unter¬
liegen, s. darüber weiter unten).
Die Prophylaxe besteht darin, erstens dafür zu sorgen, dass nach
rechtzeitigen Entbindungen oder Aborten keine Eireste Zurückbleiben ; zweitens
alle bei Blutungen ex utero entfernten Gewebstheile genau mikroskopisch
zu untersuchen; drittens Frauen, die eine Blasenmole ausgestossen haben,
lange Zeit noch in Beobachtung zu behalten und bei Blutungen sofort einem
Probecurettement zu unterziehen.
Wenn recht früh die Diagnose gestellt wird, so kann die Therapie,
welche ausschliesslich in der Hysterektomie besteht, eventuell das Leben
retten. Dies ist bis jetzt, wie es scheint, in einigen wenigen Fällen gelungen.
Meist kommt die Totalexstirpation des Uterus zu spät, die Frauen erliegen
einem Recidiv oder den Metastasen.
Wir haben es somit klinisch mit einem der malignesten Krankheits¬
bilder zu thun, die überhaupt bekannt sind.
Ehe wir den hochinteressanten histologischen Bau dieser Tumoren
genauer beschreiben, ist es nöthig, die mikroskopische Anatomie des
normalen und pathologischen Eies zu erörtern. Die Kenntniss der¬
selben ist conditio sine qua non zum Verständniss des Aufbaues des Tumors,
denn dieser geht, um das Wichtigste vorweg zu nehmen, von zurückge¬
bliebenen Eiresten aus.
Das geschwängerte menschliche Ei setzt sich, wie bekannt, auf der
Uterusschleimhaut fest, die letztere umkapselt es allseitig (Decidua capsu-
laris). Sprossen, die sich baumförmig verästeln, wachsen aus dem Ei heraus
(Chorionzotten) und dringen tief in das mütterliche Gewebe ein; hier tauchen
sie in grosse, mütterliche Blutlacunen ein, aus denen sie die Nahrung für
den Fötus beziehen. Die Chorionzotten sind zweifellos Organe des Kindes
und darum im wesentlichen aus fötalem Gewebe aufgebaut.
Sie bestehen aus einem handschuhfingerartigen papillären Fortsatz des
kindlichen Mesoderms (des Bindegewebes der Allantois) mit fötaler zu- und
abführender centraler Capillare und sind von einem Epithel überkleidet.
Dieses Epithel hielt man anfangs zunächst allgemein für kindliches Epithel
(Ektoderm) (Kölliker 8 ), Orth 9 ) u. v. a.).
Es unterscheidet sich von allen anderen Epithelien des menschlichen
Körpers durch die principielle Eigenschaft, ein »Syncytium« zu bilden. Dar¬
mag ein Theil der sogenannten »destruirenden Plaeentarpolypen« und destruirenden Blasen¬
molen (Krieger 0 ), Waldkykr und Jarotzky 5 ), Volkmann 4 ), Zahn 7 ), v. Kahlden 3 ) hierher
gehören.
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Chorioepitheliomä.
79
unter versteht man ein Protoplasmaband, in welchem von Strecke zu Strecke
ein Kern liegt; die einzelnen Zellen jedoch heben sich nicht scharf von ein¬
ander ab, die Zellgrenzen sind undeutlich bis unsichtbar. Die Bildung von
Ghorionzotten vollzieht sich immer so, dass zuerst dieses Epithel durch
Wucherung an einer Stelle (im ganz jungen Ei in der gesammten Peripherie
des Eies) sich verdickt, eine solide Knospe liefert, in welche erst secundär
das fötale Bindegewebe mit Gefässen hineinwächst. Diese Knospen sind
wieder Syncytien, d. h. Protoplasmaballen mit Kernen ohne Zellgrenzen. Sind
sie daher im mikroskopischen Schnitt von dem allgemeinen Chorionepithel
isolirt, so sehen sie Riesenzellen ähnlich (»Placentarriesenzellen«). Solche
Riesenzellen findet man mitunter bis tief in der Decidua,. besonders in
Lymphspalten derselben, oft in beträchtlicher räumlicher Entfernung von
dem fötalen Antheil der Placenta.
So schien die Anatomie der Chorionzotte id est der Placenta (denn
diese baut sich im wesentlichen aus Chorionzotten auf), klargestellt und
Einigkeit unter den Forschern zu bestehen. Da beschrieb Langhans eine
einfache Schicht von Zellen, welche zwischen dem sicheren Bindegewebe der
Zotte und dem bis dahin als sicher angesehenen syncytialen Epithel der
Zotte lag. Anfangs hielt er diese Schicht für die oberste Lage der meso¬
dermal-fötalen Bindegewebszellen in der Zotte; später sah er sie als Epi-
thelien an. Es sind grosse, blasige Zellen mit deutlichen Zellgrenzen, poly¬
gonal oder rund, mit einem wenig den sauren Farbstoff, z. B. Eosin, an¬
nehmenden Protoplasmaleib. (Diese Zellen stehen also im Gegensatz zu den
Zellen des Syncytiums, dessen Protoplasma sich mit Eosin tief roth färbt.)
Der Kern der Zeile ist gleichfalls rund, von normaler Grösse und mit nor¬
malem Chromatinnetz. (Wiederum im Gegensatz zu den Kernen des Syncy¬
tiums, in welchen das Chromatin »verklumpt« ist, so dass die Kerne wie
unregelmässig-zackige Farbklexe im Präparate erscheinen.)
Die Zellschicht, von nun ab LANGHANs'sche Zellschicht genannt, ist
inconstant; nicht in allen Eiern sieht man sie, die Bedingungen, unter
welchen man sie findet, sind unbekannt, in älteren Placenten fehlt sie voll¬
ständig. Die Mehrzahl der Untersucher hält sie für epithelial, und zwar
für das echte fötale Ektoderm, eine kleinere Zahl der Autoren spricht sich
noch heute für ihre mesodermale Herkunft aus. Auch die Zellen dieser Schicht
wuchern vielfach in jungen Eiern isolirt, ebenso wie die erwähnten Placentar-
riesenzellen des Syncytiums; man bezeichnete die freien Zellhaufen, die
so entstehen, vielfach als »Zellknoten der Placenta«. Auch legen sich
wuchernde Reihen dieser Zellen an die Decidua basaiis (serotina) häufig
direct an. Da nun die bekannten Deciduazellen mitunter den Zellen der
LAXGHANS-Schicht recht ähneln, so kann man in dieser »Umlagerungs¬
zone« keineswegs von jeder Zelle mit Sicherheit angeben, ob sie fötal oder
matern ist.
Als die Erkenntniss vom Bau der Placenta so weit fortgeschritten war,
haben sich mehrere Forscher (Merttexs n ), Kos.smanx l -), Guxsser 13 ), Se-
lenka u ) u. a.) der schon früher gelegentlich ausgesprochenen Behauptung
angenommen, dass das Zellensyncytium nicht fötales, sondern das uterine
Epithel sei; sie haben diese Behauptung durch die Beschreibung mehrerer
junger Eier zu stützen versucht. Während man früher meinte, dass das
befruchtete Ei sich im Uterus an epithelentblösster Schleimhaut inserire,
behaupteten diese Autoren, dass das Uterinepithel auch an der Eieinbettungs¬
stelle persistire und mit dem fötalen Ektoderm gemeinsam die hervor-
spriessenden und in die mütterlichen intervillösen Räume eintauchenden
Chorionzotten überziehe. Sie stützen sich auf gewisse Uebergangsbilder, so¬
wie auf die Wahrnehmung, dass das mütterliche Uterusepithel in hohem
Grade befähigt ist, auch ausserhalb der eigentlichen Placenta ein Syncytium
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80
Chorioepithelioma.
zu bilden (Kossmann). Was die letztere, unzweifelhaft richtige Thatsache
betrifft, so ist dieselbe dahin erweitert worden, dass überhaupt im schwan¬
geren Uterus bei Mensch und Thier nahezu sämmtliche concurrirende Ge¬
webe (Epithel-, Endothel-, Binde-, ja selbst Muskelgewebe) Neigung zeigen,
Syncytien zu bilden (L. Fraenkel 16 ), Schmidt 10 ), so vor allem auch der
fötale Ektoblast.
Was jedoch die Frage der primären Eiinsertion betrifft, ob auf epi-
thelialisirtem oder nicht mit Epithel bedecktem Mutterboden, so war es beim
Menschen nicht möglich, hierüber eine Entscheidung zu treffen, weil jedes
untersuchte Ei vom mütterlichen Gewebe rund umhüllt war, somit nirgends
die Möglichkeit bestand, die Epithelien bezüglich ihrer Herkunft zu sondern.
Dennoch ist in neuester Zeit die Entscheidung, wie es scheint, herbeige¬
führt. Peters 17 ) hat das jüngste, bisher bekannte Ei beschrieben, welches
noch nicht ganz im mütterlichen Gewebe eingebettet ist, und hier hat sich
erkennen lassen, dass das mütterliche Epithel sich nicht am Aufbau der
Placenta betheiligen kann, weil es in einiger Entfernung von der Eiinsertions-
stelle in der ganzen Peripherie mit scharfer Grenze abschneidet. Das Ei
liegt also im mütterlichen Bindegewebe, demnach kann ein Epithel, welches
die Chorionzotten bedeckt, nur ein fötales Epithel sein. — Trotz dieses
mit Sicherheit festgestellten Befundes von Peters könnte nun dennoch
die äussere, die Chorionzotten überziehende Deckschicht materner Her¬
kunft sein. Sie könnte entweder aus syncytial verschmolzenen mütterlichen
Bindegewebs-, id est Deciduazellen bestehen oder das Endothel der mütter¬
lichen erweiterten Capillaren, der intervillösen Räume sein, welches die
Chorionzotten vor sich herstülpen würden. (Bekanntlich herrschte lange Zeit
darüber Streit, ob die Chorionzotten das mütterliche Endothel vor sich
herstülpen oder durchbrechen. Jetzt nimmt man fast allgemein das letztere
an.) Die deciduale Herkunft des Zottensyncytiums wird von modernen
Autoren kaum mehr vertreten und hat nicht die geringste Wahrscheinlich¬
keit. Die erstere Ansicht, welche das Zottensyncytium für eine matern-endo-
tbeliale Bildung erklärt, wird in neuerer Zeit wieder stärker betont (Johann-
sen 18 ), Freund 19 ), Pfannenstiel 20 ). Indessen können die Anhänger dieser
Theorie ausser Uebergangsbildern, welche leicht täuschen, und gewissen theore¬
tisch Raisonnements positive Beweise zur Erhärtung ihrer Meinung nicht
anführen. Peters glaubt, auch die endotheliale Natur des Zottensyncytiums
an seinem jungen Ei ausschliessen zu können und ist wie die grösste Zahl der
Placentarkenner nunmehr fest überzeugt, dass der äussere syncytiale Ueber-
zug der Chorionzotten dem kindlichen Ektoderm angehört. Damit wäre
auch die Histologie der Eiinsertion und der Chorionzotte klargestellt, nur
dass noch nicht volle Einigkeit über das Wesen der LANGHANS-Schicht herrscht.
Doch nimmt, wie erwähnt, auch von dieser nunmehr eine grosse Majorität
der Forscher an, dass sie die tiefere Lage des kindlichen Epithels sei.*
Gleichzeitig mit den neueren Forschungen über die Anatomie des
jungen Eies wurde das Studium der Histologie der Blasenmole erneut in
Angriff genommen, hauptsächlich um den zunächst etwas geheimnissvollen
Zusammenhang zu eruiren, welcher zwischen dem malignen Deciduom von
Saenger und Pfeiffer und diesem Product der Eidegeneration zu walten
schien. Bekanntlich verdanken wir Virchow 22 ) unsere erste Kenntniss des
anatomischen Baues der Trauben- oder Blasenmole. Er fand, dass jedes
einzelne der grösseren und kleineren Bläschen, welche eine Trauben-
* Hier sei noch erwähnt, dass Peters die ganze bisherige Lehre von der »Umwallung
des Eies« durch mütterliche deciduale Schleimhaut leugnet, vielmehr annimmt, dass das Ei
in das mütterliche Bindegewebe hineinkommt und demnach unter dem Niveau der Schleim-
hautoberfläche liegt. Dieselbe Meinung verficht Graf Spee 21 ) und hat sie für das Meer¬
schweinchen erwiesen. Für den Menschen sind weitere Bestätigungen abzuwarten.
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Chorioepithelioma.
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mole zusammensetzen, eine einzelne Chorionzotte darstellt. Dieselben sind
ausserordentlich vergrössert und können bis zu Kirsch-, ja Pflaumengrösse
heran wachsen. Durch die mikroskopische Untersuchung stellte Virchow
fest, dass es das bindegewebige Stroma der Chorionzotte ist, welches die
Vergrösserung hauptsächlich betrifft. Dieses (sonst typisch embryonale) Binde¬
gewebe ist hierbei in ein mächtiges Schleimgewebe verwandelt. Virchow
sah die ganze Bildung als eine echte Geschwulst an, als ein Myxom der
Chorionzotten.
Virchows Lehre bestand lange Jahre völlig unangefochten, bis Mar¬
chand 28 ) 1895 ihre Richtigkeit bestritt. Er zeigte, dass der bindegewebige
Grundstock der Chorionzotte zwar in Schleimgewebe übergeht, aber nicht
in Myxomgewebe, d. h. es kommt zu einer schleimigen Degeneration, nicht
zur Bildung einer echten, activ wuchernden Schleimgeschwulst. Marchand
und nahezu gleichzeitig L. Fraenrel 24 ) wiesen nach, dass allerdings von
einer activen und progressiven Wucherung in der Blasenmole gesprochen
werden kann. Diese betrifft aber nicht das Bindegewebe, sondern das Chorion¬
epithel. Sowohl das Zottensyncytium, wie die LANGHANs’sche Zellschicht
bilden ausgedehnte Wucherungsherde. Dieselben gehen von der Oberfläche
der Zotten aus und wuchern in ausgedehnter Weise in die intervillösen
Räume hinein. Ja Marchand hat speciell Abkömmlinge des Syncytiums (die
sogenannten syncytialen Wanderzellen) bis tief in die Uterussubstanz ver¬
folgen können, während J. Neumann 2ß ) dieselben im Chorionbindegewebe an¬
traf. — Alle diese Wucherungen finden sich in jedem jungen Ei, besonders
in Abortiveiern, niemals jedoch in der Ausdehnung und Häufigkeit wie in
den Blasenmolen.
Nachdem wir uns mit den neueren Forschungen über die Histo- und
Pathologie des Eies bekannt gemacht haben, kehren wir zu unserem Aus¬
gangspunkte, dem früher Deciduoma malignum genannten Krankheitsbilde
zurück und erörtern die mikroskopische Anatomie dieser interessanten Ge¬
schwulstart.
Mikroskopische Schnitte durch den Tumor ergaben folgendes Bild: Zu¬
nächst herrscht in ausgedehnter Weise die Gewebsnekrose vor. Man kann
viele Gesichtsfelder bei schwacher Vergrösserung absuchen, ohne auch nur
ein einziges erhaltenes Gewebselement zu finden. Man findet dunkel tin-
girte Ballen und Schollen ohne jede Structur, nekrotisch oder wenigstens
nekrobiotisch gewordene Gewebsreste, die eine Diagnose unmöglich machen.
Zweitens sieht man reichlich Fibrin und in fibrinoider Art degenerirtes Ge¬
webe. Alsdann grosse, freiliegende Blutherde, frische, ältere und ganz alte.
Die ausgedehnten Hämorrhagien sind ein besonderes Charakteristicum des
Tumors. Weiterhin findet man Blut- und Lymphgefässe, besonders sehr stark
erweiterte Blutcapillaren in grösserer Anzahl. So hat man oft viele Prä¬
parate von den verschiedensten Stellen des Tumors anzufertigen und zu
durchmustern, ehe man auf wirkliches und wohl erhaltenes Tumorgewebe
trifft. Dieses besteht aus zunächst scheinbar sehr verschiedenen Elementen,
welche wir in der historischen Reihenfolge, wie sie beschrieben wurden,
hier besprechen wollen.
Einmal findet man sehr grosse, polygonale Zellen, deren Protoplasma
sich tief dunkel mit dem sauren Farbstoff (z. B. mit Eosin tiefroth) färbt. Sie
haben einen relativ kleinen, unregelmässig zackigen Kern, welcher den Kern¬
farbstoff (z. B. Hämatoxylin) sehr stark annimmt. Diese Zellen liegen theils
in Reihen aneinander, theils frei in den Resten der Schleimhaut und Muscu-
latur des Uterus mit einem feinen bindegewebigen Stroma zwischen den
einzelnen Zellen, welches offenbar dem uterinen Mutterboden entstammt.
Solche Zellen haben einige Aehnlichkeit mit manchen Formen der Decidua-
zellen. Es erscheint daher durchaus verständlich, dass die ersten Unter-
En cvclop^rj^hrbücher. IX.
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82
Chorioepitheüoma.
sucher, besonders Saenger, sich dahin entschieden, dass mit Berücksichti¬
gung dieser Aehnlichkeit und der voraufgegangenen Schwangerschaft es
sich in diesem Tumor um ein grosszelliges Sarkom handle, das von den Deci-
duazellen (das sind bekanntlich die durch Schwangerschaft charakteristisch
veränderten Bindegewebszellen der Uterusschleimhaut) seinen Ausgang nehme
(»Sarcoma deciduo-cellulare uteri«). Saenger und spätere Autoren fanden
dann einige Protoplasmamassen, die in sich eine Anzahl Kerne bargen. Man
hielt diese für dem Sarkom eigenthümliche Riesenzellen. Der sichere Be¬
weis, dass ein Deciduazellensarkom vorliege, konnte übrigens nicht erbracht
werden. Derselbe hätte darin bestehen müssen, dass man Geschwulstzellen
gesehen hätte, welche von w'ohlerhaltenem Deciduagewebe ausgingen, und
das war nicht der Fall.
Kaum waren Saenger s Publicationen erschienen, so folgte in schneller
Folge die Veröffentlichung immer neuer Fälle, die zunächst Saenger’s histo-
genetische Auffassung der Tumoren ganz zu bestätigen schienen, wenn auch
der stricte Beweis in Form des directen, unter dem Mikroskop zu beob¬
achtenden Zusammenhanges mit echter Dicidua ausstand und heute noch
aussteht.
Einige Jahre nach Saengers erster Publication brachte Gottschalk 2fe )
eine völlig neue und unerwartete Auffassung der Geschwulstart vor. Nicht die
mütterliche Decidua. sondern die kindlichen Chorionzotten sollen die Ursprungs¬
stelle des Tumors darstellen. Der Entstehungsmodus ist folgender: Eine An¬
zahl Chorionzotten degeneriren in toto maligne. Das bindegewebige Stroma
wird sarkomatös, der epitheliale, syncytiale Mantel carcinomatös. Das Ganze
nannte er wegen Prävalenz des angeblich sarkomatösen Antheils das »Sarkom
der Chorionzotten«. Die Bilder, auf welche er sich stützte, waren folgende:
Er sah in seinem Falle runde Herde heller Zellen. Diese sind ziemlich gross,
blasig, mit relativ kleinem Kern. Letzterer färbt sich nicht besonders intensiv
mit dem Kernfarbstoff, der Zellleib noch weniger mit der Gegenfarbe. Solche
meist runde Zelleomplexe waren von Protoplasmabändern umgeben, die dem
wuchernden Zottensyncytium, wie wir es oben beschrieben haben, genau
entsprachen. Die Zelleomplexe hielt Gottschalk für das malign-sarkomatös
gewordene Zottenstroma, die Protoplasmabänder für das malign* carcinomatös
gewucherte Zottenepithel. Obwohl sich in den Metastasen nur letzteres Ge¬
webe fand, erklärte er, wesentlich unter Waldeyers Einfluss, den Tumor
für ein »Sarkom der Chorionzotte«.
Gottschalks Auffassung, obwohl der heutigen viel näher stehend als
diejenige Saengers, und obgleich sie dasjenige, was heute als richtig be¬
wiesen ist, bereits mit enthielt, hat sich damals nicht und zu keiner Zeit
Anhänger erwerben können, wenngleich der Autor selbst heute noch daran
festhält. Der Hauptgrund für die allgemeine Ablehnung war die Schwierig¬
keit der Vorstellung, dass die einzelnen Zotten maligne degeneriren sollen,
und zwar zum Theil als maligner epithelialer, zum Theil bindegewebiger Tumor.
Wieder mehrere Monate später (1894) beschrieb L. Fraenkel 27 ) einen
klinisch mit den früher als Sarkom der Deciduazellen, eventuell der Chorion¬
zotte gedeuteten Tumoren übereinstimmenden Fall, den er als »vom Epithel
der Chorionzotten ausgehendes Carcinom des Uterus« deutete.
Diese Auffassung ist die jetzt geltende, nachdem sie, wie weiter unten
ausgeführt werden soll, von anderer Seite noch stricter als richtig erwiesen
werden konnte.
Dem Falle L. Fraenkel's (und mehrerer späterer Autoren) fehlten die
hellen Zellen Gottschalk s ganz, nicht nur in den Metastasen, sondern auch
im Haupttumor. Er sah nur die syncytialen Protoplasmabänder und ferner ähn¬
liche Zellen, wie sie Saenger Vorgelegen haben. Erstere führte er auf das
syncytiale Chorionepithel zurück, letztere für davon abgeschnittene Frag-
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Chorioepithelioma.
83
mente oder für solche Zellen, die sich aus dem Verbände des Syncytiums
losgelöst haben und wieder zu einzelnen, frei wuchernden Zellen geworden
sind. (Solche sehen in der That Deciduazellen mitunter bis zum Verwechseln
ähnlich.)
Die syncytialen Massen drangen nun tief in die Uterussubstanz ein,
zerstörten die Musculatur, zerstörten und ersetzten die Wand der Gefässe
(eine besondere Eigenthümlichkeit der syncytialen Tumormassen), drangen
bis auf den Peritonealüberzug des Uterus und durch denselben hindurch
und fanden sich in. den Metastasen.
Der Autor folgerte nun so: Seine Bilder stimmten mit denjenigen von
Gottschalk überein, soweit der rein syncytial-epitheliale Theil in Frage
kommt. Sie stimmten ferner mit Bildern überein, die schon vor längerer
Zeit Meyer 28 ) als gutartige, epitheliale Geschwulst, ausgegangen von den
Chorionzotten, beschrieben hatte. Sie stimmten ferner genau überein mit
den syncytialen Knospen, welche aus den Chorionzotten junger Eier hervor-
spriessen, Bilder von so charakteristischem und eigenartigem Aussehen, wie
wir sie sonst nirgends im menschlichen Körper in annähernd ähnlich typi¬
scher Weise finden. Eine Blasenmole war in diesem Falle vorausgegangen,
also eine Geschwulst der fötalen Chorionzotten. Somit, schloss L. Fraexkel,
haben wir es im wesentlichen mit einer malignen Geschwulst des Uterus
zu thun, welche mit grösster Wahrscheinlichkeit von dem Chorionzotten¬
epithel ausgeht und demnach folgerichtig als Carcinom zu bezeichnen ist.
Dass diese Annahme richtig sei, dafür konnten Apfelstädt und Aschoff 29 ),
J. Neumaxn 80 ), Bulius 81 ) und Gebhardt 32 ) später den directen Beweis er¬
bringen. Was L. Fraenkel trotz eifrigen Suchens in seinem Tumor zu finden
nicht gelungen war (auch in den meisten Tumoren dieser Art infolge Zu¬
grundegehens des Gewebes vollständig fehlt), das fanden diese Autoren in
ihren Fällen: Wohlerhaltene Chorionzotten, mit deren Epithel die Wucherungs¬
elemente in directem Zusammenhänge standen. Das müssen wir nach dem
jetzigen Stande der Beurtheilung der anatomischen Genese von Tumoren für
einen stricten Beweis halten, vor der weiterer Widerspruch nicht bestehen kann. *
Die Auffassung L. Fraenkel’s, welcher seinen Tumor ausschliesslich
vom Chorionepithel herleitete, bestätigte als erster Marchand. s5 ) Zwar
konnte auch er nicht den von den oben erwähnten Autoren später er¬
brachten directen Nachweis führen, aber es gelang ihm durch seine Arbeiten
auf diesem Gebiete, die grosse Majorität der Pathologen und Gynäkologen
schon jetzt zu dieser anfangs etwas befremdlichen AufFassung zu bringen.
Marchand sprach sich auch sogleich dahin aus, dass alle bisher beschriebenen
angeblichen Sarkome der Deciduazellen und der Chorionzotte »maligne
Chorioepitheliome« (so nannte er mit Pick die Tumoren) seien. Schliesslich
corrigirte er noch Gottschalks Auffassung dahin, dass dessen helle Zellen-
complexe, welche auch Marchand fand, nicht Zottenstromazellen, sondern
Abkömmlinge der LANGHANs'schen Schicht seien.
Die letztere Annahme Marchand s hat sehr viel Wahrscheinlichkeit.
Einwandfrei erwiesen konnte sie insofern noch nicht werden, als es noch
nicht gelungen ist, die heilen Turaorzellen in Verbindung mit der LANGHANS¬
schen Zellschicht einer wohlerhaltenen Chorionzotte zu sehen, während,
wie erwähnt, vom syncytialen Ueberzug der Chorionzotten der Nachweis
des Zusammenhangs mit dem syncytialen Antheil des Tumors geführt ist.
Immerhin ist die Betheiligung dieser hellen Zellcomplexe an dem Auf¬
bau der Tumoren eine mässige und tritt an Bedeutung hinter dem syncy-
* Nur wenige Autoren (Veit 35 ), Londoner geburt3hilfl. Gesellsch. 3 ‘) sträuben sich auch
heute noch, die chorioepithelioraatöse Natur der Tumoren anzuerkennen. Nach ihnen han¬
delt es »ich um ein durch voraufgegangene oder nachfolgende Schwangerschaft complicirtes
gewöhnliches grosszelliges Sarkom. Die Chorionzotten sind da hineingerathen und an ihr
Epithel haben sich die syncytialen Tumormassen nur angelegt.
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84
Chorioepithelioma.
tialen Antheil der Tumoren weit zurück. Das geht schon zur Genüge aus
den zwei Thatsachen hervor, dass es eine Anzahl maligner Chorioepithe-
liome giebt, die nur aus syncytialen Elementen bestehen, und dass bei einer
beträchtlichen Anzahl der Tumoren, die noch die hellen Zellen im Primär¬
tumor besitzen, dieselben in den Metastasen fehlen.
Noch wenige Worte über den Primärsitz des Leidens. Dass derselbe
meist im Fruchtbehälter gelegen ist, ist selbstverständlich. War nicht der
Uterus der Sitz der Frucht, sondern die Tube, so entwickelt sich in dieser
der Tumor; das ist beobachtet. Wie aber verhält es sich, wenn an anderen
Orten, z. B. in der Scheide (Schmore 86 ) oder an der Portio (v. GrfiRARn 37 ) der
originale Tumor sitzt? Auch dass zu erklären, stösst auf keine Schwierig¬
keiten. Bekanntlich haben die Chorionzotten, welche tief in den mütter¬
lichen Blutstrom eintauchen und lose in diesem flottiren, die Eigenschaft,
sich leicht loszureissen und theils mittels retrograden Transportes in die
Scheide und Vulva verschleppt zu werden z. B. besonders häufig bei Blasen¬
mole (L. Pick 38 ), theils in andere Organe, z. B. hauptsächlich in die Lunge,
zu gerathen; besonders häufig beobachtet man das infolge der eklamp-
tischen Krampfanfälle. An jedem Orte, wo eine Chorionzotte sich
niederlässt und ernährt wird, kann sie zur Bildung eines Chorio-
epithelioma malignum führen.
Zum Schluss noch die Warnung, man möge nicht zu viele Chorio-
epitheliome diagnosticiren. Der syncytale Bau allein genügt nicht zu ihrer
Diagnose. Wie oben ausgeführt, bilden eine Anzahl anderer Gewebe, wie es
scheint, besonders in der Schwangerschaft, gleichfalls Syncytien. * (v. Herff Sö )
beobachtete ein Sarkom am Musculus biceps des Oberarmes, welches einem
Chorioepitheliom sehr ähnlich sah.) Es ist auch durchaus nicht auszu-
schliessen oder pathologisch-anatomisch unwahrscheinlich, dass es Sarkome,
Endotheliome, maligne Deciduome des Uterus geben kann. Und schliesslich
hüte man sich vor der Verwechslung der Bilder, welche durch Wucherung
des Syncytiums und der LANGHANS schen Zellschicht, besonders in der soge¬
nannten »Umlagerungszone« der Uterusschleimhaut nach Abort und Blasen¬
mole, erzeugt werden, mit malignem Chorioepitheliom. Dieselben Kriterien*
welche in der übrigen Pathologie zwischen gut- und bösartigen Zellwuche¬
rungen unterscheiden lassen, müssen auch hier angewendet werden. Erst
in der Schrankenlosigkeit der Wucherungen, ihrem atypischen Charakter
und in der Substitution der normalen Gewebe durch sie liegt das Kriterium
der Malignität. Transport typischer syncytialer Knospen auf dem Blutwege
bis tief in die Uterussubstanz hinein, ja selbst in andere Organe, beweist
nach dem oben Ausgeführten durchaus nicht die Malignität.
Fassen wir zum Schlüsse das Gesagte zusammen, so haben wir
es in den hier zur Besprechung gelangten malignen Tumoren des
Uterus mit einer Geschwulst von äusserster Bösartigkeit zu thun,
welche ihren primären Sitz gewöhnlich im Uterus hat. Sie kann nur
bei solchen Frauen entstehen, die zu irgend einer Zeit ein befruch¬
tetes Ei, welches sich eingenistet hat, getragen haben. Von zu¬
rückgebliebenen Eiresten, und zwar im wesentlichen vom syn¬
cytialen Epithel der fötalen Chorionzotten entsteht der maligne
epitheliale Tumor. Es handelt sich demnach um eine primär
kindliche Geschwulst. Diese jedoch wächst nicht in den Fötus
hinein. Das Kind kann im Gegentheil lebend und gesund vor der
Entstehung der Geschwulst das Licht der Welt erblickt haben,
sondern infolge der innigen Verquickung des kindlichen Epithels
* Schon aus diesem Grunde ist der Name »Syncylioma malignum«, mit welchem das
Chorioepitheliom vielfach belegt wird, kein sehr zweckmässiger.
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C hör ioepi thelioma,
85
der Eihüllen mit der Uterussubstanz wächst das Carcinom in
den Uterus hinein und führt den Tod der Mutter herbei. Das ist
freilich ein in der gesammten Pathologie unerhörtes Novum. Es
wird verständlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass im
Uterus in der Gravidität auch schon normalerweise eine innige
Durchmischung der Gewebselemente zweier Lebewesen — der
Mutter und des Kindes — stattfindet wie sonst nirgends im
menschlichen Körper. Wir haben hier demnach einen Anklang
an die CoHXHEiMsche Theorie der Geschwulstbildung. Versprengte
embryonale Keime im wahren Sinne des Wortes sind es, aus
welchen das Chorioepithelioma malignum entsteht. Freilich nicht,
wie Cohnheim annahm, zurückgebliebene fötale Keime aus der
eigenen Embryonalzeit des Trägers, sondern aus der eines
Tochterindividuums.
Literatur*: *) M. Saenger, Ueber Sarcoma deciduo-cellulare und andere deciduale
Geschwülste. Arch. f. Gyn. XLIV. — 2 ) V. Pfeiffer, Ueber eine eigenartige Geschwulstform
des Uterusfundus (Deciduoma malignum). Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 26. — 3 j v. Kahl-
den, Ueber destruirende Placentarpolypen. Centralbl. f. allg Path. und path. Anat. II, Nr. 1
und 2. — 4 ) Volkmann, Ein Fall von interstitieller destruirender Molenbildung. Virchow’s
Archiv. XLI. — 6 ) Jarotzky und Waldeykr, Traubenmole in Verbindung mit dem Uterus.
Intraparietale und intravasculäre Weiterertwicklung der Chorionzotten. Ebenda. XLIV. —
•) Krieger, Fall von interstitieller Molenbildung. Beitr. z. Geburtsh. und Gyn. X. — 7 ) Zahn,
Ueber einen Fall von Perforation der Uteruswanduug durch einen Placentarpolypen, mit
nachfolgender Haematocele retrouterina. Virchow’s Archiv. XCVI. — 8 ) Köllikeb, Entwick¬
lungsgeschichte. — v ) Orth, Das Wachsthum der Placenta foetalis und Boll’s Princip de9
Wachsthums. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. II. — 10 ) Langbans, Ueber die Zellschicht des
menschlichen Chorion. Festschr. f. Hf.nle. 1882. — ll ) Mebttens, Beiträge zur normalen und
pathologischen Anatomie der menschlichen Placenta. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. XXX. —
l -) Kossmann, Zur Histologie der Extrauterinschwangerschaft, nebst Bemerkungen über ein
sehr junges, mit der uterinen Decidua gelöstes Ei. Verhandl. der Berliner geburtsh. Gesell¬
schaft. Juli 1893. — lü ) Gunsöer, Ueber einen Fall von Tubenschwangerschaft. Centralbl.
f. allg. Path. und path. Anat. 1891, Nr. 6. — 14 ) Selenka, Zur Entstehung der Placenta des
Menschen. Biolog. Centralbl. 1890, Nr. 10. — 16 ) L. Fraenkel, Vergleichende Untersuchungen
des Uterus- und Chorionepithels. Arch. I. Gyn. LV. — 16 ) Schmidt, Ueber Syncytiumbildung
in den Drüsen der Uterusschleimhaut bei ektopischer Gravidität. Monatsschr. f. Geburtsh.
und Gyn. VII. — 17 ) H. Peters, Die Einbettung de9 menschlichen Eies und das früheste,
bisher bekannte menschliche Placentationsstadium. Leipzig und Wien 1899. — 18 ) Johannsen,
Ueber das Chorionepithel des Menschen. Monatsschr. f. Geburtsh. und Gyn. V. — ltf ) H. W.
Freund, Ueber bösartige Tumoren der Chorionzotten. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. XXXIV. —
10 ) Pfannenstiel, Zur Frage des Syncytiums nnd des Deciduoma malignum. Centralbl. f. Gyn.
1898, Nr. 23. — 2l ) Graf Spee, Vorgänge bei Bildung der Fruchthöhle u. s. w. Mittheil, des
Vereins schleswig-holstein. Aerzte. 1891, H. 12. — '**) Virchow, Die krankhaften Geschwülste.
I, pag. 405. — 23 ) Marchand, Ueber den Bau der Blasenmole. Zeitschr. f. Geburtsh. und
Gyn. XXXII, Heft 3. — 1 J4 ) L. Fraenkel, Die Histologie der Blasenmolen und ihre Bezie¬
hungen zu den malignen, von den Chorionzotten (Decidua) ausgehenden Uterustumoren.
Arch. f. Gyn. XLIX, Heft 3. — * 5 ) J. Neumann , Beitrag zur Kenntniss der Blasenmole und
des »malignen Deciduoms«. Monatsschr. f. Geburtsh. IV. — 3fl ) Gottschalk, Das Sarkom der
Chorionzotten. Arch. f. Gyn. XLVI. — i7 ) L. Fraenkel, Das vom Epithel der Chorionzotten
aupgehende Carcinom de9 Uterus (nach Blasenmole). Ebenda. XLVIII, Heft 1. — 38 ) H. Meyer,
Ueber einen Fall von zerstörender Wucherung zurückgebliebener myxomatöser Chorionzotten
(Epithelioma papillare corporis uteri?). Ebenda. XXXIII. — **) Apfelstädt und Aschoff,
Ueber bösartige Tumoren der Chorionzotten. Ebenda. L. — 30 ) J. Nkumann, Beitrag zur
Lehre vom »malignen Deciduora«. Monatsschr. f. Geburtsh. und Gyn. III. — öi ) Bulius, Ver¬
handlungen des VII. Gynäkologencongresses. Leipzig 1897. — ai ) Gebhard, Ueber das soge¬
nannte Syncytioma malignum. Zeitschr. f. Geburtsh. und Gyn. XXXVII. — 3< ) Veit, Deci¬
duoma malignum. Handb. d. Gyn. III, 2. Hälfte, 1. Abth. — S4 ) Londoner geburtsh.
Gesellschaft. Resolution in den Sitzungsberichten. 1896, XXXVIII, pag. 171. — y *) Mar¬
chand, Ueber die sogenannten decidualen Geschwülste u. s. w. Monatsschr. f. Geburtsh. und
Gyn. I. — 8<5 ) Scbmorl, Demonstration eines syncytialen Scheidentumors. Verhandl. d. Natur -
* Dieselbe ist eine ausserordentlich ausgedehnte. Es giebt wohl kein zweites Gebiet in
der gesammten Gynäkologie, auf welchem in den letzten 12 Jahren soviel gearbeitet worden
ist. Hier können nur die im Text berücksichtigten Arbeiten angeführt werden, welche für
das Verständniss der Frage von einschneidender Wichtigkeit sind.
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Chorioepitheüoma. — Chromatvergiftung.
forscher-Versammlung (Gyn. Sect.) zu Brannschweig. 1897. — 37 ) v. Güeeard, Verhandl. d.
Naturf.-Versamml. (Gyn. Sect.) zu München 1899. — 38 ) L. Pick, Von der gut- und bösartig
metaßtasircnden Biasenraole. Berliner klin. VVochenschr. 1897, Nr. 49. — 30 ) v. Herff, Ver¬
handlungen d. Gesellsch. deutscher Natur!, und Aerzte, Sect. f. Gyn. Braunschweig 1897.
Ludwig Fraenkel .
Chromatverglftung. Die eigentümlichen ulcerösen Processe.
die sich an der Haut und namentlich an der Nase bei Arbeitern in Chrom¬
fabriken einzustellen pflegen, sind neuerdings in deutschen Fabriken so
überaus häufig aufgetreten, dass sie das Interesse der Gesundheitspflege
erregen müssen, wenn auch die Zahl der in den Chromatfabriken be¬
schäftigten Arbeiter nur eine relativ beschränkte (800—1000) ist. Es muss
aber berücksichtigt werden, dass viele Fälle dieser Art noch jugendliche Indi¬
viduen betreffen, die frühzeitig nicht allein in der Perforation der Nase ein
unheilbares Leiden acquiriren, sondern deren Allgemeinzustand offenbar
theils infolge der Affection der Nase, theils auch durch den verschluckten
Staub in entschiedener Weise geschädigt wird. Entzündung der Nasen¬
schleimhaut kann schon in 14 Tagen, Eiterung in einem Monat und Per¬
foration in 1 / A Jahr eintreten. Viele der Erkrankten leiden an Respirations¬
störungen, namentlich auch an Lungenspitzenkatarrh; nicht selten entwickelt
sich auch ein kachektischer Zustand. Nierenaffectionen, an weiche bei der
Wirkung der Chromate auf das Nierenepithel zu denken ist, sind mit Sicher¬
heit nicht nachgewiesen.
Die grosse Verbreitung der Geschwüre und Perforationen der Nasenscheidewand und
die schlechten Gesundheitsverhältnisse in den Chromatfabriken erweisen namentlich die von
Burghart 1 ) theils nach Mittheilnngen von Fabrikärzten, theils nach eigenen Beobachtungen
zusammengestellten Daten. 1895 zeigten von den Arbeitern der Chromatabtheilung einer
chemischen Fabrik der Pfalz von 142 nur 3 keine Nasenerkrankung, 93 Durchlöcherung der
Nasenseheidewand und 46 erst kurze Zeit Beschäftigte Entzündung oder Eiterung der
Nasenschleimhaut. ln einer Anhalter Chromatfabrik waren 1894 unter 51 Arbeitern nur 11
gesund, bei 32 bestand Perforation des Septum, bei 5 Erosion und bei 3 Röthung und
Schwellung, ln demselben Jahre mussten von 24 eingezogenen Militärpflichtigen aus Anhalt
22 wegen Perforation der Nasenscheidewand dem Landsturm zugewiesen werden; bei der
Aushebung in derselben Zeit waren von 84 Chromarbeitern 82 unbrauchbar, und zwar 74 wegen
Verschwärung der Nasenhöhlen, 3 wegen chronischer Leiden der Athmungswerkzeuge (Lungen¬
spitzenkatarrh) und 4 wegen beider Leiden. In der Bernburger Fabrik, aus der die meisten
der unbrauchbar befundenen Arbeiter stammten, wurden infolge davon alle Arbeiter entlassen,
welche noch nicht ihrer Militärpflicht genügt hatten, und durch Gesunde ersetzt; nichts¬
destoweniger fanden sich einige Monate später unter dem Fabrikpersonal von 288 Arbeitern
52 mit Perforation und 26 mit Aetzbelag in der Nase.
Dass übrigens die Chromverbindungen für Arbeiter anderer Berufs¬
zweige, in denen Chromate zur Verwendung kommen, gefährlich werden können,
ist bekannt. So wurde 1896 in Mittelfranken die Affection der Nase in einer
Fabrik von Sprengstoffen, in welcher Chromverbindungen zur Erhöhung der
Sprengkraft des Fabrikats benutzt wurden, beobachtet.
Die früher vielfach hervorgetretene Ansicht, dass nur bei der Bereitung
des Kaliumbichromats die eigentümliche Nasenaffection entstehe, kann nicht
als richtig angesehen werden. Allerdings ist gerade bei der Darstellung des
Kaliumbichromats aus Kaliumchromat eine besondere Gefahr durch die
chromhaltigen Dämpfe, welche den Pfannen, die dabei benutzt werden,
entsteigen, vorhanden. Aber nicht blos die Dämpfe sind gefährlich, sondern
auch der Staub, der sich in fast jeder einzelnen Phase der Fabrication ent¬
wickelt, manchmal so massenhaft, dass er in der Fabrik Fussboden, Dach¬
gebälk und sämmtliches Inventar überzieht und dass man im Winter in
den Höfen sogar den Schnee auf weite Strecken gelbgefärbt erblicken kann.
Die wesentlichsten hygienischen Massregeln zur Verhütung der Nasen¬
affection bestehen in dem Tragenlassen von Respiratoren oder anderen
Mund und Nase schützenden Vorrichtungen, von denen feuchte Tücher am
zweckmässigsten sind, in den Arbeitsräumen, und Ausspülungen der Nase
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Chromatvergiftung. — Conjunctivitis.
87
nach der Arbeit. Die Einführung dieser in Verbindung mit dem Anhalten
der Arbeiter zur Reinlichkeit und der sofortigen Meldung jeder Erkrankung
haben die Gesundheitsverhältnisse in mehreren Fabriken erheblich gebessert,
so dass z. B. in Griesheim am Main die Zahl der Krankheitstage in der Zeit
von 1889—1895 von 2865 auf 899 herabging. Ueber sonstige Einrichtungen
und den Betrieb von Kaliumbichromatfabriken hat der Bundesrath am
2. Februar 1897 eine besondere Verordnung erlassen, deren einzelne Vor¬
schriften als durchaus angemessen anzuerkennen sind.
Literatur: Burghart, Ueber Chromerkrankungen. Charite-Annalen. 1899, 23. Jahrg.,
pag. 189. Husemann.
Colchisal. Eine von E. Frugera & Co. in New York dargestellte
Specialität, welche für die innere Behandlung der Gicht bestimmt ist und
als Bestandtheile Colchicin und Salicylsäureinethylester enthält.
Literatur: Pharm. Ztg. XLV, pag. 134. Loohisch.
Conjunctivitis« Die bakteriologische Erforschung der Bindehaut¬
entzündungen hat in den letzten Jahren solche Fortschritte gemacht, dass
auch der praktische Arzt nicht achtlos an ihnen vorübergehen darf. Doch
sind wir weder so weit, um die einzelnen Formen nach ihren Erregern in
ein System bringen zu können, noch kennen wir die Erreger für jede
einzelne, bisher als Species geltende Krankheitsform. Der folgenden ganz
aphoristisch gehaltenen Zusammenstellung liegen hauptsächlich zwei Arbeiten
zugrunde: »Sammelreferat der bakteriologischen Arbeiten der Jahre 1897
und 1898« von L. Bach und K. O. Neumann in Würzburg (Zeitschr. f. Augen¬
heilkunde, 1899, I, 6. Heft) und »Ueber die ägyptischen Augenentzündungen«
von Leop. Müller in Wien (Arch. f. Augenhk. 1899, LX, 1. Heft). In der erst¬
genannten Arbeit ist ein ausführliches Verzeichniss der Literatur.
1. Die acute Blennorrhoe wird vom Gonococcus Neisser hervor¬
gerufen. Bei der Blennorrhoea neonatorum ist aber zu bemerken, dass die
durch den Gonococcus hervorgerufene Conjunctivitis einen sehr verschie¬
denen Grad besitzen, sowie dass äusserlich ganz dasselbe Bild durch andere
Mikroben hervorgerufen werden kann (Pneumokokken, Staphylokokken, zu
diesen gehörige Diplokokken, Bacterium coli). Die Folgezustände, die als
chronische Blennorrhoe bezeichnet werden, nennt Müller lieber postblen-
norrhoische Conjunctivitis. Hiebei bilden sich wohl ab und zu auch Körner
und es entsteht das Bild des »Körnertrachoms« oder des »gemischten Tra¬
choms«, diese heilen aber ohne Behandlung ohne eine Spur zu hinterlassen
und haben mit dem specifischen Korn des Trachoms nichts gemein als das
makroskopische oder grobmikroskopische Ansehen (Müller). Bekanntlich
hatte v. Arlt gerade solche Fälle als Beweis betrachtet, dass chronische
Blennorrhoe und Trachom derselbe Krankheitsprocess seien.
2. Trachom. Wir kennen dessen Erreger noch nicht. Nachdem ver¬
schiedene als solche angesehene Kokken die Feuerprobe nicht bestanden,
hat Müller einen Bacillus gefunden, der morphologisch kaum, culturell gar
nicht vom Influenzabacillus verschieden ist, mit diesem aber sicher nicht
identisch sein soll. Müller discreditirt seinen Bacillus nicht dadurch, dass
er ihn als Trachombacillus proclamirt, er spricht mit grösster Reserve nur
aus, dass er es sein könnte. Er fand ihn nicht in allen Fällen von Trachom,
macht aber aufmerksam, wie schwierig auch für den Erfahrenen oft die
Diagnose des Trachoms sei. Er erinnert an die eben erwähnte postblennor-
rhoische Form, an eine andere Form, die er Pseudotrachom nennt, an die
Combination von Pneumokokken und anderen Erregern mit Follikelkatarrh.
Seinen Bacillus fand Müller bisher nur auf der mit typischem Trachom
behafteten Conjunctiva.
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88
Conjunctivitis.
3. Die diphtheritische Conjunctivitis. Man hat diese stets streng
geschieden von der membranösen, croupösen, fibrinösen: bei der einen
Einlagerung des fibrinösen Exsudates in das Gewebe der Conjunctiva, bei
der anderen Auflagerung in Form von Membranen verschiedener Mächtig¬
keit, die sich leicht abziehen lassen, worauf die wenig veränderte Bindehaut
sichtbar wird. Dazwischen standen einige zweifelhafte Fälle: Membranen, dönn,
ganz oder theilweise festhaftend, Bindehaut beim Abziehen leicht blutend,
die man, wenn man sie nicht als Zwischenformen ansehen wollte, ohne sichere
Diagnose lassen müsste. Ausgeschieden werden immer die membranösen
Auflagerungen, die ab und zu bei anderen Conjunctivitiden Vorkommen. Die
Conj. crouposa speciell wurde als eine bei scheinbar beunruhigenden Sym¬
ptomen rasch und günstig verlaufende Form betrachtet.
Als man jedoch den Löffler' sehen Bacillus, den Erreger der
Diphtheritis, auch in den Membranen der Conj. crouposa fand, musste sich
dieses Bild ändern. Aus der im ganzen und grossen harmlosen Conj. crou¬
posa war plötzlich Diphtheritis conj. geworden, und damit die Nothwendig-
keit der Isolirung der Kranken, die Seruminjectionen etc. gegeben.
Allerdings hat sich bald herausgestellt, dass nicht Löfflers Bacillus
allein der Erreger der Entzündung sein muss, dass auch Staphylokokken,
Pneumokokken u. s. w., vor allem aber Streptokokken die tiefe nekrotische,
sowie die membranöse Form bedingen können.
Aber auch betreffs des LöFFLERschen Bacillus müssen die anfäng¬
lichen Ansichten einige Einschränkung erfahren. Der typische Löffler scIio
Bacillus kann nämlich virulent sein oder auch nicht, ausserdem giebt es
aber einen sehr häufigen nicht pathogenen Bacillus, den Xerosebacillus oder
Pseudodiphtheriebacillus, der sich in keiner Weise sicher von dem LöFFLER¬
schen Bacillus unterscheiden lässt, da sich alle als Unterscheidungsmerkmale
angegebenen Eigenschaften als unzuverlässig herausgestellt haben, so dass
nichts als die Untersuchung auf die Giftigkeit durch das Thierexperiment
übrig* bleibt. Aber auch die Giltigkeit dieses Satzes ist bereits angezweifelt und
darauf hingewiesen worden, dass, wie es scheint, auch ungiftige Formen unter
Umständen giftige Eigenschaften annehmen können. LöFFLER'sche Bacillen
wurden auch bei Entzündungen mit Membranbildung gefunden, die nichts
mit Conj. crouposa zu thun haben, ja selbst in den Membranen, welche durch
Abreibungen mit Sublimatlösungen sich bilden, hat man sie nachgewiesen
(Schanz, Coppez).
Eine Klärung der Verhältnisse ist also durch die Bakteriologie in diese
Frage nicht gebracht, worden und es dürfte gerathen sein, sich bei der Ent¬
scheidung der Frage der Prophylaxe und Behandlung (Seruminjectionen) sich
auch jetzt noch vorwaltend an die alten klinischen Erfahrungen zu halten.
Während bei den genannten klinisch zu differirenden Entzündungs¬
formen für jede derselben ein specifischer Erreger gesucht wurde, handelt
es sich bei den folgenden um das allerdings vielgestaltige Bild des Katarrhs,
der durch sehr verschiedene Mikroben hervorgerufen werden kann, ohne
dass sich einzelne Formen abgrenzen lassen. Meist sind es acute Formen
von manchmal beträchtlicher Heftigkeit, die wir bis jetzt mit dem Namen
der Ophthalmia catarrhalis, Ophthalmia catarrhalis epidemica, des Schwel-
lungskatarrhes u. dergl. bezeichneten.
Der Bacillus von Koch-Weeks ist der Erreger einer besonders in
Aegypten häufigen Conjunctivitis, von Sameh La Conjonctivite suraigue ge¬
nannt, von Müller als ägyptischer Katarrh bezeichnet. Das Bild ist das
eines acuten Katarrhs mit Betheiligung der Conj. bulbi, starker Injection,
Oedem und Röthung der Lider, reichlicher Secretion, manchmal mit Bildung
von Pseudomembranen, die schwereren Formen ähneln sehr einer acuten
Blennorrhoe. Die Cornea wird selten afficirt. Der Verlauf ist gutartig, einige
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Conjunctivitis.
89
Touchirungen mit 2%iger Lapislösung genügen, um Heilung herbeizuführen.
Die Krankheit ist in Aegypten pandemisch verbreitet und befällt alljährlich
einen grossen Theil der Bevölkerung.
Der Bacillus wurde ausser in Aegypten auch gefunden in Philadelphia,
Paris, Sienna, London, Brüssel, Hamburg, Wien, Czernowitz, Greifswald.
Die Pneumokokkenconjunctivitis unterscheidet sich klinisch von
anderen Katarrhen nicht. Die Heftigkeit ist eine sehr verschiedene; in den
schwereren Fällen entsteht das Bild der acuten Blennorrhoe. Sind gleich¬
zeitig Follikel vorhanden, kann man leicht zur Diagnose eines Trachoms
verleitet werden. Secretion ist je nach dem Grade der Erkrankung sehr ver¬
schieden. Die Cornea wird selten afficirt. An mehreren Orten sind durch den
Pneumococcus Schulepidemien hervorgerufen worden. Therapie: Zinc. sulfur.;
Touchirung mit 2%iger Lapislösung.
Diplobacillenconjuncti vitis. Die durch den Diplobacillus von Morax
hervorgerufene Entzündung setzt in der Regel langsam unter dem Bilde der
Blepharoconjunctivitis angularis ein, die Augenwinkel werden dabei leicht
wund. Es wurden aber bei dieser Form manchmal auch keine Bacillen ge¬
funden, andererseits fanden sie sich bei Formen mit dem Bilde des acuten
Schwellungskatarrhs. Hornhautaffection ist selten. Die Krankheit kommt
in den verschiedensten Ländern vor und kann endemisch auftreten. Therapie:
Zinc. sulfur.
Wir sehen also, dass die Kiankheit, die wir als Ophthalmia catarrhalis
bezeichnen, durch den Bacillus Koch-Werks oder durch den Bacillus Morax
oder durch den Pneumococcus hervorgerufen werden kann, ohne dass man
aus dem klinischen Bilde einen Schluss auf den Erreger ziehen kann. Auch
die Therapie wird nicht dadurch beeinflusst. Nur Darier macht die Be¬
merkung, es scheine, dass die Koch-Weeks Bacillus Conjunctivitis vom Prot-
argol mehr beeinflusst werde als die Diplobacillen-Conjunctivitis.
Die Streptokokken erregen zwei Formen von Bindehautentzündung.
Die eine seltene Form kömmt hauptsächlich bei Leuten mit Erkrankungen
der thränenableitenden Wege vor. Als nicht seltene Complication wird Iritis
angegeben.
Die zweite Form sind schwere croupöse und diphtheritische Erkran¬
kungen, die häufig zu Complicationen mit Cornealaffectionen führen. Es wurde
ihrer bereits früher gedacht.
Heber Staphylokokkenconjunctivitis wissen wir noch nicht viel.
Die Bakteriologen sprechen sich über sie noch sehr vorsichtig aus. Morax
meint, dass die Staphylokokken an und für sich keine Conjunctivitis her-
vorrufen, wohl aber könne ihre Gegenwart im Verein mit anderen Bakterien
eine Bedeutung erlangen. Als secundäre Verunreinigung soll der Staphylo-
coccus in seinen verschiedenen Spielarten eine grosse Rolle spielen. Auch
steht er in Beziehung zu den ekzematösen Formen und wird von manchen
als Erreger derselben angesehen. Der neben ekzematöser Conjunctivitis auf¬
tretende »Schwellungskatarrh« hat bisher bakteriell negative Resultate
ergeben.
Das Bacterium coli wurde wiederholt als Entzündungserreger ge¬
funden, besonders bei Neugeborenen.
Literatur. Diese ist so umfänglich, dass auf eine Aufzählung verzichtet werden muss.
Ausser dem im Texte angeführten zwei Arbeiten von Bach-Neumann (mit Literatur) und
L. Mülleb mögen hier noch genannt werden: Vossius, Die croupöse Conjunctivitis und ihre
Beziehungen zur Diphtherie. Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Augen¬
heilkunde. 1896, I, 1. Heft. — Uhthoff, Ueber die neueren Fortschritte der Bakteriologie
auf dem Gebiete der Conjunctivitis und Keratitis des Menschen. Ebenda. 1898, II, 5. Heft. —
Bach, Die ekzematösen (skrophulösen) Augenerkrankungen. Ebenda. 1899, III, 1. Heft. —
Schanz, Ueber die diphtheritischen Bindehautentzündungen. Zeitschr. f. Augenhk. 1900, III,
3. Heft. — Hauenschild, Zur Bakteriologie der Conjunctivitis mit besonderer Berücksichtigung
der Schulepidemien. Ebenda. III, 3. Heft. — Junius, Ueber das Vorkommen der acuten
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Conjunctivitis. — Cyanverbindungen.
Pneumokokkenconjunctivitis. Ebenda. 1899, I, 1. Heft. — Nkumann, Sammelreferat über
Mikroorganismen (1899). Ebenda. 1899, II, 3. Heft. — Coppez, Etüde aur la diphterie ocu-
laire. Arch. d'Ophtkal. 1899, XIX, Nr. 10. Beuss.
Crurlfl. Unter diesem Namen wird das Chinolin-Wismuth-Rho-
danat von der Zusammensetzung (C« H 7 N . HSCN) 2 Bi (SCN) Ä in den Handel
gebracht, welches schon früher von A. Rose und von L. Forchheimer in der
Wundbehandlung versucht und neuerdings von Karl Steiner in grösserem
Massstabe gegen Unterschenkelgeschwüre angewendet wurde. Edinger stellte
das in Frage stehende Rhodanat synthetisch dar, von der Ansicht aus¬
gehend, dass an einer etwaigen, rein chemisch wirkenden baktericiden Eigen¬
schaft des Speichels in erster Linie das in demselben vorkommende Rho¬
danat betheiligt sei, und die von Steiner mitgetheilten Krankengeschichten
lassen die Annahme von einer besonders günstigen Einwirkung des Crurins
auf Unterschenkelgeschwüre immerhin zu. Die leichteren Fälle heilten in
durchschnittlich 10—14 Tagen, die hartnäckigsten in durchschnittlich sechs
Wochen.
Das Crurin (Chinolin-Wismuth-Rliodanat) ist ein grobkörniges Pulver
von rothgelber Farbe mit etwas scharfem Geruch, unlöslich in Alkohol,
Wasser und Aether, welches bei 76° C. schmilzt. Mit viel kaltem Wasser,
beim Kochen mit verdünnten Mineralsäuren und längerem Erhitzen mit
Alkalien, tritt, wie bei den meisten Wismuthverbindungen, eine Zersetzung
ein. Sonst ist diese Verbindung sehr beständig und kann lange Zeit auf¬
bewahrt werden. Das Pulver wird täglich zweimal auf die Wunde aufge¬
streut; bei starker Secretion bildet es einen gelblichen Brei, bei geringerer
einen bräunlichen, festhaftenden Schorf, unter dem die Ulcera rasch heilen.
Bei callösen Rändern ist es zur Erweichung derselben zweckmässig, vor
Anwendung des Pulvers Umschläge mit Liqu. Alum. acet. zu machen. Das
Pulver erzeugt nach dem Aufstreuen einen kurzdauernden Schmerz. Es wird
daher bei Geschwüren mit flächenhafter Ausbreitung oder die in die Tiefe
gehen mit Amylum, zu gleichen Theilen gemischt, angewendet.
Literatur: Karl Steiner. Ueber Behandlung der Untersehenkelgeschwüre mit Crurin. —
Edinger, Chinolin-Wismuth-Rhodanat. (Aus Dr. Max Josepu’s Poliklinik für Hautkrankheiten
in Berlin.) Therap. Monatsh. 1900, pag. 22. Loebisch.
Cyan Verbindungen« Das von Kobert als Antidot der Venena
cyanica empfohlene Wasserstoffsuperoxyd bildet den wesentlichen Be¬
standteil eines von Merck x ) neuerdings in den Handel gebrachten Ent¬
giftungsapparates zum Gebrauche bei Vergiftungen mit Blausäure und
Cyankalium. Der Apparat, der für alle Vergolderwerkstätten, chemische
Laboratorien, photographische Ateliers, sowie für Berg- und Hüttenwerke,
welche sich mit Blausäure und Cyankalium zu befassen haben, von Wichtig¬
keit ist und, obschon zunächst für Aerzte bestimmt, doch im Notfälle auch
von Nichtärzten benutzt werden kann, enthält zwei gläserne Kölbchen, von
denen das eine (mit Ä bezeichnet) 3%iges, das zweite (B) 30%ig es Wasser¬
stoffoxyd enthält, ausserdem eine Glasspritze, eine Schlundsonde mit Trichter,
ein Spitzgläschen, eine kleine Feile und eine kleine Zange. Man füllt mit
dem Inhalte des Kolbens A, dessen Spitze an einer unterhalb derselben
durch einen Strich mit der Feile markirten Stelle mittels der kleinen Feile
abgebrochen wird, das Spitzgläschen und saugt die hineingetauchte Glas¬
spritze durch langsames Zurückziehen des Glasstempels bis zur obersten
Marke voll und spritzt den Inhalt unter die Haut. Dies wird alle 3 bis
5 Minuten an möglichst verschiedenen Körperstellen bis zum Eintritt nor¬
maler Athmung wiederholt. Gleichzeitig werden rhythmische Compressionen
der Herzgegend mit der flachen Hand zum Ersätze der natürlichen
Athmung vorgenommen. Ist die Vergiftung durch Verschlucken des Giftes
erfolgt, so füllt man den Behälter des die Utensilien bergenden Blechkastens
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Cyanverbindungen.
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zur Hälfte mit Brunnenwasser und entleert in diesen den Inhalt des Fläsch¬
chens B, fuhrt dann die feuchtgemachte oder eingefettete lange Gummiröhre
durch den Mund in den Magen, setzt dann den Trichter auf und entleert
durch diesen zunächst den vierten Theil der Flüssigkeit. Tritt nicht spontan
Erbrechen ein, senkt man das obere Ende der nochmals mit Wasser zum
Zweck des Nachspülens gefüllten Schlundsonde soweit, dass es tiefer als
das andere Ende zu liegen kommt, wodurch der Magen entleert wird. Diese
Procedur wiederholt man, bis alles Antidot verbraucht und der Kranke fast
wieder normal geworden ist.
Man hat neuerdings wieder auf die Gefahren der Versilberung mit
Cyansilberkaliumcyanid hingewiesen, die für Privatpersonen schon seit
1872 verboten, im grossen jetzt in galvanoplastischen Anstalten vorge¬
nommen wird. Gefährlich ist in diesen für die Arbeiter nur die sogenannte
Handversilberung, d. h. das Bürsten der in die Versilberungslösung getauchten
Kupferplatten mit Schlemmkreide, wodurch in einer Berliner Kunstdruckerei
mehrjährige Erkrankung und der Tod eines mit dieser beschäftigten Arbeiters
bewirkt sein soll; doch sind die Krankheitserscheinungen nicht eben typisch
und namentlich können die vorwaltenden Symptome seitens des Magens
(Magenkrämpfe u. s. w.) recht wohl mit einer im Magen constatirten Fett¬
geschwulst in Zusammenhang gebracht werden. Immerhin ist die Forderung
berechtigt, dass der die Handversilberung besorgende Arbeiter diese nur mit
Handschuhen innerhalb eines Glaskastens ausführe, aus welchem ein Ex¬
haustor die aufgewirbelten Cyanverbindungen sofort entführt, da schon früher
acute Blausäure Vergiftungen beim Versilbern vorgekommen sind. Dass übrigens
die Cyanverbindungen bei ihrer technischen Anwendung factisch relativ
wenig gesundheitsschädlich für die Arbeiter sind, dafür spricht das Fehlen
von Angaben über derartige Vergiftungen aus neuerer Zeit, wo die galva¬
nische Versilberung namentlich im Kunstdruck eine grosse Rolle spielt. 3 )
Auch aus Transvaal, Australien und Amerika, wo jetzt die Goldextraction
mit Cyankalium in grösstem Massstabe betrieben wird, so dass das ver¬
brauchte Quantum 5 Millionen Kilogramm beträgt, ist über gewerbliche
Cyanvergiftungen bisher nichts bekannt geworden. 4 )
Dass in forensischen Fällen von Cyankaliumvergiftung bei
früher Inangriffnahme der Analyse der Blausäurenachweis stets geliefert
werden kann, erhellt daraus, dass Bischoff in acht Berliner Fällen diesen
stets in Materialien führen konnte, welche am Tage der Section oder einen
Tag darauf zur Analyse kamen. Die isolirte Untersuchung von Magen und
Inhalt ergab dabei stets quantitativ bestimmbare Blausäuremengen (5 bis
138 Mgrm.). Die relative Menge kann im Magen und in den unteren Darm¬
partien sehr wechseln; einmal war sie im Darm doppelt, zweimal halb so
gross wie im Magen; in einem Falle war im Darm keine Blausäure nach¬
weisbar. Der Harn gab stets negatives Resultat; die grossen Unterleibs¬
organe stets positives, in der Leber war der procentuale Gehalt 1,08 und
3,4. Ferner fand sich Blausäure im Herzen (1,0—11,9%), im Blut und im
Gehirn (0,97—4%), mitunter auch in den Gesässmuskeln. Weniger Erfolg
scheint die Untersuchung der zweiten Wege bei der Blausäurevergiftung zu
versprechen. In einem Falle von Intoxication mit blausäurehaltigem Bitter¬
mandelöl, in welchem der Tod nach wenigen Minuten eingetreten war, gab
nur die Blutuntersuchung qualitativen Nachweis, auch Benzaldehyd war in
den grossen Unterleibsorganen nicht oder nur spurweise anzutreffen. 5 )
Die Giftigkeit des Rhodankaliums (Sulfocyankaliums) erhellt aus
einem Berliner Vergiftungsfalle, in welchem der Tod eines 58jährigen tabeti-
schen Zauberkünstlers 10 Stunden nach dem Einnehmen von Rhodankalium,
das er zu seinen Künsten behufs Verwandlung von Wasser in Wein be¬
nutzte, erfolgte. Dass das Gift in den verschiedensten Leichentheilen quanti-
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Cyanverbindungen. — Cyclopentadien.
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tativ nachgewiesen werden konnte, ist bei der Empfindlichkeit der Eisen-
reaction nicht auffallend. Von Interesse ist dagegen der anatomische Befund,
indem nicht unbedeutende corrosive Erscheinungen an der Schleimhaut im
oberen Theile der Verdauungswege als Folge des Giftes angesehen werden
müssen. In dem fraglichen Falle fand sich schwache weissliche Verätzung
der vorderen Zungenhälfte, ebenso im unteren Theile des Oesophagus, aus¬
geprägte Corrosion im Fundus und im Pylorustheile des Magens nebst den
angrenzenden Theilen der kleinen Curvatur, mit Extravasaten und Oedem
in der Submucosa, jedoch nirgends über die Muscularis hinausgehend.
Literatur: *) Entgiftungsapparate zum Gebrauche bei Vergiftungen durch Blausäure
und Cyankalium. Merck’s Bericht für 1899, pag. 12. — 2 ) H. Merzbach, Ueber einen Fall
von gewerblicher chronischer Blausäurevergiftung. Hygien. Rundschau. 1898, Nr. 1, pag. 71. —
3 ) Frank, Ebenda, pag. 81. — 4 ) Lesser, Ueber die Vertheilung einiger Gifte im mensch¬
lichen Organismus : Zur Lehre von der Vergiftung mit Cyankalium und Blausäure. Viertel¬
jahrschrift f. gerichtl. Med. 1898, XV, pag. 290. — 5 ) Lesser, Eine Vergiftung mit Rhodan.
Ebenda. 1898, XVI, pag. 97. Husemann .
Cyclopentadien. Dieser aus dem Rohbenzol des Steinkohlen-
theers von Kraemer und Spilker isolirte Kohlenwasserstoff, CjH^ der eine
sehr penetrant betäubend riechende Flüssigkeit von 41° C. Siedepunkt dar¬
stellt, tödtet zu 3,0—3,5 Ccm. pro Kilogramm subcutan Thiere in einigen
Stunden; der Tod erfolgt nach heftigen Krämpfen. Auch in der durch In¬
halation bewirkten Narkose treten Krämpfe auf. Im Unterhautbindegewebe
erregt es heftige, sich weit ausbreitende Entzündung.
Literatur: Elfstrand, Bemerkungen über die Wirkung einiger aliphatischer Kohlen¬
wasserstoffe. Arch. f. experim. Path. 1900, XLIll, pag. 134. Husemann.
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Darm (neuere Untersuchungsmethoden). Es bedarf kaum einer be¬
sonderen Hervorhebung, dass, wenn wir auf dem Gebiete der Darmkrank¬
heiten ebenso erfreuliche Fortschritte erzielen wollen, wie es in Bezug auf
die Kenntniss und Behandlung der Magenkrankheiten in den letzten zehn
Jahren möglich war, wir vor allem eine bessere Einsicht in den Ablauf der
normalen und pathologischen Functionen gewinnen müssen. Noth thut uns
hier eine Verbesserung unserer diagnostischen Hilfsmittel, und diese auf
mannigfachen Wegen für den ganzen Darm oder einzelne Theile zu schaffen,
ist jetzt das hervorstechende, anerkennenswerthe Streben einer Anzahl
Forscher. Man steht hier einer ganz ausserordentlich schweren Aufgabe
gegenüber. Die bis jetzt durch mühevolle Arbeit erzielten Resultate sind
keine sehr entscheidenden, aber was geleistet ist, verdient doch die grösste
Anerkennung und weitgehende Beachtung. Eine Förderung der Diagnostik
der Darmkrankheiten ist bereits unzweifelhaft vorhanden.
Kuhn 1 ) greift die wichtige Frage der Dickdarmsondirung und Darm-
rohranwendung an. Mit seinem federnden Darmrohr gelingt es ihm, bis zur
Flex. lienalis und darüber hinaus vorzudringen; nicht immer, aber, wie er
meint, doch gemeinhin. Durch das Aufblähen des Darmes würden die Schlingen
und speciell die Flex. sigm. aus ihrer Lage gebracht, sie erfahren künstliche
Torsionen und Abknickungen. Man belasse also die Flexur bei der Sondi-
rung so wie sie ist, oder falls man sie vorziehen muss, so geschehe dies nur
in der Richtung nach unten rechts vorn, so also, dass sie in der Haupt¬
sache in die rechte Fossa iliaca zu liegen kommt, wodurch der Winkel
im ScHiEFFERDEUKKR schen Punkt, d. h. an der Uebergangsstelle der Flexur
ins Colon desc. ein möglichst stumpfer wird.
Sahli 2 ) empfiehlt zur diagnostischen und auch therapeutischen Ver¬
wendung Glutoidkapseln. Dieselben, von verschiedenem Härtungsgrade er¬
hältlich, verhindern unzweifelhaft die Herstellung einer Beziehung zwischen
Medicament und Magensaft, wo sie nicht gewünscht ist. Wo wir den Magen
schonen oder nur eine Darmwirkung haben wollen, z. B. bei Eisen, Silber¬
salzen, können sie die besten Dienste leisten. Bei dem constanten Härtungs¬
grad der Kapseln lassen sie sich für diagnostische Zwecke verwerthen. Man
giebt zugleich mit einem Probefrühstück 0,15 Jodoform in einer oder besser
in drei Kapseln; das Auftreten der Jodreaction im Speichel gestattet
einen gewissen Rückschluss auf die Energie der Pankreasfunction, falls
die Motilität des Magens normal ist. Die Reaction tritt in der Norm J / 4 bis
1 Stunde nach dem Frühstück auf, erhebliche Verspätungen dürften eine
pathognostische Bedeutung haben.
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Darm.
Von weittragendster Bedeutung für die Diagnose der Darmerkrankungen
erscheinen mir eine Reihe experimenteller und klinischer Unter¬
suchungen über Functionsprüfung des Darmes, die von A. Schmidt 3 )
und von Strasburgkr 4 ) angestellt worden sind. Die Voraussetzung für die
Verwendbarkeit der Fäcalgäbrung zu diagnostischen Zwecken war nicht von
vornherein gegeben, sondern es bedurfte erst einer grossen Zahl mühseliger
Untersuchungen, um die Berechtigung einer solchen Verwerthung darzuthun.
Wenn man frische Fäces mit Wasser bis zu massig dünnflüssiger Con-
sistenz verrührt und im Brütschrank bei Körpertemperatur stehen lässt, so
stellt sich in der Mehrzahl der Fälle Gasbildung ein. Schmidt unterscheidet
aus praktischen Gründen eine frühe und späte Nachgährung. Die erstere
beginnt schon nach einigen Stunden, hat in der Regel nach Ablauf des ersten
Tages den Höhepunkt und nach 48 Stunden ihr Ende erreicht.
Die chemischen Veränderungen der Fäces weisen darauf hin. dass bei
der Frühgährung vornehmlich leicht assimilirbare Kohlehydrate, bei der
Spätgährung vorwiegend andere Producte, namentlich Eiweiss, doch auch
Cellulose zersetzt werden. Da der zweite Process häufig schon vor Beendi¬
gung des ersten einsetzt, so ist es verständlich, dass sich auch schon bei
den Gasen der Frühgährung Zersetzungsproducte des Eiweisses vorfinden.
In jedem Stuhle finden sich Ueberreste aus dem Nahrungseiweiss, so
dass eine Spätgährung in mässigen Grenzen zu den normalen Vorgängen zu
zählen ist und, soweit sie innerhalb dieser Grenzen bleibt, klinisch kein
weiteres Interesse erweckt.
Anders verhält es sich mit der Frühgährung, welche, wie Schmidt
weiterhin festgestellt hat, blos bei zwei Dritteln gesunder Menschen nach
gemischter Kost eintritt.
Ob eine Frühgährung erfolgt oder ausbleibt, hängt, abgesehen von
vereinzelten Ausnahmen, von der Anwesenheit von unverdauten Kohle¬
hydraten in den Fäces ab. Von den letzteren kommt gröbere Cellulose nicht
in Betracht, da dieselbe erst nach Wochen vergährt. Zucker wurde in ge¬
sunden Fäces niemals gefunden, in kranken sehr selten. Das Gleiche gilt
für die übrigen löslichen Kohlehydrate. Als Vorbedingung für das Zustande¬
kommen der Frühgährung muss demnach im grossen und ganzen die An¬
wesenheit von Stärke gelten. Wenn nun bei gleicher Nahrung die Fäces
der einen Versuchsperson rasch vergähren, die der anderen keine Gasbildung
zeigen, so ist daraus zu entnehmen, dass der Darm der ersteren Person im
Verhältniss weniger Stärke verdaut hat als der Darm der letzteren, somit
in diesem Punkte weniger functionstüchtig war.
Eine gewisse Menge von Kohlehydraten kann von Gesunden offenbar
so vollkommen assimilirt werden, dass in den Fäces keine Frühgährung
eintritt. Andererseits zeigt der Umstand, dass bei den übrigen zwei Dritteln
Nachgährung eintrat, dass auch bei Gesunden eine Grenze vorhanden ist,
von der ab die zugeführte Stärke nur so weit verdaut wird, dass gewisse,
den Gährungserregern leicht zugängliche Reste wieder ausgeschieden werden.
Es bestehen hier individuelle Schwankungen.
Bei Erkrankungen der Verdauungsapparate tritt früher und in höherem
Masse Frühgährung ein als beim Gesunden. Ein Theil dieser pathologischen
Frühgährungen zeigt insofern Besonderheiten, als dabei neben oder statt der
Kohlehydrate in hervorragendem Masse Eiweiss zerfällt.
Wollte man nun auf das Verhalten der Frühgährung diagnostische
Schlüsse aufbauen, so war es erforderlich, die Grenzen zwischen normaler
und pathologischer Frühgährung kennen zu lernen. Giebt es eine solcheGrenze,
und wo liegt dieselbe? Es wurde systematisch das Verhalten der Kohle¬
hydrate von verschiedener Aufschliessbarkeit in Bezug auf die Energie der
Nachgährung geprüft, also 1. leicht lösliche Kohlehydrate (Zucker), die nur
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Darm.
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den motorischen und resorptiven Apparat des Darms in Anspruch nehmen,
2. Starke, bei der noch eine diastatische Wirkung in Action treten muss,
und 3. Stärke, die in dünne Zellwände eingeschlossen ist, bei der cellulose¬
lösende Bakterien in Thätigkeit treten müssen und die Ansprüche an alle
anderen Darmfunctionen gesteigert sind. Die Zulage von eiweisshaltigen
Nahrungsmitteln hatte gar keinen Einfluss auf die Gährung oder sie nahm
sogar etwas ab. Das Gleiche galt bemerkenswerther Weise auch vom Fett.
Wollte man nun auf Grund dieser Erfahrungen gewisse Diätformen auf¬
stellen, so musste man berücksichtigen, dass für diagnostische Zwecke die¬
selben so beschaffen sein mussten, dass auch Magendarmkranke sie geniessen
können, und dass dabei die stoffliche Bilanz gewahrt wird. Hiernach kommen
zur Verwendung drei Formen, von denen die erste vornehmlich aus Milch,
Eiern, Haferschleim und Zucker besteht und einen calorischen Werth von
1774 Cal. hat. In der zweiten findet sich noch gehacktes Fleisch und Kar¬
toffelbrei und in der dritten noch Cotelette in erheblicheren Mengen statt
des gehackten Fleisches und vor allem Milchbrote. Der calorische Werth
steigt hier auf 2136 Cal. Der zu untersuchende Patient erhält zunächst
Form 1 zugleich mit 0,3 Carmin; wenn die Fäces nicht mehr roth gefärbt
sind, d. h. nach etwa 3—4 Tagen, wird eine Probe zur Gährung angesetzt.
Dann folgt Diät 2 und, wenn nöthig, Diät 3. Durch Obstipationen werden
Verzögerungen herbeigeführt, auch wird Form 3 nicht immer vertragen;
Form 1 ist in vielen Fällen überflüssig. Die Dauer eines systematischen
Versuches würde sich immerhin über 8—14 Tage erstrecken. Die Unter¬
suchung selbst im Einzelfalle gestaltet sich so: der Stuhl wird möglichst
frisch mit Wasser gleichmässig verrührt bis zu ziemlich dünnflüssiger Con-
sistenz und in den unteren Theil eines für diesen Zweck construirten
Gährungsröhrchens eingefüllt, das mit einem durchbohrten Gummipfropfen
luftdicht abgeschlossen wird. Durch die Durchbohrung führt ein Glasröhr¬
chen, welches an seinem Ende einen kleineren Gummipfropfen trägt, auf
dem ein mit Wasser gefülltes Rohr an einem Ende geschlossen aufgesetzt
ist. Steigen jetzt Gasblasen auf, so wird das Wasser in ein daneben befind¬
liches Steigrohr gedrängt. Der ganze Apparat kommt in den Brutschrank
für 24 Stunden; die Gährungsprobe ist dann positiv, wenn etwa 1 / 4 — 1 / z
des im Rohre befindlichen Wassers verdrängt ist. Die Untersuchungen bei
Gesunden und Kranken ergaben, dass das Auftreten von Frühgährung bei
Diätform 1 unbedingt pathologisch, bei Diätform 2 eher pathologisch als
normal, bei Diätform 3 normal ist. Bei der Mehrzahl der normalen Stühle
tritt bei Diätform 3 noch keine Gährung auf, beweisend für einen krank¬
haften Vorgang ist blos der positive Ausfall der Probe. Ist so die Störung
in der Kohlehydratverdauung erwiesen, so ist die Annahme berechtigt, dass
vielleicht in noch höherem Masse die Eiweiss- und Feltresorption gelitten
hat. Sitz der Erkrankung ist bei positivem Ausfall der Probe der*Dünndarm
und der obere Dickdarmabschnitt.
Nachdem nun Schmidt in der Gährungsprobe einen brauchbaren Mass¬
stab für die Leistungen des Darmes hinsichtlich der Verarbeitung gährungs-
fähiger Substanzen der Nahrung gefunden hatte, suchte er 6 ) nach einem
ähnlichen Gradmesser für die Leistungsfähigkeit des Darmes gegen¬
über den Eiweisssubstanzen. Er ging hier von der Annahme aus, dass
bei einer bestimmten Normalkost mit einem nach Menge und Form auch
für Magendarmkranke leicht zu bewältigenden Eiweissantheile der Umfang
und die Leichtigkeit, mit welcher bei künstlicher Nachverdauung der Fäces
Eiweissreste aus der Nahrung in Lösung gehen, einen Massstab abgeben
müssen für die jeweilige Leistungsfähigkeit des Darmes hinsichtlich der Ei¬
weissverdauung. Die Schwierigkeiten, die hier zu überwinden waren, sind
enorme. Sie werden überwunden, wenn man das gesammte in den Fäces
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96
Darm.
noch vorhandene Eiweiss berücksichtigt, als Rückstand einer Probekost, die
leicht verdaulich und stets gleichmässig zubereitet ist. Alle nicht aus der
Nahrung stammenden eiweisshaltigen Bestandtheile der Fäces, also Bakterien.
Schleim und ähnliches, ferner die bei der Nahrung störenden Bestandtheile:
Fette, Salze u. s. w., sind vorher zu beseitigen. Die Normalnahrung besteht
aus 2 Liter Milch, 4 Eiern, 60 Grm. gehacktem Fleisch, 7 Grm. Butter.
20 Grm. Zucker, 190 Grm. Kartoffelbrei, 100 Grm. Zwieback, Schleim aus
40 Grm. Hafer, Weizenmehl 25 Grm. Der Koth dieser Probekost wird zur
Reinigung den verschiedensten Verfahren unterworfen, der gereinigte Rück¬
stand zur Verdauung angesetzt unter Zusatz von Salzsäure und Pepsin. Je
geringer der Bodensatz bei der Verdauung im Reagenzröhrchen wurde, um
so erheblicher wurde die Störung der Darmthätigkeit mit Recht ange¬
nommen; die Art der Störung, ob functionell oder organisch, wird durch
dieses Verfahren nicht klar.
Eine specielle Beachtung widmet A. Schmidt der Frage der klinischen Be¬
deutung der Ausscheidung von Fleischresten mit dem Stuhlgang. Es
haben sich hier eine Reihe bemerkenswerther Thatsachen ergeben, unter denen
voranzustellen ist die, dass Bindegewebe, sofern es nicht ganz gar gekocht
ist, nur vom Magensaft, Kernsubstanz nur vom Pankreassaft verdaut
wird; bis zu einem gewissen Grade ist an der Lösung der Kerne eventuell
auch die Darrnfäulniss betheiligt. Das Erscheinen von makroskopisch erkenn¬
baren Bindegewebsresten im Stuhl (in grossen Fetzen bei freier Kost, in
kleinen Flocken bei Aufnahme von circa 100 Grm. Hackfleisch) weist auf
eine Störung der Magenverdauung hin, wobei es unentschieden bleibt, weicher
Art diese Störung ist. Sind gleichzeitig makroskopisch erkennbare Muskel¬
reste vorhanden, so ist auch die Darmverdauung gestört; werden bei Auf¬
nahme von 100 Grm. Hackfleisch pro die sichtbare Muskelreste ohne Binde-
gewebsflocken entleert, so handelt es sich um eine schwere Störung der
Darmverdauung, wobei es unentschieden bleibt, ob dieselbe auf einer Schädi¬
gung der Secretion oder Resorption beruht.
Schliesslich lenke ich noch die Aufmerksamkeit auf einen zusammen¬
fassenden Aufsatz A. Schmidt s 6 ) über Darmgährung, Meteorismus und
Blähungen, aus dem wir nur einiges Markante kurz hervorheben. Die
Grösse der Darmgährung hängt ab von der Art der aufgenommenen Nahrung,
von den Mikroben und von der Aufenthaltsdauer der Ingesta im Darm. Die
Menge des zugeführten oder im Darm selbst gebildeten Gases ist für das
Zustandekommen der Flatulenz nicht massgebend, ein gut functionirender
Darm wird auch mit grossen Gasmengen durch Resorption und Herausbe¬
förderung fertig. Auch die Einführung fremder Gährungserreger hat nur einen
beschränkten Einfluss auf die Steigerung der Darmgährung, wenn nicht
gleichzeitig Erkrankungszustände des Darmes bestehen. Mangelhafte Func¬
tion der Darmmusculatur oder Stagnation aus anderen Gründen
ist wie beim Magen die wichtigste Ursache abnormer Darmgäh¬
rung. Die Gasresorption leidet parallel der Resorption der Nährstoffe fast
bei allen functionellen und organischen Darmleiden mehr oder minder. Bei
der Herausbeförderung der Gase aus dem Darm spielt die Muskelkraft des
Darmes, die Bauchpresse, das Vorhandensein von Stenosen, dann aber auch
das Verhalten der Fäces selbst eine Rolle, namentlich scheinen fettreiche
Fäces die Beförderung zu hemmen. Klinisch unterscheiden wir zwei Gruppen
vermehrter Gasbildung im Darm: die erste ist entweder durch Behinderung
der Passage oder durch Schwäche des Muskels bedingt; in einer zweiten
Gruppe haben wir gesteigerte Peristaltik neben vermehrter Gasbildung
(Kollern, Koliken, vermehrte Flatus); hier sind die Ursachen in functionellen
oder organischen Störungen der chemischen Darmthätigkeit zu suchen.
Eine Einwirkung der Medicamente, die als gährungswidrige empfohlen sind.
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Darm. — Dijodacetylen.
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auf die Darmgährung konnte, wenn sie nicht zugleich die Peristaltik an¬
regten, von A. Schmidt nicht erwiesen werden.
Die von Schmidt bekanntgegebene, oben besprochene G äh rungsprobe
der Fäces ist von S. Basch 7 ) nachgeprüft worden. Er betont, dass
das Verfahren nur in einer Klinik und in der Privatpraxis nur bei intelli¬
genten Patienten ausführbar ist. Die Methode beansprucht viel Zeit, wird
in ihrer Verwerthung durch die erzeugte Obstipation erschwert und giebt
keine constanten Resultate, auch nicht einmal bei demselben Patienten.
Beweisend ist auch nur der positive Ausfall der Probe und auch dann be¬
kommen wir über die Art der Störung keinerlei Aufklärung. Eine entschei¬
dende Bedeutung kann demgemäss die Probe nur selten haben. Nicht un¬
erwähnt soll bleiben, dass N. Zuntz 8 ), da er die bisher üblichen Verfahren
von Darmgasanalysen für unvollkommen hält, eine neue Methode zur
Aufsammlung und Analyse von Darm- und Gährungsgasen ange¬
geben hat. Dieses Verfahren ist gewiss einwandsfrei, erheischt aber die Hilfs¬
mittel eines Laboratoriums.
Literatur: *) Kühn, Berliner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 2. — *) Sahli, Deutsche«
Arch. f. klin. Med. LXI. — *) A. Schmidt, Verhandlungen des 16. Congr. f. innere Med. Ber¬
liner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 41 ; Deutsches Arch. I. klin. Med. LXI. — 4 ) Strasburges,
Deutsches Arch. f. klin. Med. LXI. — *) A. Schmidt, Ebenda. LXV nnd Deutsche med.
Wochenschr. 1899, Nr. 49. — •) A. Schmidt , Therap. Monatsh. Jannar 1899. — ') Basch,
Zeitschr. f. klin. Med. XXXVII. — *) Zuntz, Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft
za Berlin. Mai 1899. Rosenheim.
Decidtaoma malignum (uteri), s. Chorioepithelioma, pag. 77, 80.
Dermatol» s. Augenheilmittel, pag. 46.
DUodacetylen. Als eine sehr giftige Verbindung ist das Dijod¬
acetylen oder Dijodacetyliden, C. J„ erkannt worden, das zuerst 1865
von Berend aus Acetylensilber und Jod in ätherischer Lösung dargestellt,
später von Maguenne durch Einwirkung in Benzol gelösten Jods auf Barium-
carbid und neuerdings von Biltz und Werner durch Einwirkung von Jodjod¬
kalium auf Calciumcarbid erhalten wurde. Das in Wasser unlösliche, durch
höchst intensiven Geruch ausgezeichnete Präparat ist in obiger Lösung bei
subcutaner Injection für Kaninchen (0,2—0,3) in 2 Tagen tödtlich, somit auf
die Jodmenge berechnet in einer Dosis, in welcher Jodoform in derselben
Zeit keine toxischen Wirkungen äussert. Der Effect ist theilweise ein localer,
theilweise ein entfernter. In den Magen in Substanz applicirt, wirkt es ört¬
lich irritirend. Nach Subcutaninjection kommt es zur Bildung von Ab-
scessen, auch treten an entfernten Stellen Oedeme auf, bei deren Anschneiden
sich intensiver Geruch geltend macht. Die Todesursache ist durch die Sympto¬
matologie und den Sectionsbefund nicht völlig aufgeklärt; das häufige Vor¬
kommen von Fettembolien in den Lungen, das bei Subcutaninjectionen ia
Oel gelösten Jodoforms nicht eintritt, deutet auf eine besondere ungünstige
Wirkung auf die Respirationsorgane. Ein Theil des Dijodacetylens passirt
den Körper unverändert und ist im Harn nachweisbar, der mit Stärkelösung
und einem Tropfen rauchender Salpetersäure versetzt, deutliche Jodreaction
giebt. Beim Erwärmen mit Salpetersäure färbt er sich zuerst braun, dann
schwarz, schliesslich nach starker Gasentwicklung wieder; braun. Ob beim
Einschneiden der ödematösen Partien der Geruch vom Dijodacetylen oder von
abgespaltenem Acetylen herrührt, war nicht zu entscheiden. Der ihm eigen-
thümliche, höchst penetrante Geruch und die grosse Giftigkeit schliessen
die Verwendung, des Dijodacetylens als Antisepticum aus, wozu es sich sonst
sehr gut eignen würde, da es auf die Fleischfäulniss und die Gährung in
weit intensiverer Weise hemmend wirkt wie die meisten anderen organischen
Jodverbindungen, vielleicht mit Ausnahme des Jodcyans. Ueberhaupt ist es
für niedrigere Organismen ein höchst energisches Gift
Encyclop. Jahrbücher. IX.
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Dijodacetylen. — Dionin.
Nach Loew *) vernichtet es Bacillus subtilis und B. fluorescens liquefacicus schon in
Losungen von 1 : 2000, hemmt in gleichen Lösungen die Entwicklung von Penicillium und
Aspergillus, tödtet Hefepilze in Solutionen von 1:5000—10 000 und wirkt auf Diatomeen,
Spirogyren und Oscillarien schon bei 1 : 100.000 in l /.,—24 Stunden tödtlich. Infusorien und
Flagellaten gehen in Lösungen von 1:20.000 momentan zugrunde, Copepoden, Nematoden
lind Rotatorien binnen 24 Stunden in Lösungen von 1 :300.000. In Bezug auf die Toxieitüt
für niedere Pilze und Thiere steht es nur dem Osmiumtetroxyd nach, übertrifft aber Kalium¬
permanganat, Blausäure und Arsen.
Literatur: *) Mebert, Ueber das Dijodacetylen. Arch. f. experim. Pathol. XLI, Heft 2
und 3, pag. 114. — 2 ) Loew, lieber den Giftcharakter des Dijodacetyüdens. Zeitschrift für
Hygiene. XXXVII, pag. 222. Husemann.
Dionin« Patontname für das salzsaure Salz des Aethylmorphin.
C, 9 H 23 N0 2 HCl + H 2 0. Seine Empfehlung für die therapeutische Anwen¬
dung verdankt es der Erfahrung, dass die Aethylverbindungen pharmako-
dynamisch wirksamer sind als die entsprechenden Methylverbindungen.
Da nun das Codein, welches bekanntlich Methylmorphin ist, eine aus¬
gedehnte therapeutische Anwendung findet, so war ein Versuch mit dem
Aethylinorphin gewiss berechtigt. Das Dionin stellt ein weisses krystallini-
sches Pulver von massig bitterem Geschmack dar, welches bei 123° C. an¬
fängt zu erweichen und bei 125° C. unter Zersetzung vollkommen geschmolzen
ist; bei gewöhnlicher Temperatur lösen sich 14 Theile in 100 Theilen Wasser
(1 : 7) und 73 Theile in 100 Theilen Alkohol. Die relativ leichte Löslich¬
keit des Dionins im Wasser im Vergleiche mit Morphin, Codeinchlorhydrat,
Heroin, Peronin ist ein grosser Vortheil für die Anwendung desselben. Nur
das Codeinphosphat löst sich etwas leichter als Dionin, jedoch reagiren seine
Lösungen sauer und seine Injectionen sind sehr schmerzhaft. Es ist daher
das Dionin das leicht löslichste aller für die subcutane Injection in Betracht
kommenden Morphinsalze und Morphinersatzmittel. Es liegen nun schon zahl¬
reiche Mittheilungen über das Verhalten des Dionins bei allen Krankheiten,
in denen bisher Morphin- und Codeinsalze zur Anwendung kamen, vor. Zur
richtigen Beurtheilung dieser möge man stets im Auge behalten, dass das
Dionin in seiner Wirkung als Aethylmorphin dem Methylmorphin, also dem
Codein näher stehen wird als dem Morphin. In diesem Sinne spricht sich
auch v. Merino aus: das Dionin wirkt bei Kalt- und Warmblütern im wesent¬
lichen wie Codein, doch etwas stärker und von längerer Dauer. Nach Winter¬
nitz wurden beim Menschen durch Dionin gleich dem Codein weder die
Athemgrösse noch die Athemfrequenz und die Erregbarkeit des Athemcen-
trums beeinflusst, auch der Verdauungstract nicht in Mitleidenschaft gezogen.
In 2 Versuchsreihen wurde 1—2 Stunden nach Dionin, innerlich gereicht, aller¬
dings eine Steigerung des Athemvolumens um 1—l l / 2 Liter pro Minute be¬
obachtet; das gleiche Individuum reagirte übrigens auf Morphium und Heroin
innerlich mit einer erheblichen Herabsetzung des Athemvolumens.
Es wurde zunächst als Hustenmittel bei Phthisikern, ferner bei Bron¬
chitis und Lungenemphysem versucht (Körte, Schröder, H. Higier, Th. Ja-
nisch, Kobert u. a.) und als ein Mittel befunden, welches den Reizhusten
bekämpft, die Expectoration erleichtert, die schlafbringende Wirkung rasch
entfaltet, die Nachtschweisse günstig beeinflusst und fast ohne Nebenwirkung
auf Magen und Darm ist. Als schmerzstillendes Mittel wirkt es nicht
so sicher wie Morphin, auch erzeugt es keine Euphorie, so dass es weit
weniger zum Bedürfniss wird als dieses und ohne Bedenken ausgesetzt
werden kann. Man kann es daher bei allen chronischen schmerzhaften Leiden
versuchen, bei denen man die Angewöhnung an Morphin vermeiden will. Bloch
und andere empfehlen es in diesem Sinne, insbesondere bei schmerzhaften
Frauenkrankheiten, dysmenorrhoischen und parametrischen Schmerzen, bei
den Schmerzen, welche gynäkologischen Eingriffen, wie Cervixdilatation, Lapis¬
instillationen, Excochleationen folgen. Die leichte Löslichkeit, somit leichte
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Dionin. — Dormiol.
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Resorbirbarkeit und baldige Ausscheidung des Dionins bedingen dessen
rasche Wirkung und hindern dessen Aufspeicherung im Körper; sie führten
zum Versuch, das Dionin bei Morphiumentziehungscuren anzuwenden (A.
Fromme, J. Heinrich). Unter der Dionindarreichung sollen die Abstinenz¬
symptome abklingen, der Morphinhunger gesättigt werden, ohne dass Dionin¬
hunger eintritt. Fedor Pessner hält das Dionin von grösserer Bedeutung
als bei der Entziehungscur der Prophylaxe des Morphinismus, indem man
das Morphin durch Dionin ersetzt. Auf psychiatrischem Gebiete war das
Dionin bei Aufregungszuständen, sowie bei Kranken, bei denen Sensationen
das hervorstechendste Moment bilden, ohne Erfolg (Ranschoff), hingegen
bewährte es sich bei Depressivzuständen im Verlauf der Dementia praecox
und des periodischen Irreseins, auch bei hallucinatorisch erregten weiblichen
Kranken (Meltzer).
Nach Wolffberg, C. Nicolaier und Darier soll das Dionin einen be¬
sonderen Reiz auf die Epithelien der Blutcapillaren ausüben und dadurch
gewissermassen als Lymphagogum wirken; demgemäss wäre es in der
Ophthalmiatrie in Fällen anzuwenden, in denen günstigere Ernährungsverhält-
nisse speciell für die Cornea geschaffen werden sollen, also in jenen Fällen,
bei denen sich subconjunctivale Kochsalzinjectionen wirksam zeigen; es wird
auch für die Wundbehandlung nach Bulbusoperationen, bei allen Verletzungen
des Augapfels sowie der Bindehaut empfohlen.
Dosirung. Innerlich, in Einzelgaben von 0,02, täglich 2—Sinai, als
Schlafmittel abends 0,03—0,05 entweder in Pulverform mit Natrium bicar-
bonicum, in wässeriger Lösung oder bei Phthisikern auch in Pillenform mit
Pulv. Ipecacuanh. in ähnlichem Verhältnisse wie Opium in Pulvis Doweri;
die Einzeldosis zur subcutanen Injection beträgt 0.015—0,03. Bei Mor¬
phiumentziehung müssen die Dosen weit höher gegriffen werden, 0,05 bis
0,08 pro dosi, eventuell bis zu 1,0 pro die.
Literatur: J. v. Merino, Physiologische und therapeutische Untersuchungen Uber die
Wirkung einiger Morphinderivate in E. Merck's Bericht über das Jahr 1898. — H. Wintek-
nitz, Ueber die Wirkung einiger Morphinderivate auf die Athmung des Menschen. Au9 der
medicinischen Poliklinik des Prof. v. Merino zu Halle a. S. Therap. Monatsh. 1899, pag. 469. —
J. Kokte, Klinische Versuche über die Wirkung und Anwendung des Dionin. Ebenda. 1899,
pag. 33. — Richard Bloch, Dionin als schmerzstillendes Mittel in der Praxis. Ebenda. 1899,
pag. 418. — A. Fromme, Berliner klin. Wochenschr. 1899, pag. 14. — J. Heinrich, Wiener
med. Blätter. 1899, Nr. 11. — Ranschoff, Psychiatr. Wochenschr. 1899, Nr. 20. — Meltzer.
Münchener med. Wochenschr. 1899, Nr. 51. — W. Salzmann (Warschau), Dionin, ein neues
Morphinderivat. Wiener med. Presse. 1900, pag. 1095. — Fedor Plessner (Wiesbaden),
Ueber Dionin, seine Bedeutung im Ersatz des Morphium. Therap. Monatsh. 1900, pag. 80. —
Merck's Jahresberichte über die Jahre 1898 und 1899. Loehisch.
Diphtherische Conjunctivitis, pag. 88.
DiplobaciUen-CoiUiractivitis, pag. 89.
Dormiol« Unter bestimmten Bedingungen vereinigen sich Chloral-
hydrat und Amylenhydrat zu Amyienchloral, nach seiner chemischen Con¬
stitution Dimethyläthylcarbinolchloral. Diese von Fuchs dargestellte und
als Dormiol bezeichnete Verbindung ist eine farblose ölige Flüssigkeit von
1,24 specifischem Gewicht, von kampferartigem Geruch und ähnlichem kühlend
brennendem Geschmack, die mit Wasser zunächst eine milchartige Emulsion
giebt, aus welcher sich das Mittel nach einigen Tagen wieder ausscheidet.
Erst nach Stunden und Tagen geht das Dormiol von der Berührungsstello
mit dem Wasser aus in Lösung. Doch auch aus dieser Lösung lässt sich das
specifisch schwerere Dormiol durch Zusatz von viel Wasser abscheiden. Erst
bei längerem Kochen mit Wasser tritt plötzlich klare Lösung auf; mir
Alkohol, Aether und fetten Oelen ist es in jedem Verhältniss gut mischbar.
Es kommt nunmehr eine 10%ige wässerige Lösung von Dormiol in Handel.
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7 * '
'Original frem
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Dormiol. — Duboisin.
Nach Meltzer wirkt das Dormiol nach Thierversuchen kaum weniger toxisch
wie Chloral, möglich, dass bei letalen Dosen der Exitus etwas langsamer
eintritt als bei diesem, so dass ein etwaiges Einschreiten eher möglich wird.
Bei Nervösen und siechen alten Menschen genügten Gaben von 0,5, um nach
y 4 —Va Stunde einen mehrstündigen Schlaf herbeizuführen; bei Schlafmangel
wegen andauernder Erregung wird mit 2,0—3,0 Erfolg erzielt. Von unange¬
nehmen Nebenwirkungen, auch von Angewöhnung an das Mittel wurde bis
jetzt noch Nichts berichtet.
Ernst Schultze empfiehlt es bei Geisteskranken, abgesehen von Manie
und Paralyse mit starker Erregung. Es wären demnach 1,5—3,0 als schlaf¬
machende Gaben zu bezeichnen. Das Dormiol wird nur innerlich in wässeriger
Lösung 1: 5—10 Ccm. oder mit einem Geschmackscorrigens nach folgender
Formel gegeben: Dormioli, Mucil. Gummi arab., Sirup, simpl. aa. 5,0, Aq.
destillat. 60,0. Vor dem Gebrauche zu schütteln. 1—2 Esslöffel voll zu
nehmen.
Literatur: Mbltzeb, Dormiol, ein neues Schlafmittel. Deutsche med. Wochenschrift.
1899, Nr. 18. — Ernst Schui.tzb (Andernach), Dormiol. Neurolog. Centralbl. 1900, Nr. 67
Loebisch.
Duboisin, s. Augenheilmittel, pag. 46.
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Ecthol, eine von Amerika (St. Lonis, Missonri) ans betriebene Drohne,
welche die wirksamen Bestandteile der Wurzel von Echinacia angusti-
folia de C. und einer Thujaart, namentlich Harzsäuren enthalten soll. Die
Drogue wird als Antisepticum, Alterans gegen alle Krankheiten, eingerechnet
Schlangenbisse, als Heilmittel empfohlen, und zwar neben der bisherigen
Behandlungsweise, so wirkt Ecthol zu viermal täglich 1 Theelöffel inner¬
lich z. B. bei Angina tonsillaris nebst chlorsaurem Kali in 5—6 Tagen sicher.
Aeusserlich bei Geschwüren, Insectenbissen etc. Welche Vorstellung von der
Urteilsfähigkeit der Aerzte gehört dazu, um ihnen solche Mittel in solcher
Form zu empfehlen?! Loebisch.
Egole nennt Gautrelet im allgemeinen die von ihm als allgemeine
Antiseptica empfohlenen p-sulfosauren Quecksilbersalze verschiedener
nitrirter Phenole. Der Typus dieser Egole bildet das Phenegol, welches
das Quecksilber-Kaliumsalz der O-nitrophenol-p-sulfosäure ist,
/° 0 V
C 6 Hg^-NOj = Hg = NO s —;C 6 H 6 ,
nSOjK ko 5 s/
Wird Cresol oder Thymol als Grundlage der Verbindung genommen, dann erhält
man Cresegol, beziehungsweise Thymegol, d. h. das o-nitrocresol(thymol)-p-
sulfosaure Quecksilberkalium. Das Quecksilber kann in dieser Verbindung
erst nach der Veraschung oder nach dem Behandeln mit Kaliumchlorat und
Salzsäure nachgewiesen werden, es ist daher in organischer Bindung in ihnen
enthalten. Sämmtliche Egole stellen braunrote Pulver dar, in Wasser in
jedem Verhältnisse löslich, unlöslich in absolutem Alkohol. Die wässerige
Lösung der Egole ist geruch- und geschmacklos, reagirt neutral und ist
weder giftig, noch wirkt sie ätzend oder reizend, sie coagulirt das Eiweiss
nicht, fällt jedoch die Toxine. In 0,4°/ 0 iger Lösung sterilisirt das Phenegol
jede Bakteriencultur. Die Lösungen der Egole greifen Metalle nicht an und
können daher zum Sterilisiren chirurgischer Instrumente benützt werden.
Die Egole sind sehr stabile Verbindungen, welche durch irgend einen medi-
camentösen Zusatz nicht alterirt werden. Innerlich genommen, reizen die
Lösungen der Egole zum Brechen.
Literaturi Gautrelkt, Vortrag in der Sitzung der Society m6dico-chirargicale in
Paris. Hai 1899. Pharm. Ztg. 1899, pag. 526. Loebisch.
Eigonpräparate, s. Bromeigone, pag. 71.
Elektrotherapie entzündlicher Augenleiden. Die wohlthätige
Wirkung der Elektricität bei Augenmuskellähmungen und bei Neuralgie des
Supra- und Infraorbitalis wird nicht bezweifelt, um so fraglicher ist ihre
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102
Elektrotherapie.
Wirkung bei Erkrankungen des lichtempfindenden Apparates, speciell des
N. opticus, so dass eine elektrische Behandlung hier meist nur solatii causa
in Anwendung kommt. Wenigstens sind die Resultate, die Einzelne erzielt
haben wollen, recht problematisch und haben nur dazu beigetragen, die Elek-
tricität bei den meisten Augenärzten in Misscredit zu bringen. Diese haben
daher auch den Berichten über Heilerfolge des elektrischen Stromes bei ent¬
zündlichen Augenleiden, welche ab und zu auftauchten, keinen Glauben ge¬
schenkt und ausser einigen kurzen Referaten in dem Jahresberichte für
Augenheilkunde hatten sie keine Folgen. So erging es Arcoleo, Driver,
Bri£re, Macher, Weissflog und anderen.
In den letzten Jahren hat sich besonders v. Revss bemüht, der
Elektrotherapie Eingang bei der Behandlung entzündlicher Augenleiden zu
verschaffen. Er wendet entweder den galvanischen oder faradischen Strom an.
Der galvanische Strom kommt fast ausschliesslich bei der Behandlung
der Skleritis in Betracht. Eine Eulenbi RG sche Elektrode, der Hauptsache
nach aus einem ovalen Platinplättchen von 6 und 9 Mm. Durchmesser be¬
stehend, wird direct auf die entzündete Sklera des vorher cocainisirten
Auges aufgesetzt; es kommen nur sehr schwache Ströme von etwa 1 Milli¬
ampere jeden zweiten Tag durch je 1 Minute in Verwendung. Die darauf
folgende Reaction verschwindet in kurzer Zeit; Besserung tritt nach wenigen
Applicationen, Heilung nach etwa 12 Sitzungen ein. Gegen Recidiven schützt
die Behandlung nicht; besonders ist die günstige Beeinflussung der eventuell
vorhandenen Schmerzen hervorzuheben.
In etwas anderer Weise leitet Norsa (Df.xti) den galvanischen Strom
in das Auge; er construirte eine Badewanne nach Art des Orthoskops von
Czermak, füllte sie mit einer 1—2%igen Lösung von Lithion salicylicum
und leitete durch diese den elektrischen Strom auf den skleritischen Herd,
indem er auf diese Art die kataphorische Wirkung der Elektricität verwenden
wollte. Silex liess den medicamentösen Zusatz fort und füllte die Wanne
mit physiologischer Kochsalzlösung oder nur mit warmem Wasser; auch er
erhält gute Resultate.
Terson wendete bei Skleritis die Elektrolyse an. Er sticht eine Platin¬
nadel, die mit dem negativen Pol verbunden ist, an der Basis des skleriti¬
schen Knotens ein und lässt einen Strom von 2—3 Milliampere 1 Minute
lang durchlaufen; der zweite Pol kommt auf die Stirn oder Wange; eine
Application scheint zu genügen. Clavelif.r wendete dieselbe Methode (5 Milli¬
ampere durch 30 Secunden) an. TersOn erzielte Heilung in sechs, Clavelier
in acht Tagen; Pansier hat die Methoden von v. Reuss und Terson mit Erfolg
angewendet, ausserdem aber auch die Galvanisation durch die geschlossenen
Lider bei empfindlichen Kranken, wie es v. Revss mit dem faradischen Strome
gethan.
Einen viel ausgedehnteren Gebrauch macht v. Reuss von dem indu-
cirten Strome. Er wendet ihn in zweierlei Weise an. Für kurze Sitzungen
passt die »faradische Hand«. Die eine Elektrode fasst der Kranke, die andere
der Arzt mit der Hand (v. Reuss benützt dazu die als »Schwammhülsen«
bekannten hohlen Metallcylinder), letzterer legt die andere Hand oder einige
Finger auf das geschlossene kranke Auge und nimmt den Strom so stark,
dass er ihm nicht unangehm ist. Applicationsdauer bis 5 Minuten.
Für längere Sitzungen, um die es sich gewöhnlich handelt, wird eine
ovale muschelförmige kleine Elektrode, die mit Stoff überzogen ist (Durch¬
messer etwa 38 ä 30 Mm.), auf das Auge, das zunächst mit einer Schichte
nasser Watte bedeckt ist, aufgebunden und mit dem einen Pole in Ver¬
bindung gesetzt, die andere Elektrode hält der Kranke in der Hand. Der
Strom wird so stark genommen, dass er vom Kranken ohne Unannehmlich¬
keit vertragen wird. Applicationsdauer 1 / 4 — l / 2 Stunde und darüber.
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Elektrotherapie.
103
Auf diese Weise kommt der Inductionsstrom in Verwendung:
1. Bei Iritis und Iridocyklitis vor allem als schmerzstillendes Mittel.
Es kommt kaum vor, dass die Schmerzen nicht verschwinden oder doch
wesentlich gemildert werden. Manchmal genügt hiezu eine Sitzung, gewöhn¬
lich kommen die Schmerzen in minderem oder auch in gleichem Grade nach
einer verschieden langen Pause wieder und machen die neuerliche Anwen¬
dung nothwendig. Es ist deshalb zweckdienlich, dass der Kranke einen
Apparat zur Verfügung hat und ihn so oft in Thätigkeit setzt, als es die
Schmerzen erfordern. Eine obere Grenze giebt es nicht. Nicht so eclatant
ist der Einfluss auf den Verlauf des Processes, obwohl derselbe ohne Zweifel
in vielen Fällen abgekürzt wird. Bei der sogenannten recidivirenden Iritis
kann die rechtzeitige Anwendung bei einem drohenden Recidiv den Aus¬
bruch desselben verhindern.
Die Glaskörpertrübungen, wenn sie frisch sind, werden rascher zur Re¬
sorption gebracht, ebenso in vielen Fälle Descemet sehe Präcipitate. Dagegen
scheinen alte Glaskörperopacitäten nicht wesentlich beeinflusst zu werden.
2. Bei Skleritis ist der faradische Strom angezeigt, wenn der Process
so diffus ist, dass eigentliche circumscripte Herde nicht auffällig sind und
daher die richtige Applicationsstelle für die directe Galvanisation nicht ge¬
geben ist, ferner wo, was hie und da, wenn auch selten vorkommt, die Re-
action auf letztere zu stark ist oder der Kranke sich sträubt. Die Erfolge sind
weniger auffällig als bei der Galvanisation.
3. Bei Keratitis der verschiedensten Art, wenn Schmerzen vorhanden
sind, die ebenso calmirt werden wie bei Iritis; ob eine Beeinflussung des
Processes selbst stattfindet, ist nicht ausgemacht, umsoweniger als ebenso
wie bei Iritis und allen anderen Leiden die anderweitige nothwendige Therapie
nicht verabsäumt werden darf.
4. » Bei den mit Lichtscheu einhergehenden Leiden der Cornea und Con-
Junctiva, besonders bei den ekzematösen Formen und namentlich dann, wenn,
wie es oft der Fall ist, die Lichtscheu durch den Grad der Krankheit nicht
mehr ganz gerechtfertigt ist. Hier genügt oft eine ein- oder zweimalige Appli¬
cation, um die Lichtscheu verschwinden zu machen.
5. Bei erblindeten Augen, welche an Anfällen von Entzündung und
Schmerzhaftigkeit leiden, bei Ausgängen von Iridocyklitis, bei Luxatio lentis,
Glaucoma absolutum, kurz bei Augen, bei denen eine Enucleation indicirt
ist, ohne dass durch deren Aufschub etwas versäumt wird. In vielen tritt
wieder vollständige Ruhe des Auges ein.
6. Bei der eigenthümlichen vasomotorischen Störung, die v. Graeee Sub¬
conjunctivitis, Fuchs Skleritis periodica fugax nannten, für die v. Reuss den
Namen Pseudoskleritis vorschlägt. Nicht nur werden die Anfälle abge¬
kürzt und gemildert, sondern sie kommen seltener und hören endlich ganz
auf, soweit man aus den wenigen beobachteten Fällen bei der Seltenheit der
Krankheit schliessen kann.
7. Bei intraoeularen Hämorrhagien in einzelnen Fällen wurde eine auf¬
fallend rasche Resorption erzielt, in anderen war der Erfolg ein negativer.
Da v. Reuss, ausgenommen bei Skleritis, den galvanischen Strom nicht
viel verwendete und bei der geringen Vorliebe, welche bei den Augenärzten für
die Elektrotherapie constatirt werden muss, ist es nicht zu verwundern, wenn
über gewisse Beobachtungen, die von berufenster Seite über günstige Er¬
folge bei Glaskörpertrübungen, bei Sehnervenerkrankungen, namentlich bei
Neuritis gemacht wurden (Girand-Teulon, Erb), bestätigende Beobachtungen
aus neuerer Zeist fast fehlen. Paxsier hat in seiner Elektrotherapie oculaire
eine Anzahl solcher, die zu weiteren Versuchen ermuntern, veröffentlicht.
Auch die bei Keratitis mittels des galvanischen Stromes gewonnenen
Resultate Arcoleo's verdienen eine Nachprüfung.
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104
Elektrotherapie. — Emol.
Die Verwendung der Elektricität zur Aufhellung von Hornhauttrübungen
(Adler, Allmann) möge ebenfalls hier Erwähnung finden. Ist die Trübung
infolge ihrer Natur überhaupt aufhellbar, so wird auch die Elektricität, wie
medicamentöse und mechanische Reize eine Wirkung erzielen. Narben, die
sich durch andere Mittel als unaufhellbar erweisen, werden auch durch Elek¬
tricität nicht aufgehellt werden.
Die Vibrationsmassage mittels der elektrischen Feder von Edison, die
von Maklakow 1893 angegeben wurde und über welche Berichte nament¬
lich von Kazaurof und Snegiröw vorliegen, gehört wohl nur insoferne zur
Elektrotherapie, als die Vibrationen des Instrumentes durch Elektricität er¬
zeugt werden.
Literatur : Arcoleo, Resoconto della clinica ottalmica della R. nniversitä di Palermo
per gli anni scholastici. 1867—1869. — Arcoleo, Saggi di elettro terapia oculare. Gazz. clin.
di Palermo. 1870. — Arcoleo, Prospetto di talune malattie oculari trattate colla corrente
elettrica nella clinica della R. nniversitä di Palermo (2a Seria). Palermo 1873. — Driver,
Behandlung einiger Augenleiden mit dem constanten Strome. Arch. f. Augen- und Ohrenhk
1872, II, 2. — Briere, Observations cliniques Ann. d'oeulistique. LXXVI, 1874. — Weis¬
flog, Zur Kenntniss der Faradisation. Deutsches Arch. !. klin. Med. 1867, XVIII. — Macher,
Elektrotherapeutische Versuche bei Augenaffectionen. Dissert. Erlangen 1880. — Norsa, II
bagno elettro-medicato oculare. Boll. d. ocul. 1891, XIII. — Norsa, Das elektrische Augen¬
bad in der Behandlung der Skleritis und Episkleritis. Arch. !. Augenhk. 1892, XXIV, 3. —
Norsa, Un biennio di Clinica Oculistica. Roma 1889. — Denti, Saggio di Idro-Elettro-Terapia
Oculare. Milano 1885. — v. Reuss, Ueber elektrische Behandlung entzündlicher Augenkrank¬
heiten. Verhandl. d. Gesellsch. deutscher Naturforscher und Aerzte. 60. Versamml. zu Wien,
September 1894. Leipzig 1895, 2. Theil, 2. Hälfte, pag. 211. — v. Reuss, Die Elektricität
bei der Behandlung entzündlicher Augenkrankheiten. Wiener klinische Wochenschr. 1896,
Nr. 20. — v. Reuss, Die Elektricität bei der Behandlung entzündlicher Augenkrankheiten.
Deutschmann’s Beiträge zur Augenheilkunde. 1896, III, 23. Heft. — v. Reuss, Neue Er¬
fahrungen über die Elektrotherapie entzündlicher Augenkrankheiten, v. Graefe’s Archiv für
Ophthalm. 1898, XLVI. — Pansier, Trait6 d’ölectrothdrapie oculaire. Paris 1896. — Pansier,
Le traitement de T^pisclerite par l’&ectricite. Arch. d'ölectricitö m6d. 1899. — Silex, Klini¬
sches und Experimentelles aus dem Gebiete der Elektrotherapie der Augenkrankheiten. Arch.
f. Augenhk. 1898, XXXVII, 2. — Benedikt, Beiträge zur Augenkunde, v. Graefb’s Archiv f.
Ophthalm. 1897, XLIII. — Terson, Episcl^rite traitee par l’ölectrolyse. Clinique ophthalmo-
logique. 1897, pag. 88. — Terson , Sur le traitement sous-conjunctival de Pepiseterite par
l’^lectrolyse. Compte rendu de la Societc franv- d’ophthalm. 1898, pag. 362. — Clavelier,
Un cas d’^pisclerite compliquant un zona ophthalmique gu£ri par l’&ectrolyse. Clin, ophthalm.
1898, pag. 86. — Kazaurow, Die Anwendung des Edison’schen Elektromotors zur Massage
des Auges. Wratsch. 1895, Nr. 22; Ref. im Arch. f. Augenhk. XXXI, 4. — Snegiröw, Thera¬
peutische Bedeutung der Vibrationsmassage bei verschiedenen Augenkrankfeeiten. Westnik
ophthalm. 1898, XV und über den Einfluss der Vibrationsmassage auf die Diffusion aus dem
Conjunctivalsacke in die Vorderkammer des Auges. Medizinskoje Obozrenje. 1898, XLIX.
Ref. im Jahresbericht für Ophthalm. für 1898, pag. 407. Reuss.
Emol ist ein aus England eingeführtes fleischfarbenes, sehr feines
Pulver, das chemisch dem Steatit sehr nahe steht. Mit Wasser aufge¬
schlemmt, besitzt es eine grosse Emulsionskraft und reinigt die Haut wie
Seife; hartes kalkhältiges Wasser wird durch Emol weich. Das mit Wasser
zu einem Brei angerührte Emol, in dicker Lage auf verhornte Theile der
Fusssohle und Handfläche aufgetragen und mit Guttaperchapapier bedeckt,
erweicht die Epidermisschichten derart, dass man selbe leicht und schmerzlos
entfernen kann. Als Streupulver aufgepulvert findet es Anwendung bei ver¬
schiedenen Pruritisformen, weil es den Juckreiz stillt, ferner bei nässenden
Ekzemen und Erythemen wegen seiner austrocknenden Wirkung. Aehnliche
chemische, physikalische und therapeutische Eigenschaften wie das Emol
scheinen das russische Product Kil von V. E. Veliamowisch und der arabi¬
sche Seifenstein Tfol, durch Lahache in die Dermatotherapie eingeführt, zu
besitzen.
Literatur: E. Merck, Emol. Bericht über das Jahr 1898. — V. E. Veliamowisch,
Simaine med. 1898, Nr. 214. — Lahache, Journ. de Pharm, et de Chim. 1898, pag. 57.
Loebiseli.
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Ephedrin. — Epichlorhydrin.
105
Ephedrin, s. Augenheilmittel, pag. 39.
Epicarin, ein Condensationsproduct des ß-Naphtols und der Cre-
sotinsäure, nach seiner chemischen Constitution [i-Oxynaphthyl-o-Oxy-m-
✓COOH
Toluylsäure von der Formel: C 6 H 8 ^-OH C 10 H 9 .OH, eine Säure, welche
x ch 2 /
leicht lösliche, nicht ätzende Salze bildet und welches als Ersatzmittel des
ß-Naphtols, von dem es sich durch seine relative Ungiftigkeit und Reiz¬
losigkeit unterscheidet, von Kaposi bei denselben Hautkrankheiten, gegen
welche er früher das ß-Naphtol verwendete, empfohlen wurde. Normale
Hautstellen werden nach Einreibung mit einer 10%i?en Epicarinsalbe in¬
folge der Fettwirkung geschmeidiger, nach länger dauernder Application auf
die gesunde Haut folgt Mortificirung der oberflächlichen Epidermisschichte
mit gerinfügiger Exsudation aus den Cutisgefässen; hingegen treten nach
Anwendung des Epicarins auf die vorher krankhaft veränderte Haut an den
betreffenden Stellen und in weiterer Nachbarschaft Erytheme, selbst Knötchen-
und Bläschenekzeme auf. immerhin ist die Reizwirkung eine geringe. Nach
Kaposis Erfahrungen hörte bei Scabies nach einer einmaligen Einreibung
der 10%igen Salbe in allen Fällen das Jucken auf und man konnte nach
zwei Stunden das Eintrocknen der Milbengänge constatiren; auf das be¬
gleitende Ekzem ist das Mittel ohne Einfluss; eine alkoholische oder auch
die Sodalösung des Epicarins blieb jedoch bei Scabies ohne Einfluss, während
bei Herpes tonsurans diese letzteren sich ebenso wirksam erwiesen wie
die Salbe, 8—lOmalige Anwendung genügte zur Heilung; auch hier hörte
der Juckreiz schon nach einmaliger Application auf. Die Eigenschaft des
Epicarins, den Juckreiz rasch zu beheben, macht es auch zur Behandlung
der Prurigo geeignet; hierbei konnte auch die Ungiftigkeit des Präparates
constatirt werden, indem selbst bei lOmaliger Einreibung des ganzen Körpers
sogar bei Kindern weder Albuminurie noch anderweitige Beschwerden auf¬
traten. Die Besserung trat hier schon nach 2—3 Wochen ein — auch hier
war die alkoholische und Sodalösung weniger wirksam wie die Salbe. Bei
acutem und chronischem Ekzem wurde Epicarin schlecht vertragen,
bei Psoriasis war es nutzlos; nach Rille waren die Erfolge bei sehr milden
Eruptionen von Psoriasis vulgaris nicht ungünstig.
Nach Dreser ist Epicarin ein starkes Antisepticum, die 1° „ige Lösung
des Natronsalzes hebt die Hefegährung und die Entwicklung des Bacterium
coli vollständig auf. Nach A. Eichengrün geht Epicarin unzersetzt durch
den Körper, wobei es den Harn sterilisirt. Frick reichte es Hunden bis zu
10,0 per os bei Sarcoptesräude mit bestem Erfolg.
Das Epicarin bildet röthliche, wenn ganz rein, farblose Blättchen vom Schmelzpunkt
199°, ans Alkohol krystallisirt, wird es in gelblichen Nüdelchen erhalten. Das Natronsalz
ist im Wasser schwer löslich. Mit Eisenchlorid giebt es in alkoholischer Lösung eine intensiv
blane Färbnng, mit concentrirter Schwefelsäure erhitzt eine rothbranne Lösung, welche
grüne Fluorescenz zeigt.
Dosirung: Aeusserlich in 10%iger Salbe mit Ung. simplex oder mit
01. Jecoris aselli und Vaselin, auch mit Sapo viridis und Zinkoxyd combinirt.
Literatur: Hofr. Prof. Kaposi, Epicarin, ein neues Heilmittel. Wiener med. Wochen¬
schrift. 1900, Nr. 6. — A. EichbngbOn, lieber Epicarin. Pharmak. Centralhalle. 1900, Nr. 7. —
Fbick, Deutsche thierärztl. Wochenschr. 1899, Nr. 34. — C. G. Pfeipfenbebobb , Klinisch-
therap. Wochenschr. 1900, Nr. 19. — Rille, lieber Anwendung des Epicarin in der Be¬
handlung von Hautkrankheiten. »Die Heilkunde«. August 1900. Loebiach.
Epichlorhydrin. Ein toxikologisch interessanter Körper ist die
mit dem Namen Epichlorhydrin belegte Verbindung C 8 H 5 Cl 0, welche durch
Einwirkung von Kalilauge auf die sogenannten Chlorhydrine, die Cl-Sub-
stitutionsproducte des Glycerins (vergl. Encyklopäd. Jahrb., VIII, pag. 4G)
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106
Epichlorhydrin. — Essigsäurevergiftung.
entstehen. Wie diese besitzt es narkotische Wirkungen und entbehrt der
temperaturerhöhenden und Poly- und Hämoglobinurie erzeugenden Action
des Glycerins. Es ist ein örtlich sehr reizender Stoff, der bei Versuchen mit
ihm rasch Conjunctivitis und bei Subcutanapplication nicht oder nur langsam
tödtlich wirkender Mengen starkes ausgebreitetes Oedem erzeugt. Bei Warm¬
blütern bewirkt es starke Beschleunigung und Arhythmie der Athmung,
Dyspnoe, Zittern, Cyanose und Krämpfe. Der Tod erfolgt asphyktisch, und
lässt sich durch künstliche Respiration hinausschieben. Am empfindlichsten
sind Tauben, die schon nach 0.16 in 36 Stunden zugrunde gehen. Bei
Fröschen ruft Epichlorhydrin keine Krämpfe hervor. Bei langsamer Ver¬
giftung findet sich hämorrhagische Gastritis (auch bei subcutaner Applica¬
tion), mitunter auch Nephritis. Blut wird im Contact mit Epichlorhydrin
braun, zeigt aber nicht das Methämoglobinspectrum. Amöben und Paramecien
tödtet es rasch, auf Milzbrandsporen ist es ohne Einfluss.
Literatur: v. Kossa, Ueber das Epichlorhydrin. Arch. internat. d. Pharm. IV. 1898,
pag. 351. Huscmann.
Essigsänreverglftttng. Es ist eine bekannte Thatsache, dass
die Essigsäure giftige Wirkung besitzt, die theils auf localer kaustischer
Action, theils auf schädlicher Einwirkung auf das Blut beruht. Zweifelsohne
ist deshalb auch die neuerdings in den Handel eingeführte Speiseessig¬
essenz, welche etwa 80°/ 0 ige, mit Caramel gefärbte Essigsäure darstellt,
ein gefährliches Agens, das im Detailhandel nur in Glasgefässen, welche
entweder eingebrannt oder darauf geklebt eine deutliche Angabe tragen
müssen, dass die Essenz mit grösseren Mengen Wasser zu verdünnen sei,
abzugeben erlaubt sein sollte. Dass dadurch die Gefahr zwar verringert, aber
nicht völlig beseitigt ist, beweist ein tödtlicher Fall, in welchem ein herku¬
lisch gebauter Mann drei Tage nach der Ingestion eines Esslöffels voll Essig¬
essenz, die er mit etwa der gleichen Menge Wasser und einer Kartoffel
zu Salat gemengt hatte, zugrunde ging. Die nach einigen Stunden eintreten¬
den Erscheinungen bestanden in heftigen Leibschmerzen, Erbrechen, Diarrhoen,
intensivem Coliaps mit ganz unfühlbarem Radialpuls, kalten Schweissen und
grosser Benommenheit, und obschon die Collapserscheinungen durch Exci-
tantien und die Magen schmerzen durch warme Kataplasmen beseitigt wurden,
dauerten die Diarrhöen fort, und es kam am zweiten Tage zu Somnolenz,
in welcher der Tod am dritten Tage der Intoxication erfolgte. Die heftige
locale Wirkung erhellt aus dem Sectionsbefunde: Magenschleimhaut in toto
stark dunkelgrau verfärbt, gegen die grosse Curvatur hin in der ganzen
Länge derselben punkt-, stich- und inselförmige tiefdunkelbraune subepithe¬
liale Ekchymosen, besonders stark entwickelt im Fundus und gegen den
Pylorus hin, auch in der oberen Hälfte des Zwölffingerdarmes, das Epithel
stark ödematös durchtränkt . l ) Es existiren übrigens in den politischen
Zeitungen der Jahre 1889 — 1898 eine grosse Anzahl von Unglücksfällen
durch Essigessenz, welche eine starke Zunahme in der neuesten Zeit dar-
thun. Während von 1889—1894 nur 14 Fälle (durchschnittlich 2,3 im Jahre)
vorkamen, ereigneten sich 1895 und 1896 11 und im Jahre 1897 nicht
weniger als 12. In einer vom Verbände deutscher Essigfabrikanten veran¬
stalteten Zusammenstellung 2 ) finden sich 11 Fälle von schweren äusseren
Verletzungen, durch Uebergiessen mit Essigessenz oder durch Application
derselben als Essigüberschläge oder durch Spritzen auf die Conjunctiva ver¬
anlasst, und 30 Fälle von Intoxication durch den Genuss der Essigessenz, wo-
von 17 tödtlich verlaufen sein sollen. Unter den Erkrankten waren nicht weniger
als 14 Kinder, die fast alle nach dem Genuss der Essenz zugrunde gingen.
Literatur: *) Stümpf, Ein Fall von tödtlicher Vergiftung durch Essigessenz. Münchener
nied. Wochenschr. 1898, Nr. 22, pag. 690. — *) Beilage zo der Broschüre: Konstessig (Essig¬
essenz) und Gährungsessig, oder ist Essigessenz zu Speisezwecken zu empfehlen? Wissenschaft-
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Essigsäurevergiftung. — Euphthalmin.
107
liehe Urtheile über die Eigenschaften von Essigessenz und Gährungsessig zmn Speisege¬
brauche. Neuwied 1898. JJuscrnann.
Eucain, s. Augenheilmittel, pag. 40.
Eulactol, ein Nährpräparat für Kinder, ein Gemisch von Eiweiss
(28,5%), Fett (14%), Kohlehydraten (und zwar Milchzucker 46%) und Mineral¬
stoffen (Phosphorsäure, Kalk und Eisenoxyd), welches aus Milch und Pflanzen-
eiweiss hergestellt wird. Das Mittel wurde von S. Schwarsensky auf der
Poliklinik des Privatdocenten Dr. Neumaxn Kindern mit blassem Aussehen
und schlechtem Appetit als Zusatz zur Nahrung gegeben, und zwar erhielten
die Kinder bis zum 3. Lebensjahre 1 Theelöffel ?mal des Tages, grössere
Kinder 1 Esslöffel 3mal täglich in heisser Milch, Cacao, in Suppen oder
Brei verrührt. Bei 29 Kindern im Alter von 1 Monat bis zu 12 Jahren,
welche an Dyspepsie, Drüsenschwellungen u. ähnl. litten, versucht, war eine
Gewichtszunahme in einigen Fällen nach Darreichung von Eulactol ganz
auffällig, in anderen war sie nicht erheblich oder fehlte ganz. C. A. Ewald
fand die Ausnützung des Eulactols bei zwei Männern als vorzügliche, indem
91,4, beziehungsweise 94,1% der verabfolgten Menge aufgenommen wurden.
Literatur: 8. Schwaksensky, Ueber Versuche mit Eulactol in der Kinderpraxis. —
C. A. Ewald, Ueber Eulactol. Berliner klin. Wochenschr. 1899, Nr. 46. Lovbisch .
Euphthalmin, s. Augenheilmittel, pag. 39.
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Fangopackungen, s. Bad, pag. 57.
Ferrichtliol, Ferrum ichthyolsulfonicum, ein von der Ichthyol-
Gesellschaft in Hamburg in den Handel -gebrachtes Präparat, welches 3,5%
organisch gebundenes Eisen nebst 96,5% Ichthyolsulfonsäure enthält. Es
wird in Tabletten zu 0,1, welche nahezu geruch- und geschmacklos sind,
bei Anämie und Chlorose verordnet.
Literatur: E. Merck 's Bericht für 1898. Loebisc/t.
Fettleibigkeit. Immer mehr tritt das Bestreben hervor, die ver¬
schiedenen Arten von Fettleibigkeit zu kennzeichnen und auseinanderzu¬
halten und au! diesem Wege das therapeutische Verfahren zu differenziren.
Man hat schon lange zu unterscheiden versucht zwischen solchen Fällen,
bei denen allzu Qppige Lebensweise an der übermässigen Fettbildung Schuld
ist, und solchen, bei denen der Verbrauch, also die Oxydationsverhältnisse
geringer sind als gewöhnlich. Das ist aber, wie Fr. Müller betont, kein
Unterschied, denn wer weniger verbraucht als ein Durchschnittsmensch und
doch wie ein solcher isst, der isst eben zu viel. Die massenhafte Fettan¬
häufung sei die Folge davon, dass längere Zeit hindurch die Nahrungszufuhr
grösser war als der Bedarf. Bei einer grossen Zahl fettsüchtiger Leute lässt
sich nachweisen, dass sie viele Jahre gewohnt waren, mehr zu essen als die
meisten anderen Menschen, die sich unter den gleichen Lebensbedingungen
befinden; ferner ist wichtig, dass viele dieser Patienten eine grosse Vorliebe
für Kartoffeln, Mehlspeisen und Süssigkeiten zeigen; in der Form von Kohle¬
hydraten lassen sich aber viel leichter grössere Mengen von Nahrungsstoffen
aufnehmen als in der von Eiweiss. Auf der anderen Seite wird der Fett¬
ansatz begünstigt durch alle jene Einflüsse, welche die Verbrennungspro-
cesse herabsetzen: langer Schlaf, Einschränkung der Muskelbewegungen und
geringe Wärmeabgabe. Darum sieht man, dass in allen denjenigen Berufs-
classen die Fettleibigkeit häufig ist, in denen bei guter Ernährung wenig
Körperarbeit erfordert wird. Nach Fr. Müller ist für die Mehrzahl der Fett¬
süchtigen kaum nöthig anzunehmen, dass die Zellen ihres Organismus eine
verminderte Oxydationskraft zeigen. Würde die Fettsucht hauptsächlich auf
eine Constitutionsanomalie zurückzuführen sein, so müssten doch auch bei
den handarbeitenden Classen mehr Fettleibige Vorkommen. Sicher sei jedoch,
dass hereditäre Einflüsse eine Rolle spielen.
Dieses letztere Moment, sowie überhaupt das der Constitutionsverände¬
rung bei Fettleibigkeit wird von Ebstein in den Vordergrund gestellt,
welcher besonders die Vergesellschaftung mit der Gicht und Zuckerkrank¬
heit und gewisse Analogien dieser Stoffwechselerkrankungen hervorhebt.
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Fettleibigkeit.
109
Dass es sich bei der Fettleibigkeit zam mindesten in sehr vielen Fällen um
eine vererbbare und angeborene Anlage bandle, sei daran zu erkennen, dass
in einzelnen Familien durch viele Generationen hindurch trotz mässigen
Lebens und einer anscheinend völlig ansreichenden körperlichen Thätigkeit
nicht selten schon in früher Jugend die Fettleibigkeit in hohem Grade auf-
tritt, während tausend andere üppiger und träger lebende Menschen durch¬
aus keine Neigung zu einem übermässigen Fettansätze haben. Das spreche
zweifellos für eine besondere Anlage, Disposition oder Diathese. Zu dieser
unzählige Male gemachten Erfahrung stimmt jedoch noch nicht die wissen¬
schaftliche Beweisführung. Magnus Levy hat im Gegensätze zu den in
anderen Respirationsversuchen bei Fettleibigen gewonnenen, an der unteren
Grenze der Norm befindlichen Werthen für Sauerstoffaufnahme und Kohlen¬
säureausscheidung, nicht bestätigen können, dass ein stark herabgesetztes
Verbrennungsvermögen der Gewebe Fettleibiger besteht, soweit er es nach
seinen Untersuchungen des respiratorischen Gas- und Stoffwechsels bei Fett¬
leibigen vermittelt hat; indess hält derselbe einen in mässigem Grade herab¬
gesetzten Stoffwechsel bei einzelnen Fettleibigen für nicht unmöglich. Eb¬
stein glaubt, es werde im Laufe der Zeit der Nachweis geliefert werden
können, dass es sich bei der Fettleibigkeit keineswegs allein um ein Miss-
verhältniss zwischen Einnahme und Ausgabe handelt, sondern dass, abge¬
sehen von der dabei stattfindenden »Mast«, in allen Fällen eine jetzt noch
nicht zu erklärende Eigenthümlichkeit der elementaren Bestandteile, also
der Zellen oder des Protoplasmas der Fettleibigen besteht, unter deren Ein¬
fluss aus der aufgenommenen Nahrung mehr Fett angesetzt wird, als bei
den nicht zu Fettleibigkeit neigenden Individuen. Dass diese Annahme eine
berechtigte ist, lehren die Untersuchungen über die Mast der Thiere, welche
ergeben, dass verschiedene Thiere unter sonst gleichen Verhältnissen durch¬
aus nicht in gleicher Weise Fett ansetzen und dass überdies eine besondere
Art des Futters durchaus keine absolute Nothwendigkeit und Vorbedingung
für den Fettansatz bei der Mast der Thiere bildet. Das Protoplasma muss
besondere Eigentümlichkeiten haben. Mutatis mutandis müssen analoge
Verhältnisse für die der Fettsucht verfallenden Menschen gleichfalls voraus¬
gesetzt werden.
Das Gemeinsame in der Pathogenese der Fettsucht, der Gicht und der
Zuckerkrankheit bestehe darin, dass dabei eine mangelhafte, häufig familiäre
und vererbbare Beschaffenheit des Protoplasmas besteht Ebstein erachtet
darum die Bezeichnung dieser Krankheiten als »allgemeine Erkrankungen
des Protoplasmas mit vererbbarer Anlage« als zweckmässig. Vielleicht
werden auch bei diesen Krankheiten noch einmal die parasitären Krank¬
heitserreger eine determinirende Rolle spielen. In prophylaktischer Beziehung
sei es wichtig, sich der erblich belasteten Jugend anzunehmen, so lange
diese Individuen diesen Krankheiten noch nicht verfallen sind. Solche Indivi¬
duen müssen von Kindesbeinen an zu einer richtigen Diät und Lebensweise
erzogen werden.
Zu den in jüngster Zeit erörterten Beziehungen zwischen Fettleibig¬
keit und Diabetes liefert F. Hirschfeld einen Beitrag, welcher die v. Noor-
DENsche Hypothese von der »diabetogenen Fettsucht« im Gegensätze zum
»lipogenen Diabetes« (Kisch) stützen soll. v. Noorden berichtete über einige
Fälle von Fettleibigkeit, bei denen sich nach Aufnahme von 100 Grm. Zucker
eine verhältnissmässig beträchtliche Glycosurie nachweisen liess und bei
denen dann später Diabetes mellitus auftrat. F. Hirschfeld theilt nun gleich¬
falls drei Fälle mit, von denen ein fettleibiges Individuum und zwei wohl¬
genährt waren, welche aber alle in den letzten Jahren Gewichtszunahmen
von 10—20 Kilo auf wiesen — bei diesen Personen zeigten sich schon nach
Aufnahmen von 90—150 Grm. Kohlehydraten in stärkemehlhaltiger Nahrung und
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110
Fettleibigkeit.
20 — 30 Grm. in Form von Rohrzucker Zuckerausscheidungen von 0,2—0 5° c .
Nach Einleitung von Entfettungscuren, wobei sowohl die Gesammternährung
als auch speciell die Kohlehydratezufuhr um 50% herabgesetzt wurde, bei
gleichzeitiger Steigerung der Muskelthätigkeit, verschwand die Zuckeraus¬
scheidung nach 1 — 3 Wochen. Daraus schliesst Hirschfeld, dass länger
dauernde Herabsetzung der Muskelthätigkeit neben reichlicher, kohlehydrat¬
reicher Ernährung sehr oft mit der Entstehung von Diabetes zusammenhängt.
In einer die Entfettungscuren behandelnden Arbeit weist auch P. F.
Richter auf die Analogie der Bildung von Fettleibigkeit mit alimentärer
Glycosurie hin. Bei gesteigerter Nahrungszufuhr und mangelnder Bewegung
sei die Art der entstehenden Fettleibigkeit eine passive, dem Organismus
gewissermassen aufgezwungene. Von den Regulationsmechanismen, welche
derselbe besitzt, um übermässigen Fettansatz zu verhindern, werde kein
oder ein ungenügender Gebrauch gemacht, oder dieselben erweisen sich der
vermehrten Fettbildung gegenüber als unzureichend. Es liege ein Vergleich
mit der alimentären Glykosurie und vielleicht den leichten Graden des Dia¬
betes nahe. Auch hier eine vermehrte Zuckerproduction infolge der Zufuhr
kohlehydratreichen Materiales und dabei eine Insufficienz des den Zucker¬
abfluss regelnden Apparates. Aber daneben kennen wir die schweren Formen
des Diabetes, bei denen es sich um eine Störung der Verbrennung des Zuckers
durch die Zellen des Organismus handelt, und es sei zu fragen, ob auch für
die Entstehung gewisser Arten von Fettleibigkeit eine ähnliche Aetiologie
eine Rolle spielt. Für solche Formen von Fettleibigkeit, welche dadurch ent¬
stehen, dass die Verbrennung der stickstofffreien Stoffe in den Zellen ge¬
litten hat, dass es sich um eine vereinzelte oxydative Thätigkeit der Zelle
handelt, bei denen also gewissermassen activ die quantitativ herabgesetzte
oder vielleicht auch qualitativ geänderte Zersetzungsenergie zu einem Ansätze
von Fett führt, wäre der Name Fettsucht zu reserviren. Für die Annahme
dieser letzteren Aetiologie führt Richter ausser den hereditären Verhält¬
nissen den ihm noch wichtiger erscheinenden Umstand an, dass unter ge¬
wissen Umständen Fettsucht als eine Folge von Eingriffen oder Störungen,
welche den Gesammtorganismus betreffen, auftritt, wie nach Blutverlusten,
nach Eingriffen in die sexuelle Sphäre, nach dem Klimakterium (diese letzteren
Bezeichnungen weisen darauf hin, dass das Secret der Geschlechtsdrüsen in
irgend einem Verhältnisse zu der oxydativen Thätigkeit der Zellen steht).
Therapeutisch ist diesbezüglich hervorzuheben, dass die Empfehlung der
Schilddrüsensubstanz besonders wegen ihrer oxydationssteigernden Wirkung
erfolgte und diese letztere ist in der That experimentell durch Magncs-Levy,
Stüve u. a. bestätigt worden. Die v. NooRDEx'sche Vermuthung hingegen,
dass nur Fettleibige, bei denen eine krankhafte Veränderung der Oxydations¬
menge infolge von Störungen der Zellthätigkeit supponirt wird, mit Ge¬
wichtsverlust auf die Schilddrüsentherapie reagiren, hat sich nicht bewährt,
indem sowohl der Gesunde wie der Fettleibige durch Mästung und der con¬
stitutioneil Fettsüchtige bei Anwendung von Schilddrüsentablettes an Körper¬
gewicht verlieren. In Bezug auf die Schilddrüsensubstanz als Mittel gegen
Fettleibigkeit betont Richter, dass man dieses Medicament nur für kurze
Zeit und bei einer ausreichenden Diät verwenden könne. Die Schild¬
drüsentablettes stellen, wie er betont, nur ein Surrogat einer Entfettungscur,
und zwar ein nicht ungefährliches dar, und sie sollten nur unter gewissen
Umständen zur Unterstützung einer solchen herangezogen werden. So könne
man sie im Anfänge einer Entziehungscur geben, wo man noch eine der
Erhaltungskost des betreffenden Individuums entsprechende Diät reicht, aber
man solle die Darreichung nicht über die ersten Tage ausdehnen und sofort
damit aufhören, sowie die Diät erheblicher unter den Calorienbedarf des
Individuums herabgesetzt wird. Ferner sei ihre Anwendung erfolgreich,
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Fettleibigkeit.
111
wenn es sich darum handelt, jemanden in kurzer Zeit um einige Pfunde zu
erleichtern; Bedingung hiebei sei aber stets die häufige genaue Untersuchung
des Urins und der Herzthätigkeit, sowie die vorsichtige Dosirung (von 0,1
anfangend und nicht über 0,5 pro die steigend).
Ueber Schweninger’s Entfettungscuren liegt eine ausführliche
Mittheilung von Herm. Cohn vor, welche das Sonderbare dieser Methode in
ihren Details eingehend schildert. Danach sind die drei Heilpotenzen, welche
Schweninger anwendet: Massage des Unterleibes, heisse Bäder und eigen-
thümliche Diät. Die Massage wird in ganz eigenartiger Weise ausgeführt,
und zwar dreimal täglich, einmal vor dem Frühstück, einmal vor dem Mittag-
und einmal vor dem Abendbrot, jedesmal eine Viertelstunde lang. Der PatieDt
liegt flach auf einem Sopha mit etwas an den Leib angezogenen Ober¬
schenkeln und gebeugten Knien, um die Bauchmusculatur zu erschlaffen.
Der Arzt pufft nun zuerst mit der geballten Faust die Gegend der Magen¬
grube allmählich immer stärker, schliesslich die Faust so tief als möglich
hineindrückend, wobei der Kranke sich bemühen muss, möglichst tief zu
athmen. Hierauf kneift der Arzt die fetten Hautdecken des Bauches, die
Fettträubchen so kräftig zerquetschend, »dass braune und blaue Flecken auf
der Haut entstehen«. Endlich »springt der Arzt in ganzer Person auf den
Leib des Patienten, so dass seine beiden Knie tief in die Magengrube hinein¬
drücken«. Der Arzt bleibt in hockender Stellung auf dem Kranken so lange,
bis dieser anfangs 5mal bis zuletzt 30mal tief Athem geholt hat. Von
heissen Bädern (36° R. bis 40° R.) werden Theiibäder verordnet, und zwar
am ersten Tage am Morgen nach der Massage ein heisses Armbad, am
zweiten Tage ein heisses Fussbad und am dritten Tage ein heisses Sitzbad,
durch 15—20 Minuten. Bezüglich der Diät kommen die Speisen in sehr
kleinen Portionen, die Getränke in kleinen Gläsern, kaum 50 Grm. fassend,
zur Verwendung. Die Mahlzeiten werden mit grösster Pünktlichkeit alle drei
Stunden gereicht, das erste Frühstück um 7V a Uhr, das zweite um 10 l 2 Uhr,
das Mittagessen um l l j 2 Uhr, die Vesper um 4V 2 Uhr und das Abendbrot
um l l /o Uhr. Durchaus verboten sind: Brot, Semmel, Kuchen, Butter, Fett,
Zucker, Kaffee, Thee, Milch, Wein, Bier und Schnaps. Das erste Frühstück
besteht in einem Stück holländischen oder Schweizer Käse (*/* Pfund) ohne
Brot und Butter, oder man erhält 10 Backpflaumen oder ein Ei oder ein
Tellerchen Bratkartoffeln, Kohlrüben oder ein Stück Schinken ohne Brot,
oder ein Tellerchen Schoten- und Mohrrüben oder dicke Milch, oder etwas
Kalbsmilch oder ein kleines Fleischbrot oder ein Rührei von einem Ei. Zum
zweiten Frühstück giebt es eine Fricandelle oder Schoten, etwas Rindfleisch,
Roastbeef oder dicke Milch, Käse oder ein Ei, Beefsteak oder Rührei mit
Schinken, Kalbsmilch, Schinken. Zum Mittagbrot kommt eine Schnitte
Hammelbraten, oder Roastbeef, oder Kalbsnierenbraten, oder Suppenrindfleisch,
oder Filet, gefüllter Kohl, Schweinscotelette, Schmorbraten, Kalbsbraten,
Kalbsleber, ein Stück Huhn, Hammelcotelette, aber niemals dazu Sauce oder
Compot oder Salat. Zur Vesper erhält man Kohlrabi, Blumenkohl oder dicke
Milch, Fruchteis, Obst, etwas süsse Speise. Zum Abendbrot giebt es Kalbs-
milch oder Rührei von 1 Ei oder Ragout fin, Lachs, Klops, gefüllten Kohl,
Schinken, Schollen, Forellen, Macaroni mit Schinken, Käse oder 1 Ei, dicke
Milch, Seezunge, Zunge mit Pilzen. Zu keiner Mahlzeit darf getrunken
werden; erst eine halbe Stunde nach der Mahlzeit wird ein kleines Gläschen
Flüssigkeit erlaubt. Die Quantität von 0,4 Liter Sauerbrunnen darf nur im
Lauf von 24 Stunden ausgetrunken werden und stets nur in kleinen Mengen
zu höchstens 50 Grm. — Abends vor dem Schlafengehen wird immer noch zur
Erfrischung etwas rohes Obst gestattet, auch darf eine Birne oder eine Pflaume
in der Nacht, wenn Durst eintritt, genossen werden. Der Durst ist das
Qualvollste der Cur, aber am dritten oder vierten Tage hat man sich adaptirt.
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112
Fettleibigkeit.
Eine fernere Unbequemlichkeit ist die Stuhlverstopfung bei allen Kranken;
die Fäces werden steinhart und nur mit Mühe und in geringer Menge ent¬
leert. Erwähnenswerth ist noch, dass der Sonntag ein curfreier Tag ist, an
welchem weder massirt noch gebadet wird und der Kranke ganz nach seinem
Belieben alles geniessen darf, was er will. Die Gewichtsverminderung beginnt
bei dieser Entfettungscur schon in den ersten Tagen und soll stetig Wochen
und Monate lang andauern, allerdings muss man »noch viele Wochen die
Diät, wenn auch in etwas weniger strenger Weise fortsetzen«.
Gegen die Schilddrüsentherapie bei Fettleibigkeit führt Ebstein ge¬
wichtige Bedenken an. Auf Grundlage seiner eigenen eingehend mitgetheilten
Beobachtungen betont er, dass sich nicht alle Fettleibigen, die anscheinend
im Alter, Geschlecht, Leibesbeschaffenheit, analoge Verhältnisse darbieten,
der Schilddrüse gegenüber gleich verhalten. Infolge der beobachteten un¬
günstigen Nebenerscheinungen sei es wichtig, nicht nur auf gute Beschaffen¬
heit der Schilddrüsenpräparate zu sehen, sondern stets mit kleinen Dosen zu
beginnen und nur allmählich die Dosirung zu erhöhen. Seine Schlüsse fasst
Ebstein in folgenden Thesen zusammen: 1. Die Entfettungscuren mit Schild¬
drüsenpräparaten sind an ihren Ergebnissen unbefriedigend, weil die
Gewichtsabnahme dabei inconstant ist und bei Gebrauch der üblichen Dosen
anscheinend gar nicht selten völlig ausbleibt. In den Fällen aber, wo eine
Gewichtsabnahme eintritt, hört sie nach einer kurzen Zeit auch bei Fort¬
gebrauch der bis dahin erfolgreich gewesenen Dosen auf; jedenfalls erlischt
die Wirkung meist sofort mit dem Aussetzen des Mittels. Ebstein hat bei
dem Gewichtsverluste, welcher durch Darreichung von Schilddrüsenpräparaten
bei Fettleibigkeit erzielt wird, die Steigerung des Wohlbefindens vermisst,
welche man bei Einwirkung von entsprechenden diätetischen Curen und Ein¬
haltung eines geeigneten Regimes zu sehen gewohnt ist. 2. Die Entfettung
mit Schilddrüsenpräparaten ist keine rationelle Entfettungsmethode;
als solche kann nur diejenige gelten, bei welcher der Körper nur Fett ver¬
liert und dann wenn sie mit ungiftigen Substanzen arbeitet. Bei der Schild¬
drüsenfütterung steht aber der Eiweissverlust in erster Linie und dann kann
die Schilddrüsensubstanz nicht als ungefährlicher Stoff gelten. Man kann
derartige giftige Mittel nur dann gelten lassen, wenn wir damit Krankheiten
behandeln, welche schlimmer sind als die Mittel selbst. Die Behandlung des
Myxödem mit Schilddrüsen ist rationell, aber die Fettleibigkeit ist in den
Fällen, wo Scbilddrüsentherapie überhaupt in Frage kommen kann — bei
den schlimmen Formen wird dies niemand wagen — doch zn gutartig, um
den Patienten den Gefahren einer Schilddrüsenvergiftung auszusetzen. 3. End¬
lich brauchen wir die Schilddrüsenbehandlung der Fettleibigkeit nicht, wir
haben genug Methoden, welche bei geschickter Handhabung guten Erfolg
sichern, und zwar ohne mit Gefahren verbunden zu sein.
Die Erfahrungen, welche Kisch über Thyroidebehandlung der Fett¬
leibigkeit gemacht hat, beziehen sich auf Fälle, in denen die Schilddrüsen¬
tabletten allein als Entfettungsmittel angewendet wurden und solche, in
denen dieselben neben dem Gebrauche einer Marienbader Cur zur Verwen¬
dung kommen. In ersteren Fällen hat Kisch bei hochgradig fettleibigen In¬
dividuen mit der plethorischen Form der Lipomatosis universalis bei zwei-
bis dreiwöchentlicher vorsichtiger Verabreichung der Tabletten, wenn die
Diät nicht gründlich und in der Vermeidung von Fettansatz entsprechenden
Weise geregelt wurde, nur geringe Gewichtsabnahme, etwa 1—3 Kgrm.
binnen 2—3 Wochen gesehen; allerdings auch nur ausnahmsweise ungünstige
Nebenerscheinungen. Bei anämischen Fettleibigen traten stärkere Gewichts¬
verluste auf, jedoch zugleich mit kardialen Beschwerden und nervösen
Störungen, welche eine längere Verabreichung der Schilddrüsenpräparate
verhinderten. Bei der letzteren Medication neben der Marienbader Cur
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Fettleibigkeit. — Fortoin.
113
(Gebrauch der Glaubersalzwässer, hautreizende und schweisserregende Bäder,
fettentziehende Diät) zeigte sich bei plethorischen kräftigen Fettleibigen
keine wesentliche Aenderung der sonst beobachteten Gewichtsverluste zu¬
gunsten jener Curunterstützung, wohl aber traten Erscheinungen von Er¬
müdung und Abmattung in höherem Grade und früher ein, als dies sonst
der Fall ist; die Unterstützungen mit dem Dynamometer zeigten wesent¬
liche Herabsetzung der Muskelkräfte, in zwei Fällen Glykosurie. Bei anämi¬
schen Fettleibigen oder bei Zeichen von Myodegeneration des Herzens wurde
von dem Schilddrüsengebrauche bei der Marienbader Cur als gefährlich Ab¬
stand genommen.
Literatur: Fb. Mülleb, Allgemeine Pathologie der Ernährung in v. Leydbn’ö Hand¬
buch der Ernährungstherapie und Diätetik. 1897, I, 1. Abtheilung. — W. Ebstein, Ueber die
Stellung der Fettleibigkeit, der Gicht und der Zuckerkrankheit im nosologischen System.
Vortrag gehalten in der Abth. f. innere Med. der 70. Versamml. deutscher Naturforscher und
Aerzte in Düsseldorf. 1898. — Felix Hibschfeld, Ueber Beziehungen zwischen Fettleibig¬
keit und Diabetes. Berliner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 10. — P. F. Richteb, Ueber Ent-
fettungscuren. Zeitschr. f. diabet. u. physikal. Therapie. 1898, I, 4. Heft. — W. Ebstein, Be¬
merkungen über die Behandlung der Fettleibigkeit mit Schilddrüsenpräparaten. Deutsche
med. Wochenschr. 1899, Nr. 1 und 2. — H. Cohn, Ueber Schweninqeb’s Entfettungscuren.
Wiener med. Presse. 1898, Nr. 5. — E.H. Kisch, Die Schilddrüsentherapie bei Fettleibig¬
keit. Ebenda. 1899, Nr. 6. Kisch.
Fluoroform, Trifluormethan, CHF1 3 , ist ein Gas, welches sich
zu 2,8% in Wasser löst. Die wässerige Lösung wurde als Fluoroform-
wasser, Aqua fluoroformii von Stepp bei verschiedenen Formen der
Tuberkulose erprobt und sehr wirksam befunden.
Zur Darstellung des Fluoroforms werden gleiche Gewichtstheile Jodoform und
Fluorsilber (1 Kgrm.) innig mit Sand gemischt und auf dem Wasserbade erwärmt. Bei circa
40° C. beginnt die Reaction und geht allmählich ohne weitere Wärmezufuhr bis zu Ende.
Das frei werdende Fluoroform wird durch Alkohol geleitet, wo es von Jodoformgeruch und
sonstigen Jodverbindungen gereinigt wird, und tritt von hier in ein zweites, mit Kupfer-
chlorür gefülltes Wascbgefäss, wo es etwa anhaftendes Kohlenoxyd abgiebt; das nun chemisch
reine Fluoroform wird über Wasser aufgefangen. Das Verfahren ist der Firma Valen-
tiner & Schwarz in Leipzig-Plagwitz patentirt worden.
Von 14 Fällen von Lungentuberkulose wurden 9, in denen es sich um
jahrelang bestehende derbe Infiltrate handelte, sehr günstig beeinflusst, Aus¬
wurf und Nachtschweisse Hessen nach, das Körpergewicht nahm zu; in den
übrigen 5 Fällen mit Cavernenbildung und Neigung zu raschem Zerfall blieb
der Erfolg aus. Noch günstiger war der Erfolg bei peripherischer Tuber¬
kulose — tuberkulöse Kniegelenkentzündung mit starker Eiterabsonderung,
tuberkulösem Analgeschwür, bei Lupus im Gesichte trat nach 4wöchentlicher
bis mehrmonatlicher Behandlung möglichste Besserung bis Heilung ein. Das
Fluoroformwasser ist nahezu geruch- und geschmacklos und hinterlässt beim
Schlucken ein leichtes Kratzen im Gaumen.
Dosirung. Innerlich 4—5mal täglich 1 Kaffee- oder Esslöffel.
Literatur: Hofrath Dr. Stepp, Ueber die Erfolge der Anwendung des Fluoroforms
gegen Tuberkulose. Vortrag beim mittelfränkischen Aerztetag in Nürnberg. Münchener med.
Wochenschr. 1899, Nr. 29. Loebisch.
Fortoin , Patentname für Formaldehydcotoin oder besser Me-
C H 0
thylendicotoin, CHo^p 1 * 11 ^ 4 , wurde von Overlach als antimykotisches
U 14 il 11 U 4
und zugleich adstringirendes Mittel empfohlen. Das aus der Cotorinde dar¬
gestellte Cotoin konnte wegen seines scharfen Geruches und Geschmackes
arzneilich nicht verwendet werden. Das von den Chininfabriken Zimmer &
Comp, dargestellte Condensationsproduct aus Cotoin und Formaldehyd
das Fortoin, bildet jedoch gelbe, zart nach Zimmt riechende, geschmacklose
Krystalle, welche bei 211—213° C. unter Zersetzung schmelzen, sich in
Chloroform, Aceton und Eisessig leicht, in Alkohol, Aether, Benzol schwer
Encyclop. Jahrbücher. IX.
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114
Fortoin. — Frakturenverbände.
lösen, in Wasser unlöslich sind, jedoch in Alkalien sehr leicht löslich. Over¬
lach versuchte das Mittel innerlich als Antidiarrhoicum in 8 Typhusfällen
5mal mit deutlichem, 3mal ohne wesentlichen Erfolg“. Aeusserlich zeigte es
sich bei eiterigen Belegen der Mandeln in Form von Pinselungen, bei Gonor¬
rhoe der Urethralschleimhaut in Form von Spülungen sehr wirksam.
Dosirung. Innerlich: Erwachsenen 0,25—0,5 3mal täglich als Ad¬
stringens. Aeusserlich als 3mal tägliche Pinselungen mit einer Emulsion
von 0,5 Fortoin in 5 Ccm. Alkohol und 45 Ccm. Aq. destill., bei Angina
Spülungen, bei acuter Gonorrhoe mit einer Fortoinemulsion von 1,0 auf
10 Ccm. 95%igen Alkohol und 150 Ccm. Aq. destill., hiervon nach Umscbütteln
1 Esslöffel auf je 100,0 Wasser. Das Mittel ist wegen des hohen Preises
der Cotorinde sehr theuer.
Literatur: Overlach, Ueber Fortoin, ein neues Cotoinpriiparat. Centralbl. f. innere
Med. 1900, Nr. 10. Loebisch.
Frakturenverbände. Dem alten geschlossenen Gipsverbande,
der einst einen grossen Fortschritt bedeutete, ist in der Behandlung der
Knochenbrüche nur noch ein verhältnissmässig kleines Gebiet übrigge¬
blieben. So lange diese Behandlung kein anderes Ziel kannte, als den
Knochenbruch mit möglichst geringer Formabweichung zu heilen, und
um die so wichtigen Functionsstörungen sich zunächst nicht kümmerte,
so lange brauchte man eben nichts weiter als Feststellung des gebro¬
chenen Gliedes bis zur völligen Consolidation des Bruches, und dazu eignete
sich der Gips verband allerdings sehr gut. Die heutige Chirurgie begnügt
sich aber damit nicht mehr; sie hat das Ziel der Frakturenbehand¬
lung weiter hinausgerückt, indem sie mit der Heilung des Bruches an sich,
d. h. mit der Consolidation der Fragmente, gleichzeitig die Wiederherstellung
der Gebrauchsfähigkeit des Gliedes erstrebt. Es ist nicht zu bezweifeln,
dass die Chirurgie diesen grossen Fortschritt über kurz oder lang aus sich
allein gemacht haben würde, aber er ist durch den Druck der modernen
socialen Gesetze, zumal unter dem des Unfallgesetzes, beschleunigt worden.
Dieser so gänzlich veränderte Standpunkt in der Behandlung der
Knochenbrüche musste nothwendig eine Veränderung der vorher angewandten
Mittel zur Folge haben. Vor allen Dingen kam es darauf an, die oft so
schwer oder selbst gar nicht zu beseitigenden Atrophieen der Weichtheile
und die Versteifung der Gelenke, weiterhin aber auch die Pseudarthrose
und die Calluswucherungen zu verhindern, und dazu erwiesen sich, neben
sorgfältiger Vermeidung jeder Dislocation der Bruchenden, frühzeitig ein¬
setzende Massage und Bewegungen als sichere Schutzmittel. Diese aber
vertrugen sich nicht mit dem alten geschlossenen Gipsverbande, und so
galt es denn, die bisher gebräuchlichen Behandlungsmethoden zweckent¬
sprechend umzuwandeln oder neue zu ersinnen. Die seit etwa 10 Jahren
entfaltete ausserordentliche Thätigkeit auf diesem Gebiete tritt vorzugs¬
weise in Erscheinung einerseits im Geh verbände und andererseits in den
hoch entwickelten Zug- und Schienenverbänden. Das Sonderbarste aber
ist, dass die Behandlung der Beinbrüche im Umhergehen nicht von Aerzten,
sondern von einem Laien ausging; eine Thatsache, die man freilich dadurch
abzuschwächen gesucht hat, dass man diese Schienenhülsenverbände als gar
nicht etwas Besonderes hinstellte. Wieweit das richtig ist, mag hier unerörtert
bleiben, die geschichtliche Thatsache an sich wird dadurch nicht berührt.
/. Gehverband .
Der Gehverband hat mehr und mehr Verbreitung gefunden, wennschon
eine Uebereinstimmung der Meinungen noch keineswegs in allen Punkten
erreicht ist. Einige wollen den Verband womöglich sofort nach der Ver-
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Frakturenverbände.
115
letzung anlegen, andere wollen bis zur Beseitigung des Blutergusses, d. h.
bei Unterschenkelbrüchen etwa 4—6 Tage, bei Oberschenkelbrüchen 2 bis
2 1 /* Wochen lang die Extension anwenden. Einige wollen alle Brüche der
unteren Gliedmassen mit dem Gehverbande behandeln, andere wollen ihn
nur auf die Unterschenkelbrüche beschränken, und selbst da sollen Schräg-
und Spiralbrüche, sowie Knöchelbrüche ausgeschlossen sein. Andere warnen
vor dem Verfahren bei Gelenkfrakturen und bei Frakturen in Gelenknähe.
Tietz ! ) sah mächtige Calluswucherungen, die mit ihren Stacheln und Zacken
sich in Muskeln und Zwischenräume eindrängten, und fürchtet nun, dass
derartige Wucherungen bei Gelenkbrüchen schlimme Störungen hervor¬
bringen könnten. Honigmann 2 ) verlangt, dass Landärzte den Gehverband
überhaupt nicht anwenden; sie sollen den Verletzten liegen lassen mit einem
Verbände, den sie alle 8 Tage wechseln zur Vornahme von Bewegungen und
Massage.
Schuohardt 2Ö ) theilt vom therapeutischen Gesichtspunkte aus die Brüche
ein in solche, bei denen sofort der endgiltige Verband angelegt wird, und
in solche, die einen vorläufigen und einen endgiltigen Verband fordern. Zu
jenen gehören die mit geringem Bluterguss verbundenen Brüche der kleinen
Knochen und die Brüche grösserer Röhrenknochen, die mit dem Zugver-
bande behandelt werden sollen, d. h. alle Oberschenkelbrüche (mit Ausnahme
derjenigen dicht oberhalb des Knies), sowie die meisten Brüche der Mitte
und des oberen Endes des Humerus, die Schrägbrüche des Unterschenkels
u. ähnl. Die Extension wird nur so lange angewendet, bis die Fraktur keine
Neigung zu Verschiebungen mehr hat, obwohl der Callus noch weich und
der Knochen noch nicht tragfähig ist. Dieser Zeitpunkt tritt bei Oberschenkel¬
brüchen etwa 3 Wochen nach der Verletzung ein, und nun wird der Streck¬
verband durch den Gehverband ersetzt. Im Gegensatz zu Bardenheuer em¬
pfiehlt Schuchardt, bei Schenkelhalsbrüchen alter Leute den Zugverband
zunächst sechs Wochen ununterbrochen anzuwenden. Es handelt sich also
im allgemeinen um Brüche, die eine besondere, eigens vorzunehmende Ein¬
richtung nicht erheischen, sondern wo die Einrichtung durch die Wirkung
des Verbandes von selbst herbeigeführt wird.
Bei der zweiten Art von Brüchen (in erster Linie der typische Radius¬
bruch und der Pronationsbruch des Unterschenkels) ist die Einrichtung
schwierig und wird aus Zweckmässigkeitsgründen erst vorgenommen, wenn
die Anschwellung ihren Höhepunkt erreicht hat. Daher fordern diese Brüche
einen vorläufigen Verband, d. h. man lagert am besten das gebrochene Glied
unreponirt auf eine Schiene, nimmt nach einigen Tagen in Narkose die Ein¬
richtung vor und legt einen Gipsverband an, der nach 8—10 Tagen er¬
neuert wird. Diese Erneuerung ist ohnehin in der Regel schon deshalb nöthig,
weil der Verband infolge der inzwischen erfolgten Abschwellung zu weit
geworden ist. Da der Callus noch weich ist, so kann eine etwa nöthige
Stellungsverbesserung leicht vorgenommen werden. Dass man die Resorption
von Blutergüssen zu beschleunigen, den Muskelschwund und die Gelenkver¬
steifung zu verhüten sucht, ist selbstverständlich. Unter keinen Umständen
aber darf durch das Streben nach einer freien Beweglichkeit der Gelenke
die richtige Scellung der Bruchenden beeinträchtigt werden, und hiernach
ist die Behandlung der Knochenbrüche mit »Gehverbänden« in vernünftiger
Weise einzuschränken. Zur guten Heilung eines Oberschenkelbruches reicht
der gewöhnlich empfohlene Gipsverband in keiner Weise aus, und Schi chardt
warnt daher vor Uebertragung dieser Kunststücke auf die Praxis.
Nun ist ja gewiss richtig, dass der Gehverband schwieriger ist als
der gewöhnliche Gipsverband, dass an ihn viel grössere Anforderungen ge¬
stellt werden und dass er sorgsamer überwacht werden muss; aber dennoch
geht die HoxiGMANNsche Forderung zu weit , und längst ist sie durch die
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0ik;8*:: frcm
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116
F rakturen verbände.
Tbatsachen widerlegt, dass eine ganze Reihe von Landärzten das Verfahren
mit gutem Erfolge angewandt hat. Freilich, wer keine geschickte Hand
hat, wer im Verbandanlegen keine Erfahrung besitzt, der soll von Gips-
Gehverbänden fern bleiben.
Riedel *) legt besonderen Werth darauf, dass nur die Stützpunkte des
Verbandes mit einer leichten Polsterung versehen werden und dass man
sich beim Anlegen des Flaschenzuges bedient. Bei Ober- wie bei Unter-
schenkelbrüchen setzt der Zug ein mit Hilfe eines oberhalb der Ferse und
des Spannes angelegten Bindenzügels, der nach dem Erhärten durch seit¬
liche Fensterschnitte wieder entfernt wird. Knöchelbrüche schliesst auch
Riedel vom Gips-Geh verbände aus. Er wartet mit dem Anlegen, bis die
Schwellung von selbst oder durch Massage zurfickgebildet ist, d. h. bei ein¬
fachen Brüchen eine, bei schweren und complicirten Brüchen zwei bis drei
Wochen.
Beim Anlegen des Verbandes liegt der Verletzte auf einem kräftigen
Tische, der an einem Wandhaken oder sonstwo festgebunden ist, um dem
Zuge später Widerstand leisten zu können. Der Flaschenzug wird am anderen
Ende des Zimmers, etwa an einem an den Thürpfosten befestigten Quer¬
balken angebracht, und zwar genau in der Höhe des Beckens. Der Verletzte
selbst wird durch eine am Tischrande angebrachte Beckenstütze festgehalten.
Fig. S.
Zum grossen Tbeil hängt das Gelingen ab von der richtigen Anwen¬
dung der Zugschlinge: von zwei etwa 1 *j % Meter langen kräftigen Flanell¬
bindenzügeln wird der eine hinten quer, oberhalb der Hacke, der andere vorn
quer über den Fussrücken gelegt, und zwar so, dass beide sich an den Knöchel¬
spitzen kreuzen (Fig. 3); hier an dieser Kreuzungsstelle werden die Binden
beiderseits mit Bindfaden fest verknüpft und ihre freien Enden dann zu¬
sammengeknotet zu einer Schleife, in die man den Haken des Flaschenzuges
einhakt. Zum Schutze der Fussränder wird die Schlinge in der Nähe der
Fusssohle durch eine Holzspreize auseinandergehalten.
Unter langsamem Anziehen des Flaschenzuges werden, am besten in
Narkose, die Bruchenden genau eingerichtet und darnach das Flaschenzug¬
seil festgelegt. Die Bruchstelle, erforderlichenfalls auch das Knie, wird durch
einen an der Zimmerdecke oder an einem anderen festen Punkte ange¬
brachten Bindenzügel unterstützt. Ein Gehilfe hält an den Zehen den Fuss
in richtiger Stellung. Nach Polsterung der Stützpunkte umgiebt Riedel das
Glied mit einer 1—2schichtigen Mullbindeneinwicklung. Der Verband besteht
aus 2—3 Lagen Gipsstreifen, wobei rein circuläre Touren vermieden werden.
Jede Gelenkgegend wird durch Gips-Gazestreifen verstärkt, der ganze Ver¬
band mit nicht zu dicker Lage Gipsbrei überstrichen und dann an den
Gelenken nochmals Gaze in mehreren Streifen aufgelegt. Nach dem Er¬
härten werden die Bindenzügel herausgeschnitten: man bringt zunächst an
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Frakturenverbände.
117
der einen Seite ein Fenster an und durehschneidet den Flanellstreifen ober¬
halb oder mitsammt der Verknüpfung, dann bringt man auf der anderen
Seite ein Fenster an und zieht den Streifen heraus: der dadurch entstan¬
dene Schaden wird ausgebessert. Nach zwei Tagen beginnen die Gehversuche.
Bei complicirten Frakturen muss das ausgeschnittene Fenster nach
Jedesmaligem Verbandwechsel mit Watte verstopft und dieses Polster durch
eine Binde fest angedrückt werden, weil sonst eine starke Schwellung im
Bereiche des Fensters eintritt.
Je nach der Schwere des Falles bleibt der Verband 4—7 Wochen
liegen und wird dann bei noch nicht genügender Consolidation durch einen
eng anliegenden Wasserglasverband ersetzt. Nach Abnahme des Verbandes
ist für einige Tage Bettruhe nöthig; das Gehen ohne Verband ist anfangs
schlechter als mit Verband und Massage, Elektricität etc. müssen nachhelfen.
Die Resultate waren sehr befriedigend; manche Fälle heilten ohne Jede Ver¬
kürzung, und das setzt Riedel auf Rechnung des Flaschenzuges, der eine
ideale Reposition ermöglicht.
Wörner 4 ) benutzt zur Gehbehandlung schwerer complicirter Frakturen
der unteren Extremitäten die von Kirsch und Länderer eingeführten Cellu¬
loid verbände. Er war von den DöLUXGERschen Gipsverbänden bei subcu-
tanen Brüchen sehr befriedigt, sie auf offene Frakturen, zumal solchen mit
schweren Zertrümmerungen, zu übertragen, geht aber nicht an; der einfache
Gipsverband reicht nicht aus, und die mit Gelenkschienen versehenen sind zu
schwer und der Gips wird ausserdem vom Secret durchtränkt. Er griff daher
zum Celluloidverbande, der ein sehr geringes Gewicht hat, gegen Nässe
unempfindlich ist, leicht gefenstert und nach Bedarf geändert werden kann.
Zum Celluloidverbande ist ein Gipsmodell erforderlich, das unter
Extension auf der blossen gefetteten Haut angelegt wird. Da aber alle
Zertrümmerungsbrüche mit ausgedehnten WeichtheilVerletzungen in der ersten
Zeit der Ruhe bedürfen, so muss man 3—6 Wochen warten, ehe man das
Gipsmodell anfertigt.
Der Zug bleibt auch während des Erstarrens. Soll das Bein schweben,
also nicht auftreten, so wird auf die Fusssohle eine etwa 2 Cm. dicke Filz¬
oder Watteschicht gelegt. Die abgenommene und wieder geschlossene Hülse
wird stark gefettet, um ein zu festes Verkleben des Celluloidbreies mit dem
Gipse zu verhüten. Nach dem Gipsabgüsse wird eine Celluloidsohle ge¬
formt, die in der Knöchelgegend mit Ansätzen für Gelenkschienen versehen
ist. Zur Herstellung der Beweglichkeit dienen Gelenke aus Eisenblech
oder — besser, weil leichter — vorher aus Celluloidplatten angefertigte
Gelenkstücke, die zwischen die Celluloid-Mullschichten eingefügt werden. Die
Gelenkgegend wird durch dick mit Vaseline bestrichene Läppchen vor dem
Beschmieren mit Celluloid geschützt.
Nach dem Erstarren wird der Verband aufgeschnitten, an versucht und
mit Schnürung und Lederpolsterung versehen. Der fertige Verband kann
nach Bedarf gefenstert, abgenommen und wieder angelegt werden; so sind
auch passive Bewegungen möglich. Selbst bei noch beweglichen Fragmenten
gingen die Kranken leicht und schmerzlos umher. Das Gewicht eines solchen
Verbandes beträgt 1060 Grm. Die Feuergefährlichkeit, die übrigens nur
beim Halten in eine Flamme in Betracht kommt, soll nach Maas 5 ) durch
Zusatz von Chlormagnesium zum Celluloidbrei beseitigt werden.
Auch für die Behandlung der Schussfrakturen im Kriege hat man
den Gips-Gehverband in Aussicht genommen, und ganz besonders ist der
erfahrene Habart für ihn eingetreten. Ohne Zweifel liegen die durch die
heutigen Schusswaffen bedingten Verletzungen vielfach günstig für diesen
Verband. In einer grossen Zahl von Fällen wird in künftigen Kriegen es
möglich sein, die Wunde mit einem einfachen Dauerverbande zu versehen, der
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118
F rakturenverbände.
wochenlang liegen bleiben kann, und in eben diesen Fällen wird der Geh¬
verband grosse Vortheile gewähren.
Ganz abgesehen von allem anderen wird namentlich die Ueberführung
und Pflege der Verwundeten erheblich erleichtert. Für die Feldlazarethe
kann der Gips ohneweiters zugelassen werden, dagegen für die Haupt¬
verbandplätze nur ausnahmsweise, für die Truppenverbandplätze dagegen
überhaupt nicht in Betracht kommen.
Habart verfährt nun so: Das ganze Bein wird rasirt, gebürstet und
mit Sublimatlösung gewaschen, die Wunde verbunden und für die erste
Zeit die Bruxs sehe Extensionsschiene oder eine dem ähnliche mit 5 bis
7 Kgrm. Zuggewicht angelegt. Nach etwa 7 Tagen folgt der Gipsverband,
bestehend aus zwei unmittelbar auf die Haut gelegten Gipskataplasmen.
Durch Anpressen an den Sitzknorren wird aus dem hinteren Kataplasma
ein Stützpunkt gewonnen, so dass der Verwundete später auf der erhärteten
Schiene reitet. Das vordere Kataplasma wird durch Calicotbinden mit dem
hinteren Kataplasma zu einem Ganzen verbunden, der Verband durch eine
Schusterspanschiene verstärkt und durch eine DöLLiNGER sche Sohle ergänzt.
Durch eine der Wattepolsterung untergelegte Schusterspansohle wird das
Gehen erleichtert. Der gesunde Fuss wird durch eine Korksohle erhöht.
II. Schienen und Schienenverbände.
Bruns 6 ) hat die allbekannte VoLKMAXN'sche Schiene nach mehr als
einer Richtung hin in zweckmässiger Weise geändert. Zunächst lässt er sie
nicht aus verzinntem, sondern verzinktem Eisenblech herstellen, so dass sie
nicht rostet und weder vom Schweiss noch anderen Feuchtigkeiten be¬
schädigt wird. Sodann besteht die Rinne aus zwei Theilen, die sich über-
einanderschieben lassen und somit ein Verlängern oder Verkürzen gestatten,
eine Aenderung, die übrigens nicht neu ist (Fig. 4).
An dem oberen Ende der Fussplatte ist ferner ein Querbalken ange¬
bracht, der vor- und zurückklappbar ist und zum Aufhängen des Fusses und
damit zur Verhinderung von Druck durch den Rand des Fersenausschnittes
dient. Zu diesem Zwecke wird ein am äusseren und inneren Fussrande an¬
geklebter Heftpflasterstreifen mit seiner Mitte über den Aufhängebalken
geführt. Dieser hält gleichzeitig die Bettdecke von den Zehen ab und ersetzt
mithin die Reifenbahre.
Schliesslich ist an Stelle des T-Bügels eine Fussstütze in Form zweier
beweglicher Arme aus Rundeisen angebracht, die geöffnet und geschlossen,
sowie höher und niedriger gestellt werden können. Durch das Umklappen
des Aufhängebalkens einerseits und das Schliessen und Hochschieben der
Stütze anderseits lässt sich eine ganze Anzahl von Schienen ineinanderlegen
und infolgedessen leicht transportiren. Noch weniger Platz würde die
Schiene einnehmen, wenn auch die Fussplatte zum Niederklappen einge¬
richtet würde, etwa mittels jener sehr einfachen Vorrichtung, die man häufig
bei Sitzstöcken findet.
Die halbkreisförmig gebogenen unteren Enden der Stützenarme gleiten
leicht auf untergelegten Brettchen und ermöglichen somit ohneweiters die
Anwendung des Zuges (Fig. 5). Die Schiene ist zum Preise von M. 10,50
von Beuerle in Tübingen zu beziehen.
Die Firma Evens und Pistor in Cassel hat nun wieder die Bruns-
sche Schiene verändert, indem sie auf die alte VoLKMANx'sche T-Stütze zu¬
rückgriff und diese mit Rollen versah, die auf einem Brette mit Schienen
laufen (vergl. die BRAATz'sche Vorrichtung). Ferner ist ein T-Eisen beige¬
geben, das durch Schraubenvorrichtung in rechte und linke Winkelstellung
gebracht werden kann.
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Frakturen verbände.
Kohlmetz 7 ) in Sprokhövel hat als Schienenmaterial Walzblei ange¬
geben, das mit einen» Zeugstoffe überzogen ist. Das Walzblei ist biegsam
wie Wachs, lässt sich mit Messer und Schere schneiden und durch Drücken
dem Körpertheiie leicht anschmiegen- Ebenso leicht lassen sich Fenster
anbringen, Verstärkungsschienen auflegen u. s. f. Es fragt sich nur, ob der
Stoff für grössere Schienenverbände nicht zu schwer ist und ob anderer¬
seits sehr dünne Blätter die nöthige Festigkeit besitzen.
Der Gedanke, das Walzblei zu feststellenden Verbänden zu benutzen, ist
»ehr richtig. Das Material ist äusserst plastisch, folgt in der That jedem
] ‘JO Frakt.urenvBrbänd»:.
Druck de« Fingers, und fco Hisst öich beispielsweise eine Reri.iy sdte SpiraJL-
sebiene leicht -and tri kürzester Zeit Herstellen.
So wie der Schieneristoff jetzt ist, würden grossere Verbände allerdings
zu schwer - aber jedenfalls lassen sich die Bleiplatteu, unbeschadet ihrer
Festigkeit, noch erheblich dünner walzen ; bei Vorderarmhrüchen kommt
zudem die Schwüre nicht allzusehr in Betracht, da der Arte ja doch in der
ifftella getragen wird. allen Uinge» ab«r dürfte das Watzblei sich für
Xöth- und Träftsppttveebände, besonders auch für den Unterschenkel eui-
pfebleu. Im Nu lat die entsprechend grosse Platt« zu einer Rinne oder
Schiene zurecht gebogen und mit den erforderlichen Ausschnitten versehen.
DiU Cebertraghng des Streckmetalls, in die Vorbandlehre ver¬
danken wir *) ih Basel. Dieses aus gestanztem Blech bestehende
Ultterwerk benutzt die Bautechnik im Verein npt Gips zur Herstellung von
Wänden und Decken. Der Stoff eignet sich .yerköjglioh *o ScbieMeo und ähjaedt
den RlJtjneugittervflrbändoii. igl aber ahgieicb halt baref als diese. Man verfährt
genau so wie bei Anfertigung einer Papp* oder Biechsehfene; schneidet aus
den von der Fabrik gelieferten Tafeln mit der Blechschere ein entsprechend
grosses Stück ab und gieM ihm mit der Hand die ge wünsch io Form Fs
schmiegt eich der Körper form so ttn, dass im Xuthlaiie eine besondere Untere
Polsterung nicht ui'-ibig ist, die Kku'dof gewähren genügenden Schutz. Anden
Biegungen der Gelenke Kchn“idet man von beiden Seiten her ein Drittel der
Sehieneobreite ein, stellt die. beiden Tbeife in den gewünschten Winkel und ver¬
bindet die übereinandergreifenilon Flächen mil den uächstUegenden Maschen
des Gitterwerkes. Das Strcckmetali giebt so für sich allein schon brauchbare
,S|chiene>n Und LagervurrichtUngen : vergipst man aber das Ganze, so entstehen
Vt'‘bände von ungemeiner Festigkeit. Das Vergipsen ist sehr einfach: man legt
•• ; .ä vfi“ -''' \ ireirMtlaiöiH An ft. firriöVfewalft . PtD‘tiö{nar«.nti
’-Wi- gspnlsterUrr, Körpertheii; ein Stück tveitptaschfger Paefcieinwand
uHdünrrsittcihar darüber die Scbifme. dH) märt der Kör per form an schmiegt
Die Leinwand nnjss so gross sein, das* din v hjsigbschlagonen Ränder auch
di*!. : Aijissenbibfhe' ■ ibsg Schiene«.Wd»vkd»F-lil»«R:. kireiobt man mit den Händen
•Moktlössigen Gipsbrei in die Maschen des Gitters glatt »io, - ebnet', die
Zwischenräune.' aus. sind Schlägt nun die überschüssige Packleinwand über
Frakturenverbände.
121
die Ränder nach aussen und umhüllt mit ihr die Schiene. Das Ganze ist
also ein durch das Streckmetall gestütztes Gipskataplasma. Nimmt man
guten Gips, heisses Wasser und etwas Alaun, so erfolgt das Erstarren sehr
rasch. Die Kanten des Gitterwerkes sind, wie bei jedem feinen Blech, sehr
scharf, man hüte sich daher vor Verletzung. — Der Stoff wird geliefert
von der Firma Schüchtermann & Kremer in Dortmund und ist sehr billig.
Fiber ist nach Wiener 9 ) ein ideales Schienenmaterial, dessen Fabri-
cation ein Geheimniss ist. Der Stoff wird zur Anfertigung von Hausgeräthen
und in der Elektrotechnik zum Isoliren benutzt; er kommt in den Handel
als Platten von verschiedener Dicke, ist im gewöhnlichen Zustande unhand¬
lich, in heissem Wasser aber quillt der Stoff auf und wird biegsam wie
weiches Leder. In diesem Zustande um das Glied gelegt und umgewickelt,
giebt er, getrocknet, eine der Form des Gliedes entsprechende Schiene oder
Hülse. Die Anwendungsweise ist also die gleiche wie bei der Guttapercha,
bei beiden ist das Anbringen der heissen Schiene und das Trocknen unan¬
genehm. Das lässt sich aber nach Wiener vermeiden: es genügt, nach einem
Papiermuster die Kapsel zuzuschneiden, aufzuweichen und bis zur Berührung
der Kanten zusammenzurollen. Dann wird, nach Umbiegen des oberen und
unteren Randes, die Kapsel getrocknet, in die Stahlschienen eingeniethet,
mit Flanell gepolstert, mit Schellack angestrichen und mit Schnürvorrichtung
versehen. Der für Gehverbände bei Knochenbrüchen erforderliche Rahmen
sei so einfach, dass ihn jeder Schlosser anfertigen könne. Säuren und Alka¬
lien greifen den Stoff sehr wenig an; Blut wird abgeseift, Fett mit Aether
entfernt. Fiber ist billig, leicht und durch siedendes Wasser sterilisirbar.
Alleinverkauf bei V. Müller & Co., 230 Ogden Av., Chicago.
Port 10 ), der Meister auf dem Gebiete der »Improvisationstechnik«,
empfiehlt die Bandeisenverbände, die in erster Linie für den Krieg be¬
rechnet sind, die aber auch im Frieden von Nutzen sein können. Nicht
blos vor 30 Jahren, wie Port bezeugt, war das Verbandwesen der mangel¬
hafteste Theil der Kriegschirurgie; das verhält sich im wesentlichen auch
heute noch so, und doch steht das Verbandwesen an Wichtigkeit keinem
Theile der Kriegschirurgie nach. Geformte, schon im Frieden fertig herge¬
richtete Verbände in ausreichender Zahl mitzuführen ist unmöglich, und so
stehen auf dem Truppenverbandplätze nur Strohschienen, Siebdraht- und
Schusterspanschienen zur Verfügung. Das ist durchaus unzureichend, und
nicht ohne Schaudern kann man an die Nothverbände denken, wie sie aus
Flinten, Säbelscheiden, Säbelkoppeln, Tornistern u. a. hergerichtet werden
und hergerichtet werden müssen. An Bemühungen, den von der Wundbe¬
handlung und der Humanität gestellten Anforderungen gerecht zu werden,
hat es durchaus nicht gefehlt, aber bis jetzt ist es nicht gelungen, diese
Aufgabe zu lösen.
Niemand hat auf diesem Gebiete mehr geleistet als Port ; zuerst,
anfangs der Sechzigerjahre, machte er Versuche mit der Massenfabrication
von Verbandkapseln aus Papier und Topfenkitt; dann kam der Gips-
verband, der neben Vortheilen auch Schattenseiten hat. Bei Knie¬
schüssen hat er sich trefflich bewährt; anders aber liegen die Dinge bei
Schussfrakturen, zumal bei denen des Oberschenkels. Selbstverständlich kann
auf dem Gefechtsfelde selbst vom Anlegen eines Gipsverbandes (sei es als
einfach feststellender Verband, sei es als Geh verband) keine Rede sein; er
kann nur für den Hauptverbandplatz und auch hier nur unter ganz beson¬
ders günstigen Verhältnissen in Frage kommen. Auch bei tadellosen und
von geschickten Händen angelegten Verbänden wird es geschehen, dass aus
irgend welchen Gründen nach der Ueberführung in das Lazareth der Ver¬
band abgenommen werden muss. Das Abnehmen aber ist viel schlimmer
als das Anlegen, das meist doch auch wieder nöthig ist. Nicht minder um-
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122« t Frakturenverbände.5
ständlich ist das Fenstern des Verbandes, ganz abgesehen davon, dass meist
zwei Fenster nöthig sind, die bei ausreichender Grösse die Festigkeit des
Verbandes schädigen. Auch der unterbrochene Gipsverband ist w T ie der
Kataplasmaverband zeitraubend und ungenügend.
Port war daher unablässig bemüht, Ersatzmittel für den Gips zu
finden. Es konnte nur Eisen in Betracht gezogen werden, und nachdem
er sich lange mit Draht verbänden aus Telegraphendraht und mit Blech¬
verbänden aus Conservenbüchsen beschäftigt hatte, verfiel er auf das
Bandeisen.
Er geht von dem Grundsätze aus, dass alle Schussfrakturen — ausge¬
nommen die mit Zerreissung grosser Gefässe oder ausgedehnter Zerstörung
der Weichtheile verbundenen —, sobald sie in ärztliche Hilfe gelangen, d. h.
auf dem Truppenverbandplätze, so versorgt werden, dass sie bis zur An¬
kunft im Lazareth keiner Nachhilfe bedürfen. Soll das geschehen, dann
müssen für die unteren Extremitäten die nöthigen Verbände vorhanden sein;
sie sind aber nicht vorhanden, sondern müssen erst in Feindesland oder
auf dem Kriegsschauplätze beschafft werden.
Deshalb verlangt Port die Anfertigung der Verbände auf dem Marsche
selbst; Bandeisen giebt es überall, an Fässern, Kisten, Zäunen; da wird es
gesammelt und alsbald verarbeitet. Das erforderliche Handwerkzeug muss
Fig. 8.
III IT
i i
ZXJ
i-1
1 T—L
n
□m
beschafft und die nöthige Fertigkeit erworben sein. Zu letzterem Zwecke
muss eine Anzahl von Aerzten und Lazarethgehilfen in der Verbandschlosserei
unterrichtet sein. Diese Forderung mag sonderbar erscheinen, ist es aber
durchaus nicht, denn jeder tüchtige Orthopäde muss in der Schlosserei Be¬
scheid wissen.
Der Beinverband (Fig. 8) besteht aus zwei Unterschenkelschienen mit
beweglicher Fusslehne und zwei Verlängerungsstücken für den Ober¬
schenkel, die in beliebiger Höhe an die Unterschenkelschiene eingesetzt
und an ihnen mit Blechklammern oder Bindfaden befestigt werden
können. Auf dem Truppenverbandplätze werden die Bandeisenverbände und
Strohschienen bereit gelegt, dann verbindet man die Wunde, legt die auf¬
geschnittene Hose oder den aufgeschnittenen Stiefel wieder glatt an, passt
die mit Strohschienen gepolsterten Verbände dem Beine an und umwickelt das
Ganze mit einer Binde. Die von den Unterschenkelschienen abgehenden Band¬
eisenstreifen werden so gestellt, dass das Glied nicht wackelt.
Im Lazareth werden Lagerungsapparate nach dem Typus der Volk-
MANN'schen Schiene angefertigt, mit einer Leinwandschwebe versehen
und neben die Kranken gestellt, so dass die Aerzte nur das Glied in den
Verband hineinzurichten haben. Es ist ein Leichtes, durch Polsterung nach¬
zuhelfen, nach Bedarf ein Hüftstück anzusetzen oder Zug und Gegenzug
anzubringen. Der Gewichtszug ist im Felde nur zulässig, wenn das Lazareth
in ganz gesicherter Lage sich befindet, so dass eine plötzliche Unterbrechung
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F rakturenverbfinde.
123
der Behandlung, ein Transport etc. nicht zu betflrchten ist. Port empfiehlt
die Federextension, während der oben ausgeschweifte und gepolsterte Rand
sich gegen den Sitzknorren stemmt. Die Feder lässt Port aus dem Blatte
einer gewöhnlichen Säge anfertigen: man schneidet drei verschieden lange
Streifen, legt sie so übereinander, wie es an den Federn der Eisenbahn¬
wagen zu sehen ist und befestigt sie mit gemeinsamer Schraube an einem
Hölzchen, das an dem unteren Ende des Apparates angebracht ist. Ich
glaube, dass statt der Feder sich auch sehr gut eine einfache Schraube
zur Extension verwenden lässt. Man bringt ein kleines Fussbrett an, bohrt
in dasselbe ein Loch, durch das die Schraube hindurchgeführt wird. An der
Aussenseite des Brettes liegt die Mutter, während an dem freien Ende der
Innenseite die Zugschnur befestigt wird. Durch Umdrehung der Schraube
entsteht der Zug.
Es war vorauszusehen, dass für Port die Zeit des Stillstehens auf
dem von ihm betretenen Wege noch nicht gekommen war; und in der That,
der unermüdliche Forscher hat nicht gerastet, sondern an der Vollendung
seiner Verbände ununterbrochen weiter gearbeitet, und zwar in letzter Zeit
im Vereine mit seinem Sohne, dem Chirurgen Koxrad Port in Nürnberg. 2fi )
Das Los der in der Schlacht Verwundeten zu bessern, ist eine Aufgabe,
deren Lösung »des Schweisses der Edeln« werth ist. Soll die operative
Technik und die Aseptik im Kriege gleiche Triumphe feiern wie im Frieden,
dann muss die Verbandtechnik noch erheblich verbessert werden. Es kommt
darauf an, Eisenverbände anzufertigen, die die Unbeweglichkeit der Bruch¬
enden gewährleisten, die verletzte Stelle unbehindert zugänglich machen,
das rasche Fortschaffen der Verwundeten ebenso ermöglichen wie das Empor¬
heben des Körpers beim Stuhlgang u. a. Allen Schussbrüchen einen asepti¬
schen Verlauf zu geben, ist einfach unmöglich; ein grosser Theil wird daher
auch im gegenwärtigen und künftigen Kriegen eitern; für letztere aber passt
der geschlossene Gipsverband erst recht nicht. So hat denn Port zwei
an sich ähnliche Arten von Bandeisenverbänden ersonnen: solche für aseptische
und solche für eiternde Schussbrüche.
Als Beispiele dieser Verbände mögen folgende dienen:
1. Strecklade für aseptische Schussbrüche (Fig. 9) der unteren
Gliedmassen, aus Bandeisen von 2 Mm. Stärke und 18 Mm. Breite. Die Seiten¬
stücke des Beintheiles tragen am unteren Ende eine Zugvorrichtung aus
Rolle, Zahnrad und Sperrhaken. Beide Seitenstücke bestehen aus zwei über¬
einander verschiebbaren Hälften und können mithin verlängert und-verkürzt
werden. Die beiden unteren Querbügel sind halbrund; der obere Bügel, als
Sitzhalbring, hat nicht die Form des Halbkreises, sondern eine dem hinteren
Schenkelumfange entsprechend verschobene Rundung. Das Sohlenblech ist
zum Aufnähen einer Filzplatte mit Randlöchern versehen und trägt zum Auf-
bängen des Fusses zwei rechtwinkelig nach dem Rumpfe hin gerichtete
Bandeisenarme, die niedergelassen oder auch entfernt werden können.
Der eiserne Sitzhalbring wird durch Gurt und Schnalle zum Vollring
vervollständigt. Das Glied ruht in einer zwischen die beiden seitlichen Band¬
eisen eingehängten und an die Polsterung des Sitzhalbringes angenähten
Leinwandscbwebe. Soll der Verband als Transportverband dienen, so müssen
längs der Seitenstücke noch einige Schnallengurte angebracht werden, um
Seitenpolster einlegen und das Glied in Schwebe festhalten zu können. Der
Zug wird in gewohnter Weise durch Heftpflasterstreifen ins Werk gesetzt
und bleibt beim Aufheben des Verbandes oder des ganzen Kranken in
Wirkung.
2. Beinladen für eiternde Schussbrüche der unteren Glied¬
massen (Fig. 10). Eiternde Verletzungen fordern häufigen Verbandwechsel, und
die Laden müssen daher in der Wundgegend stark ausgebaucht und hier mit
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124
Frakturenverbände.
einer eigenen Leinwandschwebe versehen sein. Da für die unteren Glied¬
massen vier verschiedene Aüsbuchtsstellen nöthig sind, so können diese Ver¬
bände nicht mitgeführt, sondern müssen erst im Gebrauchsfalle angefertigt,
werden. Die für Knieschüsse bestimmte Lade nimmt sich so aus (Fig. 10) und
hat je für Oberschenkel, Unterschenkel und Knie als Unterlage eine beson¬
dere Schwebe. Zug und Gegenhalt ist entbehrlich.
Für Schussbrüche in der unteren Hälfte des Oberschenkels dienen die
für aseptische Brüche bestimmten Verbände, nur dass sie mit der erforder¬
lichen Ausbuchtung versehen sein müssen. Hohe Oberschenkelbrüche werden
am besten wie Rumpfverletzungen im Streckbett gelagert.
3. Verband für Schussbrüche an Schulter, Oberarm und Ellenbogen,
besteht wie alle Armverbände aus Bandeisen von 1 Mm. Stärke und 14 bis
16 Mm. Breite. Um den Kranken das Aufstehen und Umhergehen zu ermög¬
lichen, müssen bei allen Brüchen oberhalb des Ellenbogens Schulter- und
Fig. 9.
Fig. 10.
Ellenbogengelenk festgestellt werden. Dies geschieht durch Befestigung der
Armschlinge an einem der Brust aufliegenden Schulterkorbe.
4. Die Verbände bei eiternden Verletzungen (Fig. 11) müssen neben
der Feststellung der Bruchenden, des Schulter- und Ellenbogengelenkes unge¬
hinderten Verbandwechsel gestatten; zu diesem Zweck ist der entsprechend
gestaltete Brustkorb mit der Vorderarmschiene fest verbunden, und die längs
der Aussenseite herablaufenden Oberarmschienen zum Abschrauben einge¬
richtet. Die Oberarmschiene lässt sich verlängern und verkürzen und ebenso
die Vorderarmschiene höher und tiefer stellen, so dass ein Zug ausgeübt
werden kann. Beim Verbandwechsel wird die Oberarmschiene abgeschraubt,
so dass der ganze Oberarm freiliegt, während der übrige Theil des Verbandes
unverrückt bleibt.
Gehverbände verweist Port ausschliesslich in die Reserve- und
Vereinslazarethe, wo es von derartigen Verbänden wimmeln soll. Kein
Verwundeter darf gezwungen sein, die Erstarrung des Callus im Bette ab¬
zuwarten. Fig. 12 stellt einen billigen, selbstgefertigten Gehverband dar: er
besteht aus einem Steigbügel von 5 Mm. starkem und 18 Mm. breitem
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Frakturenverb&nde.
125
Eisenband, an dem die Zugvorrichtung, aus Rolle, Zahnrad und Sperrhaken,
angebracht werden kann; die nach den Umrissen des Gliedes geformte
Beinschiene ist aus 2 Mm. starkem Bandeisen. Der Sitzhalbring wird mit einem
Glycerinkissen gepolstert. Zur Feststellung des Hüftgelenkes wird an die
Beinschiene eine Beckenstütze angeschraubt. Der gesunde Fuss trägt einen
Lederschuh mit dicker Holzsohle.
Muster dieser PoRT’schen Verbände sind beim Instrumentenmacher Walb
in Nürnberg, Bindergasse 7, hinterlegt worden, die derselbe auch auf Be¬
stellung anfertigt.
Dass das Bandeisen auch im Frieden sich mit Nutzen verwenden lässt,
dafür spricht als neueres Beispiel die AiKiN'sche J1 ) Schiene für Oberarm¬
brüche: man feilt von einem 3—5 Cm. breiten Bandeisen ein genügend
langes Stück ab und biegt es so zurecht, dass der obere Theil von der
Brust aus über die Clavicula hinfort bogen¬
förmig die Schulter überbrückt, und zwar so,
dass sie der Haut nicht unmittelbar anliegt,
Pig. u.
denn diese wird überpolstert. Von der Schulter
aus läuft die Schiene an der äusseren hin¬
teren Fläche des Oberarmes herab bis unter¬
halb des Ellenbogens; von hier wendet sie
sich nach innen, der Mittellinie des Körpers zu, so dass sie unter dem recht¬
winkelig gebeugten Vorderarm herläuft und bis zu den Fingerwurzeln reicht.
Das Mittelstück der Schiene muss so lang sein, dass der untere Theil
der Schiene dem Vorderarme nicht anliegt.
Das Anlegen der Schiene zerfällt in drei Acte: 1. Man versieht den
ganzen Arm von den Fingerwurzeln an, die Schulter und den oberen Theil
der Brust mit einem Wattepolster und einer Bindeneinwicklung, bringt die
Schiene über die Schulter, drückt sie genau an und befestigt sie in ihrer
Lage durch die Spica humeri, einer Stärke-, einer Tricot- oder Idealbinde,
oder durch Heftpflaster.
2. Unter kräftigem Längszuge am Ellenbogen bewirkt man die Ein¬
richtung des Bruches und wickelt den Vorderarm an den unteren Theil
der Schiene an. Zum Schutze der oberen Fläche des Vorderarmes kann man
ihn zweckmässig mit einer Flachrinne aus Holz, plastischem Filz, Pappe
oder ähnlichem versehen.
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126
F rakturenverbände.
3. Anwickeln des Oberarmes an das Mittelstück der Schiene.
Der Verband ist einfach, leicht herzustellen und leicht anzulegen; er
sichert die Fragmente durch Feststellung des Humerus und durch Extension.
Vor dem Rosten schützt man die Schiene durch einen Paraffinanstrich.
Koeppen 12 ) empfiehlt, zur Vermeidung von Druck den inneren Rand des Hals-
theiles der Schiene nach oben umzubiegen, was übrigens mit einer Zange
geschehen muss.
Im Gegensätze zu den PoRT schen Bandeisenverbänden, die, nach einiger
Uebung in der Schlosserei, sich leicht selbst anfertigen lassen, stehen die
Versuche, schon im Frieden das Heer mit Schienen oder Lagerungsvorrich¬
tungen auszurüsten, die vom Fabrikanten fertig geliefert und vor allen
Dingen haltbar, einfach, leicht und nicht sperrig sein müssen. Hierher ge¬
hören : Der HEssiNG sche Kriegsapparat, der RoTH sche Blechspangenapparat,
die LiERMAXN sche Innenschiene, die BRUNs’sche Schiene u. ähnl.
Der Hessing sehe Kriegsapparat ist ein vereinfachter Schienen-Hülsen-
apparat, der schon im V. Jahrbuche ausführlich beschrieben ist und mit den
PoRTschen Bandeisenverbänden eine gewisse Aehnlichkeit hat. An Stelle
der Hülsen sind gitterartige Körbe aus verzinnten Stahlschienen getreten,
die den betreffenden Körpertheil etwa zu zwei Drittel umfassen und durch
Gurte und Schnallen daran befestigt werden. Die einzelnen Körbe sind unter
sich entweder beweglich oder durch steife, verstellbare Schienen lösbar ver¬
bunden, so dass die Körbe allen Körpertheilen genau angepasst und diese
nach Bedarf unbeweglich gemacht werden können.
Fig. 13 zeigt den Apparat für eine Oberschenkelfraktur; er setzt sich
zusammen aus dem Fuss-, Unterschenkel-, Oberschenkel- und Beckengesteil.
Der Apparat wird wie der Schienen-Hülsenverband unter Zug und Gegenzug
angelegt, und zwar zunächst der Leimverband, zu dem natürlich der Leim
jedesmal frisch bereitet werden muss.
Zum Eingreifen des Zuges dient auch hier die Spannlasche, deren vier
Bänder unterhalb der Sohle zusammengeknotet werden. Extension und
Contraextension werden in gewohnter Weise ausgeführt. Unter Einwirkung
des Zuges wird der Bruch eingerichtet und der Apparat angelegt, der nach
Bedarf unterpolstert wird oder nicht.
Es ist ja nun selbstverständlich, dass von einer Verwerthung der
Schiene als Gehverband auf den Verbandplätzen gar keine Rede sein kann.
Der Apparat lässt sich aber auch zur blossen Lagerung und zur Lagerung
mit Extension verwenden. Man würde ihn also einfach unter das verletzte
Bein bringen und dieses mit Hilfe der Kleider und sonstiger Polstermittel
so gut wie möglich lagern. Soll nicht extendirt werden, so bleibt die Spann-
lasche unbenutzt; anderenfalls wird der gepolsterte Rand des Oberschenkel¬
theiles fest gegen den Sitzknorren geschoben, die Schiene in erforderlicher
Weise verlängert und die Spannlasche an dem Fusstheile befestigt. Alles
das, zumal die blosse Lagerung, ist rasch und leicht zu bewerkstelligen.
Es fragt sich nur, ob es möglich ist, den Apparat in ausreichender Zahl
mitzuführen; diese Frage ist unbedingt zu verneinen, weil der Apparat zu
sperrig ist und deshalb zu viel Raum einnimmt. Aber ganz abgesehen davon,
der Apparat eignet sich überhaupt für den Krieg nicht; er besteht aus
einer Menge von Theilen, von denen einzelne schadhaft oder verloren werden
können (Schrauben), und er ist viel zu theuer.
Roths »neuer Blechspangenapparat als erste Hilfe und definitiver
Gehverband bei Schussfrakturen und Beinbrüchen der unteren Extremitäten«
(Fig. 14) hat folgende Theile:
1. Die unten mit Fussplatte und oben mit Leibgurt und Sattel ver¬
sehene Aussenschiene (ähnlich wie bei Taylor); sie ist zweitheilig, kann
verlängert und verkürzt werden, sie reicht von der Hüfte bis unter die
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127
Frakturenverbände.|
Fusssohle und dient sowohl zur Versteifung wie zur Distraction. Das untere
Ende der Schiene ist rechtwinkelig nach innen gebogen und trägt die Fuss-
platte, die hd ihren aufgebogenen Ecklappen ebenso wie der obere Theil
der Aussenschiene mit Knöpfchen zum Anknöpfen von Riemen besetzt ist.
An das obere Ende der Schiene ist angeschraubt der breite, weiche Leib¬
gurt, der zur Befestigung der Schiene an der Hüfte dient und mittelst eines
(lurchlochten Riemens an einen der erwähnten Knöpfe der Schiene ange¬
schlossen wird.
die so an der
Bänder aus Aluminiumblech
2. Die Spangen, d. h
Aussenschiene mit Nieten befestigt
sind, dass sie 1. sich um die Nieten
drehen und 2. dass sie sich leicht
abnehmen und wieder anlegen
fassen. Sie laufen rechtwinkelig
von der Schiene nach einer Rich¬
tung. enden in durchlochte Riemen
und sind so eingerichtet, dass die
IS.
obere die nachfolgende innere dach-
ziegelartig: ein wenig deckt; sie
umfassen den ganzen Oberschenkel
und den Unterschenkel bis unter
die Wade
sie entsprechen in ihrer ..
Länge dem wechselnden Umfange V
des Beines und bilden den Haupt*
theil des Verbandes.
3. Den Sattel, d. b. ein mit Stahlbandeinlage versehener, ovaler, halb-
ringförmiger, weicher Lederwulst, der mit Hilfe durchlochter Rinnen an dem
oberen Ende der Aussenschiene angeknöpft wird.
4. Die als Angriffspunkt des Zuges dienende Lederfessel (~ Spann¬
lasche), die durch vier Riemen an den Knöpfen der Eussplatte befestigt
werden kann, um die Streckung des im Sattel hängenden Beines zu be¬
werkstelligen.
128
F rakturen verbände.
5. Die Innenschiene.
Das Anlegen des Apparates: Die Aussenschiene wird mit Hilfe der
Schlitze und Schrauben der Länge des Beines entsprechend eingestellt, so
dass die Fussplatte sich im Abstande einiger Centimeter von der Fusssohle
befindet. Dann wird die Schiene durch den Leibgurt fest an die Hüften
geschnallt, und um ein Hinaufrücken der Schiene zu verhindern, wird der
Sattel so angeknöpft, dass er nach abwärts gespannt ist. Jetzt wird die
»Fessel« über den Knöcheln angelegt, festgeschnallt und durch ihre Riemen
unter straffer Spannung mit der Fussplatte verbunden, wodurch die Distrac-
tion erfolgt. Ist das geschehen, dann werden die Spangen der Reihe nach
von unten nach oben geschlossen. Ein in eine Oese der Fussplatte einge¬
fügter Metallwinkel (T-Eisen) stützt den Fuss und verhindert das Aufliegen
der Ferse.
Durch das Oeffnen jeder einzelnen oder auch mehrerer Spangen kann
nach Belieben jede Stelle des Beines freigelegt und, wenn nöthig, ver¬
bunden werden.
Um dem Apparate als Gehverband mehr Festigkeit zu geben, dient
eine innere Schiene, die an der Blechsohle eingehängt und — nachdem
ihr die erforderliche Länge gegeben — mit ihrem halbmondförmigen Ende
unter den Reitgurt geschoben wird. Bezüglich der Brauchbarkeit für das
Feld gilt dasselbe wie vom HEssiNGschen Apparate.
Während bei den bisher geschilderten »Kriegsverbänden« das Material
zu den Verbänden oder die fertigen Verbände erst beschafft werden müssen,
sei es nun während des Krieges oder schon in Friedenszeit, hat Kölliker 13 )
sich die Aufgabe gestellt, durch die »Drahtgipsschiene« eine Verein¬
fachung des Gipsverbandes unter Mehrleistung mit dem durch die »Kriegs-
Sanitätsordnung des Deutschen Reiches« gebotenen Materiale zu schaffen.
Die Gipsdrahtschiene, die also bestimmt ist, den geschlossenen Gipsverband
zu ersetzen, besteht aus einem engmaschigen, sehr dünnen Drahtgeflecht
und aus Gipsbinden. Man schneidet mit einer starken Schere aus der Draht¬
rolle die Schiene in gewünschter Grösse und Form, rundet die Ecken ab und
umwickelt sie mit der Gipsbinde, so dass der Verband drei Lagen der Binde
stark ist. Die Zahl der Binden richtet sich natürlich nach der Grösse der
Schiene. Während des Umwickelns wird Gips in die einzelnen Gänge platt
verrieben. Die so hergerichtete Gipsdrahtschiene ist vollkommen plastisch,
lässt sich beliebig biegen und der Körperform anschmiegen. Man passt sie
dem Gliede in der gewünschten Stellung an und befestigt sie vorläufig mit
einer Mullbinde, bis sie die gewünschte Form angenommen hat, d. h. etwa
5 Minuten. Dann nimmt man sie ab, lässt sie völlig trocken, wozu 5 bis
10 Minuten erforderlich sind, polstert sie leicht und legt den endgiltigen
Verband an.
Nachstehend sind die gebräuchlichsten Formen der Gipsdrahtschienen
angegeben:
1. Schiene für Radiusfraktur; beim Anlegen bringt man die Schiene
in Flexionsstellung.
2. Schiene für Vorderarmbruch ; sie liegt der Beugeseite an und reicht
vom unteren Drittel des Oberarmes bis zu den Fingerwurzeln.
3. Schiene für Oberarmbruch, sie umfasst die Schulter, steigt an der
äusseren Seite des Oberarmes herab, wendet sich am Ellenbogen zur Beuge¬
seite des Vorderarmes und endet an den Fingerwurzeln.
4. Schiene für Schlüsselbeinbruch, a) Modell, b) in situ.
5. Lagerungsschiene für das Bein. Beim Anpassen wird der Sohlentheil
der Schiene senkrecht in die Höhe gestellt und der Fersenausschnitt nach
Fertigstellung der Schiene mit der Gipsschere ausgeschnitten.
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F rakturen verbände
Das Drahtgeflecht kann in beliebig grossen Tafeln verpackt werden
und nimmt daher wenig Raum ein. Die Gipsdrahtschiene vereinfacht den
Gips verband, indem sie an Gipsbinden und an P
sie lässt sieb leicht abnehmen und wiederanlegen
Encyclojv Jahrbücher. IX.
Örif ff^rl frorr'i
130
F rakturen verbände.
von Schienen, die die Kriegssanitätsordnung vorsieht, macht sie also über¬
flüssig; sie vereinfacht aber auch in der Civilpraxis die Behandlung von
Frakturen und entzündlichen Processen an den Gliedmassen und am Rumpfe.
III. Zug vcrbii nie.
Der Zugverband hat seine hauptsächlichsten Heim- und Entwickelungs¬
stätten im westlichen Deutschland gefunden, und das ist nicht blosser Zu¬
fall, sondern hängt, zum Theil wenigstens, zusammen mit der hochentwickelten
Industrie jener Gegenden. Die Verdienste BARDEXHErERS bestehen vorzugs¬
weise darin, dass er die Quer- und Rotationszüge l0 ) in viel ausgedehnterem
Masse zur Anwendung gebracht hat, als dies früher der Fall war; dass er
die Längsstreifen bis weit über die Bruchstelle hinausgreifen lässt; dass er
den Zug möglichst früh und mit genügender Kraft (bei Femurbrüchen 30,
bei Flötenschnabelbrüchen 15 — 20 Pfd.) anwenden lehrte. Das Verfahren ist
in den Jahrbüchern eingehend gewürdigt worden und hat seitdem Aenderungen
nicht erfahren. Der Werth des Verfahrens bei Brüchen der unteren Glied¬
massen — ausgenommen sind hier nur die Schenkelhalsbrüche alter Leute,
bei denen die Extension nicht durchführbar ist — ist allgemein anerkannt
und besteht wesentlich darin, dass es in der Hand dessen, der es beherrscht,
eine Dislocation der Fragmente ebenso sicher vermeidet wie die Atrophie
der Weichtheile, die Ankylose der Gelenke und die Pseudarthrose. Dies wird
besonders dadurch erreicht, dass der erste Verband durchschnittlich nach
10 Tagen gewechselt, die Bruchstelle genau nachgesehen und der Verband
nöthigenfalls geändert wird; dass die Bruchstelle stets für Auge und Hand
zugänglich ist, mithin alle erforderlichen Eingriffe und Massnahmen stets
ausführbar sind und dass die Ruhigstellung keine vollkommene ist, die
Fragmente aber genau aneinander gepasst sind. Brüche ohne Dislocation con-
solidiren schnell und mit geringer Callusbildung, während erhebliche Dis¬
location oft massigen Callus bedingt. Da nun beim Zugverbande die Disloca¬
tion fehlt, so fehlt auch die Calluswucherung. Das Wort Baroexheuer's :
»Wenn eine Verkürzung eintritt, so ist dies meine oder meiner Assistenten
Schuld« ist nicht so zu verstehen, als ob Verkürzung völlig und stets ausge¬
schlossen sei; denn nach dem Zeugnisse Loews 1 ') kommen geringe Ver¬
kürzungen doch manchmal vor, aber sie sind stets so gering, dass sie für
das functionelle Ergebniss ohne Bedeutung sind. Uebrigens fehlte die Unter¬
suchung mit Roentgenstrahlen. In der That sind die Erfolge im Kölner
Krankenhause staunenswerth: so hat von 106 Knochenbrüchen nur einer
zur Invalidität geführt, bei allen übrigen trat völlige Erwerbsfähigkeit ein,
und von 61 Unterschenkelbrüchen hat keiner eine Einbusse der Erwerbs¬
fähigkeit zur Folge (Loew).
Für den Kriegsgebrauch ist der Zugverband mit Gewichten, wie schon
oben hervorgehoben w r urde, nur dann verwendbar, wenn ein plötzlicher
Transport der Verwundeten mit Sicherheit ausgeschlossen ist; das aber ist
bei Feldlazarethen nur unter ganz besonderen Umständen der Fall. Mit Fug
und Recht stellt Port an einen feldmässigen, kriegsbrauchbaren Zugverband
folgende Anforderungen: er muss ohne weitere Umständlichkeit bei Kranken
verwendbar sein, die am Boden liegen, also nicht abhängen von dem Vor¬
handensein von Bettstellen; er muss zum Zug und Gegenzug keiner Neben-
und Aussengeräthe bedürfen, sondern alles hierzu Erforderliche in sich selbst
enthalten, er muss dem Gliede eine solche seitliche Stütze geben, dass man
den Verwundeten im Nothfalle sofort aufheben, forttragen und auf einen
Wagen transportiren könne, ohne dass dabei die Bruchenden verschoben
werden. Alle diese Anforderungen erfüllt für die unteren Gliedmassen die
oben beschriebene »Strecklade« Port s.
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Frakturenverbände.
131
Schwertzel 17 ) berichtet aus dem Altonaer Stadtkrankenhause, dass es
nur selten gelingt, eine Fraktur, sei es im Qehverbande, sei es durch fixiren-
den oder extendirenden Verband bei Bettruhe ohne alle Dislocation zur
Heilung zu bringen. »Wir haben sogar zu unserem Bedauern die Beobachtung
machen müssen, dass . . . zuweilen die Dislocation nach Abnahme des Ver¬
bandes eine etwas grossere geworden war, denn zuvor.« Das, was man
nach sonstigen Untersuchungen als ideale Heilung ansah, zeigt bei Roentgen-
strahlen stets grössere oder kleinere Dislocationen. Da man nun aber unter
Aufsicht der Bilder auf dem Fluorescenzschirm jede Formabweichung sicher
beseitigen und das gebrochene Glied beim Anlegen des Verbandes in rich¬
tiger Stellung halten lassen kann, so ist nicht zu bezweifeln, dass künftig,
unter Zuhilfenahme der Roentgenstrahlen, die Erfolge der Frakturenbehand¬
lung sich noch günstiger gestalten werden.
Der HAusMANN sche Zugapparat hat in Deutschland die verdiente Be¬
achtung und Verbreitung anscheinend nicht gefunden, während er nach dem Zeug¬
nisse Sell's 18 ) in den Vereinigten Staaten vielfach angewendet wird. In Völk¬
lingen a. d. Saar ist der Apparat seit Jahren in Gebrauch, und kein Frakturen¬
material ist zur Erprobung einer Behandlungsart mehr geeignet als das
dortige, weil einerseits der eigenartige Betrieb der Bergwerke sehr schwere
Verletzungen an den Beinen durch Quetschungen schwerer Steine oder
Kohlenmassen (durch Sprengstücke, durch Ueberfahrenwerden u. dergl.) mit
sich bringt, und weil er andererseits an die Geheilten ausserordentlich grosse
Anforderungen stellt. Dass es in Völklingen gelang, abgesehen von Fällen
mit vollständiger Zertrümmerung und Zerreissung aller Hauptgefässe, bei
den vielen sehr schweren complicirten Frakturen das Glied zu erhalten, ist
heutzutage nichts Besonderes, dagegen sind die dort erzielten guten Erfolge
in Bezug auf die Gebrauchsfähigkeit des Gliedes wesentlich auf Rechnung
des Verfahrens zu setzen.
Der HAUSMAXX sche Apparat besteht aus einer Lagevorrichtung in Ge¬
stalt einer etwa 80—100 Cm. langen und 18 Cm. breiten, leicht gehöhlten
und mit Hakenausschnitt versehenen Schiene; sie trägt unten eine 30 Cm.
hohe Fussplatte und etwa in der Mitte sowie am oberen Ende beiderseits
einen senkrechten Stab, die durch eine Längsleiste miteinander und mit
dem Fussbrette verbunden sind. Das stellt also eine Art durchbrochener
Lade vor, deren Fussplatte zwei senkrechte Reihen von Durchbohrungen zur
Aufnahme der Zugschrauben zeigt. Zwischen der an der Aussenfläche be¬
findlichen Schraubenmutter und Platte ist eine Stahlfeder eingeschaltet; das
innen hervorragende freie Ende der Schraube trägt einen Haken, der zum
Einhaken der Zugkette bestimmt ist. Die mittleren Seitenstangen sind mit
Blechhülsen ausgerüstet, durch die ebensolche Schrauben gesteckt werden
können. Den Angriffspunkt des Zuges am Bein bildet eine hölzerne Sohle,
die an ihren Kanten ebenfalls Haken trägt und die mit grosser Sorgfalt am
Fusse und Unterschenkel befestigt werden muss.
Anlegen und Gebrauch d^r Schiene bei Diaphysenfraktur. Nach
gründlicher Säuberung und Rasiren von Fuss und Unterschenkel wird die
Fusssohle durch eine Doppellage von Flanell geschützt und dann die Holz¬
sohle aufgelegt und durch längs- und querangelegte Heftptlasterstreifen be¬
festigt. Ein 3V 2 Cm. breiter Längsstreifen beginnt an der Spitze der Sohle,
läuft bis zur Ferse, umgreift sie und steigt möglichst hoch zur Fraktur¬
stelle hinauf. Dann folgt ein Streifen, der, an der Bruchstelle beginnend, von
da abwärts hinter den Knöcheln um das Brett herum verlaufend auf der
anderen Seite die Frakturstelle wieder erreicht. Die queren Streifen umfassen
Sohle und Fuss, jedoch nicht ringförmig, sondern so, dass sie den mittleren
Theil des Fussrückens freilassen. Ist der Fussrücken gepolstert, dann sind
auch einzelne kreisförmige Streifen zulässig. Die Knöchelgegend bleibt frei.
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9 *
Original fro-m
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Frakturen verbände
Ki'ftlu:-»* bildet ei«« Ein Wickelung mit. jtwel Gazebinden. Diese Befestigung
der Solde sttt Fasse muss so sorgfältig geschehen, dass beide gewissefiwassen
ein Ganzes bilden drKt »w imstande sind, als Angriffspunkt der Zugkraft *u
dienen. Der Gegestzhg wird zum Thei) geleistet durch zwei 6 Cm- breite
Seitliche Heltpllasierstreifsri. die oberhalb der Brucludelle aufgeklebtund an
deu oberen souki-oeht Po Stäbe« befestigt werden. SelbatverständlicL» leistet
der an der Schiene befestigte obere Tbeil des Beines und die Kfirperschwero
einen. OegetäHaH.
: ../£?. Ist itiurt'die Holzsohle vorsebriftsmässig befestigt and das Bein so -%e~
Fb$ssehte etwa dü Out von der senkrechten Platte entfernt
Ist: itad dtp Hacke dom Ansschnitte entspricht, dann wird Schiene und Bein
fflP^^^E§^p|läe»oi»vvicikoLöhg •urng^b»ö 1ti jedoch unter Freilassung der
- Zur • Uebert ragung -der Zugkraft, von den Schrauben autn
S<djieöbpott:, dipubu Mösaingketten, die in dcö betiretfondeh Haken eingehakt
werden.
Der Apparat gestattet nun nicht bh>s den ei ft fachen .Längszug. sondern
die Bichtung des Zuges kann je nach der Art, wie nian dte Kauen anbringt,
Verthsilu, beliebig geändert und je -nach Wunsch die ftro* .«»ier Supmation,
di&Mackeit' odegSpltzfüaaSteÜüng her vorgeb nicht worden Will man heii
spielsweiso die SuplualionsstelluBg haben, so lässt man die am inneren Fuss-
rande angebrachten Ketten nach oben, die am äusseren Fussrande ange-
iu eine Voi.KMA.NX'scbw Schiene gelagert .Es schadet nicht, wenn bis zür he-
Kinnendcn OiMjsolidatioit ge-wrortpr ».verdpo muss, da etwaige Dislocationen durch
den Zug ausgpglirhen werden.
Die K.\rehsioH wird so lange beiftbhkitep - jfttt Durchschnitt L'4 Tage —.
bb etttO Yerschtebbug der Fragötenfe nicht mehr zu befürchten ist. Dann
FraktwreuTter bände. 43:5
folgt ein bis über das Knie reichender Gipsverband, in dem der Kranke
Imrumgebt Der Gipsverband, wird fm DürcbsehnltO vier Wneben ftRrag'ep.
Frühzeitige Massage oiaelit jeiföeb in der Regel (feo. 6fj$«erifwa4. übsrtlüssig.
eo dass der Extensia« umniticlbac rin ubnehmfeäsrar. Poppscbießßnverband
folgt. Karin der Kranke dhhe Verband gehen- dann trifit die Behandlung der
etwalgeir üelenksieifigfcelt ruK l’etidid* »b|w anderen einech)li.gl)jen Äpparateu
in Kraft. Snpranmileolefi- und Malletdortbrüchc* werden nach demselben Schema
behandelt, nur beginnt die Estension viel früher; dui chschäittlirb schuh am
vierten Tage. NieüMtüs blieb ehtö Steifigkeit im F* 1 ssgel Ank >.ur0ek,
weil «ine Dehuniäg der B&ivder Wörde,
nur Kwmsiai, uivd awttp leichteren Grades, bedhachhöt, ''#$]• ein*? dieser 'beiden
Fälle War ipit. buxathm des Kusse» .nach öns»$m vergesellscMftet; Durdi
stechongsfraktiiron werden wie «mbcutann Brüche' behandelt: aber auch bei
schweren ewnplicirten Frakturen gewährt (Ke Fsiensioti grosso VortlieUe,
Nur löse Splitter werden entfernt; das ans der Wunde hervorragende
scfanaheiTonrüge Kniie. wird, wenn «lifchig, »hgbkolifmt; reicht das >,u«i Ver-
meidert der Sijcretyerlfiältariir; nicht ädst su. Werden dir durch ent¬
sprechende Zugricht,mg zün» KfaÜeh grebcftcht Bei eien mit Luxation ver¬
bundenen eomplicirteh Frakturen gelingt es mit Hilfe des H.m.’smaXx sehen
Apparates, ein steifes Gelenk verhältnissmässig rasch und schniervlos wieder
beweglich zu machen, nnd zwar durch itlmeebselad ausgefibte Dorsal- ubd
Ci», i'l :
Plantarflexkm. Die Behandlungsdoucr bei f»7 Bergleuten, complidtHe und
nicht eompUctrte Frakturen, betrug 11b Tage, bei t?7 Htitteoarhmlern <>(V Tage.-
Das Kndergebrtiss war; nach joder RicMüng hin sehr zufriedenetelleHd.
Kachtheilo für die Kranken als Folge dpr Zpgbehandhirtg wurden
nicht beobachtet ; wichtig *ö ihrer Imrdifiihrung ist gut«» Heftpflaster. ln
Völklingen wird 41* Heftpflftsterm&ese aus der Belle Allian.ro. Apotheke, in
Berlin bezogen und das Streichen, dort besorgt. Der hintere 'Heftpflaster'
streifen giebt in der fiegel etwas nach, ohne dass dadurttti je-dogb' 4ie Zug-
wirkung beeinträchtigt wird.
Die llAb.SMAJtkschö GniversaLyorderttrm-KxtÖö^öni-TiageruRgsschiene 1!1 )
iFig. _'l) besteht zunächst »us zwei für Ober- und 'Unterarm bestimmte
Äluminiumbleehriniien die bei n mit escentrisch geriebtetter Ate gelenkig ver¬
bunden sind* hier abof: in |ed^v heliöbigett Ayinkel föfltgeirtellt werden können.
Die Vorderarmacbione trägt bei h «inen abnehmbare« 'Bügel, der bei c am eine
w’agrechte Ase dreh- sind festelellbar ist. Am vorderen Ende des Bügele
befindet sich ei n um keine Mitte, -drehbarer,, mit einer Schraub*' ffcirter Stab,
durch dessen beide Kutten mit: Fhlgölseltraoben rerseberic Haken; gosteckt
sind. Soll die Schiene nur zur l.ag«>r&»tg dienen., dann wird t>n Stolle des
Bügels ein beigegobanes Brett angeröxt;
Als -AhgHff8pti'^f : .'ii)^''^gfk' ' Fingern hi$ zum Band-
gelenke reichendes Brettchen, »bis an jeder Seite einen Haken hat und mit
Heftpflasterötreifen und einer darüber gelegten Mullbinde in der Hoblhand
134
I'raktwriiiiyei'hänJe.
befestigt wird. Ober- und Unterarm werden in die gepolsterten Kirnten ge¬
legt und mit Rinikmtdowkkelung umgeben. Zwei zwischen den Haken de«
Handbreiteren? »ad dOtteß der FlügeIsehrauhen auseespannie Eautsohuk-
stränge bewirken den Zug s der durch.' die Schrauben in beliebiger Weise
verstärkt oder geschwächt werden kann Die Schiene ermöglicht es. die
Hand in jede erwünschte Stollunar za bringen, a»i es halbe oder ganze Supi¬
nation, Drouatto», Ab- 'Hier Adduction, Fig. X'J voran-schäolicht den 'Gebrauch
der Schiene in halber SupioatVon. l'if 3 ■ den in Uluarfiexiuin in halber
StipinaihmsstcUune.
Bpi sehr starkan Bjttihergöseeu und Ouetschimgeii der Weirhlheilb io
der Umgehung id«ä Bruches .■feij'ijifiebltes Sich, den Arni vorerst n Kn u iDxter«-.
eio». einfach 1» der Siehieiie *u lagern. \V|b-"Scbwar es istj Vordet'anubrÜrii'p..
sbnderücrfi dih des 4hU'ri?o B&dinsonde*. vAUig bfifriftdigender Gebraoieh»-;,
fähigkeit der. Hand zu heitep, beweDt dii* grosis* Zahl iUtorer Yerb&nd- und
lifhnnilinngsarlc« • die jahraus jahreiu d«tib ueae vermehrt werden:. Die
HtrsMAXS »ehe Schiene mir» bieu-t dig grökse« Vortfudjy, d&»a sie bei sicherer
Lagerung die einmal sorgfältig öjfng#dßMeteti tirgkhetidefl vertwdge des an¬
gewandte« Zuge» in der richtigen &teÜo«£ erhält - eihe fortwährende Be¬
obachtung der Bruchstelle urul vretin riiithig jfcilßrzftff: verbessernde Eingriffe
¥•■% v.i.
gOkCaltei Auch -die •FfÖt^.Sssag»' .Ast • .1» „benuetnstft Weise aqsfSbrbar und
bei eqmj»Iicirri*n Fractoren ist .ule Wechsel de» Wumiverhande» möglich,
ohne da«» die de» Rruchemien gegebene Stellung verändert würde
Grossen Nufzor» gewährt die Seidene in dev '»rthoptUKavh®« Behandlung
von Zimt ändern 'wie sie nach' VarlataVingd# und Kr.tziindvmgen oder nach dem
längeren Dohrauchiv festst ßllendhr, zu mal geschlossener Verbändo so häufig
zurhekbkiben und durch ihre Bmrtuäckigkeit dem Arzte so viel zu schalten
machen. Auch bei Entzündungen des H&ndgelehfcös. besonders gonorrhoischen,
wirkt die Extengie» im Verein mit dem Ruhigstellen sehr günstig, indem die
bka#1h!bdeh Öchmerzöii. sowie dio Ergüsse in das Gelenk und die C»4ematGse
Skb«!h!iönird$r umgobenden Weh^tbeile be&etttgt oder doch gemindert wer¬
den Die Schiene kostet l 2 Mark und wird von Fu. Kaiskh in St. Johann
a. d -Saar geliefert.
H..vrsMAfvN bat die Extension auch auf »He Behandlung der Untorkiefer¬
bruche übertragen und damit einen ebenso glücklichen wie überraschenden
Griff gethaiu Die trüber geübten Mefhmten befriedigten so, wenig, dass die
Behandlung dieser Brüche fast 'ttuss<;hUes.slich de« Zahnärzten überlassen
wurde sie ersannen denn auch eine ganze Reibe sehr brauchbarer Verbände,
derer, Herstellung aber eine dem praktischen Arzte nicht zu Gebote stehende
I'rakturenverbäode.
135
fachmännische Technik erfordert. Dagegen ist das Hausmann* sehe Verfahren
ausserordentlich einfach: um die Schneidezähne des Unterkiefers wird ein
starker Faden geknüpft, dessen freies, mit einem Gewicht beschwertes Ende
über eine am Fussende des Bettes befindliche Rolle läuft. Die Rolle ist etwa
in Manneshöhe angebracht, so dass der Zug nicht in wagrechter* sondern
in schräg aufsteigender Richtung wirkt Meist genügt ein Gewicht von
1 Pfund, doch wird auch 1 Pfund ertragen. Sbbi.hurst '•'•') hat acht, so be¬
handelte Fälle von complicirten Unterkieferbrüchen beschrieben, die alle ohne
Abscessbildung und mit voller Wiederherstellung der Gebrauchsfähigkeit ge¬
heilt sind.
Der Zug überwindet auch hier die Muskelcontraction. gleicht die Ver¬
schiebung ad latus aus und stellt die natürliche Convexität des Kiefers wieder
136
Frakturenverbände.
her. Es ist nicht nöthig, dass auch die Dislocatio ad altitudinem vollständig
beseitigt werde, das kann auch später noch im Beginne der Callusbildung
durch Fingerdruck leicht geschehen. Hat man so die Ausgleichung bewirkt,
dann behalten die Fragmente unter Fortwirkung des Zuges die gewünschte
Stellung. Zwischen die Fragmente wird ein Jodoformgazestreifen bis zum
Nachlassen der Secretion eingeschoben; unter seitlichem Auseinanderziehen
der Fragmente kann man täglich 1—2mal die Wunde ausspülen, ohne
nennenswerthen Schmerz zu bereiten. Eine störende Verschiebung der Frag¬
mente tritt weder bei Nahrungsaufnahme (natürlich nur Flüssigkeiten) noch
bei vorsichtigen Körperbewegungen ein; selbst der Schlaf ist, mit etwaiger
Ausnahme der ersten Nacht, nicht wesentlich gestört.
Zur Befestigung der Schlinge wählt man die der Fraktur zunächst
liegenden Zähne, sind diese wackelig, dann die nächstfolgenden. Die Unter¬
lippe stützt man durch einen Gaze- oder Wattebausch vor dem Fadendruck.
Ein Abgleiten der Schlinge von den Zähnen kann man in manchen Fällen
durch Tieferlegen der Zugrolle vermeiden. Schaltet man in die Schnur einen
S-förmig gekrümmten Drahthaken ein, dann kann der Kranke für Augen¬
blicke, z. B. beim Aufrichten, den Zug unterbrechen. Für die sehr seltenen
Fälle, wo die Schneidezähne fehlen, hat Hausmann einen Apparat anfertigen
Fig. 26 .
lassen (Fig. 25), der in seiner Einrichtung den für Blutungen aus dem Boden der
Mundhöhle bestimmten Compressorien ähnelt; er besteht aus zwei sich
scherenförmig kreuzenden Armen, deren vordere Enden über die Fläche ein¬
ander entgegen gebogen sind und deren jede eine dem Zwecke entsprechend
geformte Pelote trägt; die eine rund, die andere nach vorn convexgebogen
und mit Kautschuk überzogen; jene kommt unter das Kinn, diese auf den Boden
der Mundhöhle zu liegen. Das hintere Endenpaar trägt die Zugschnur, und
da sie bei Wirkung des Zuges aneinander genähert werden, so werden die
Peloten einander entgegengehebelt und in ihrer Lage festgehalten. Die
Methode »ist zweifellos von grosser praktischer Bedeutung — schreibt Pro¬
fessor Witzel 21 ) — und verdient in hohem Grade die Beachtung von Seiten
der Zahnärzte«, gewiss nicht minder aber die der praktischen Aerzte.
Aus der v. BRAMANN’sehen Klinik berichtet Rammstedt 11 ) über eine > bisher noch nicht
beobachtete Wirkung des Streckverbandes«, d. h. eine Kapseldehnung. Es handelt sich um
ein lojähriges, schwächliches Mädchen mit einem hochgelegenen Diaphysenbruche; die Frag¬
mente bildeten einen mit der Spitze nach aussen gerichteten Winkel. Die Heftpflasterstreifen
reichten bis dicht unter die Bruchstelle; die Achselhöhle wurde nur zum Schutze der Haut
mit Watte dünn gepolstert; der Oberarm und der rechtwinklig gebeugte Unterarm wurden
an den Thorax angewickelt und dabei das obere Ende des unteren Fragmentes möglichst nach
innen geleitet. Am fünften Tage war die Winkelstellung nicht mehr vorhanden, sondern die
Fragmente standen nebeneinander; die Verschiebung ad longitudinem war erheblich ver-
grössert: das obere Fragment war herabgesunken, der Gelenk köpf stand fast unterhalb des
Tuberculum infraglenoidale.
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Frakturenverbände.
137
Kammstkdt g-iebt folgende Erklärung dieser Erscheinung: Die dauernde Belastung
mit vier Pfund hatte bei der schlaffen Musculatur des schwächlichen Mädchens einen solchen
Zug an der Schulter geübt, dass eine Dehnung der Gelenkkapsel eintrat. Das obere Frag¬
ment sank, tbeils durch seine eigene Schwere, theils durch den Zug des kurzen Tbeiles des
Tricepsmuskels. Diese Erklärung dürfte zutreffend sein; aber begünstigt wurde die Wirkung
dadurch, dass nur das untere Fragment nach innen gezogen war.
Bähb **) in Hannover beobachtete, wie bei zwei Fällen von Fractura subtrochanterica
des Oberschenkels der Zugverband Pseudarthrose herbeiführte. Bähe nimmt an, dass bei
dieser Art von Brüchen die Pseudarthrose viel häufiger eintritt, als man gemeinhin denkt,
und zwar weil auf die Eigenthümlichkeiten dieser Frakturen nicht Rücksicht genommen wird.
Ist Verdacht auf solchen Bruch vorhanden, dann muss man den Oberschenkel in Beugung
stellen und den Zug in mehr oder weniger schräger Richtung nach oben wirken lassen.
Typisch für diese Pseudarthrose, wie überhaupt für Oberschenkelpseudarthrosen ist, dass die
Kranken »keine Macht Uber das Bein haben<.
Bei der Wichtigkeit der Zugverbände ist es dankbar zu begrössen, dass
Eichel 24 ) einen Extensionsapparat oder eigentlich einen Rollenträger ersonnen
hat, der den Betten der Oarnisonslazarethe angepasst ist. Die sehr einfache
Vorrichtung — zu beziehen vom medicinischen Waarenhause — besteht aus
einer derartig rechtwinkelig gebogenen Eisenplatte, dass sie einen grösseren
Fig. 2«.
wagrechten und einen kleineren senkrechten Theil hat. Die dreimal durch¬
brochene wagrechte Platte ist der Träger der Rolle, die an einem mit
Schraubengewinde versehenen Stabe sitzt. An der unteren Fläche der wag¬
rechten Platte ist parallel dem senkrechten Theil eine Leiste angenietet, und
zwar in der Entfernung, dass in die so entstehende Lucke der Querstab des
Fassendes der Bettstelle hineinpasst (Fig. 26). Mit Hilfe von Schraubenklammern
lässt sich der Apparat in jeder beliebigen Stelle der Längsseiten jeder Bett¬
stelle anbringen. Je nachdem man die Vorrichtung an der oberen oder
unteren Eisenstange aufsetzt, wirkt der Zug in schräg aufsteigender oder
in wagrechter Richtung. Die wagrechte Eisenplatte hat drei Löcher, und
je nachdem man in Mittelstellung oder in Ab- oder Adduction extendiren
will, wählt man eines dieser Löcher. FiQgelschrauben stellen die Rolle in
erwünschter Höhe nnd Richtung fest.
Ausser der besonders für Militärlazarethe bestimmten Vorrichtung
Eichel' s sind derartige Rollenträger in grosser Zahl neuerdings auf den Markt
gebracht worden. Ich erwähne hier nur das »Extensionsgestell« nach Köhler
in Offenbach, das mit dem dazu gehörigen Fussbrette oder Qeflechtrahmen
sich links und rechts verwenden, und dessen Rolle sich sowohl in senk¬
rechter wie wagrechter Richtung verschieben und feststellen lässt (zu be¬
ziehen von Hammerschmidt in Frankfurt a. M.). Einfacher und billiger
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1 38 Frakturenverbände.
•
(4 Mk.) ist der von Holzhausen in Marburg gelieferte Rollenträger. Während
die bisher genannten Vorrichtungen alle zum Anschrauben an die Bettstelle
eingerichtet sind, werden bei dem »Extensionsapparat nach Skttegast« die
Rollen von einem eisernen Ständer getragen, der in die gewollte Entfernung
vom Fussende des Bettes gestellt wird und so vorzugsweise für den Zug
in Abduction des Beines geeignet ist (Holzhausen in Marburg, 17,50 Mk.).
Literatur: *) Tietze, Zur ambulanten Behandlung der Frakturen der unteren Extremi¬
täten. Zeitschr. f. prakt. Aerzte. 1837, pag. 8U1. — *) F. Honigmann, Aus der chirurgischen
Abtheilung des Allerhciligenhospitales in Breslau. Ueber die Behandlung der subeutanen Bein¬
brüche. Ebenda. 1898, pag. 16. — 3 ) A. Riedel, Der Gipsgehverband in der Praxis. Münchener
med. Wochensehr. 1899, Nr. 37. — 4 ) Wöhner, Zur Gehbehandlnng schwerer complieirter Frak¬
turen der unteren Extremitäten. Vortrag, gehalten auf dem XXVIII. Congress der deutschen
Gesellsch. f. Chir. v. Langenbeck’s Arch. LIX, pag. 320. — b ) Hababt, Gehverband bei Unter¬
schenkelbrüchen mittels Gipskataplasmen und Einfügen von Metalldrähten nach Elrogks.
Sohlenfütterung nach Döllinger. Wiener klin. Wochenschr. 1898, pag. 426. — 6 ) Bruns. Eine
verbesserte Beinschiene. Aus der Tübinger chir. Klinik. Beiträge f. klin. Chir. XIV, pag. 583. —
7 ) Kohlmetz, Zeitschr. f. ärztl. Polytechuik. 1899, Nr. 7. Privatmittheil. — 8 ) C. Hübscher in
Basel, Streckmetall, ein neues Schienenmaterial, besonders für kriegschirurgische Zwecke.
Sonderabdruck aus dem Centralbl. f. Chir. 1900, Nr. 9. — 9 ) Alex. C. Wiener, Fiber, ein
ideales Schienenmaterial. Centralbl. f. Chir. 1899, 1.— 10 ) J. Port, Ueber Bandeisenverbände.
Separatabdruck a. d. Münchener med. Wochenschr. 1897, Nr. 34. — u ) G. A. Peters, Aikin’s
hoop-iron splint in fractures of the humerus. Brit. med. Journ. 5. Juni 1897; Centralbl. für
Chir. 1897, pag. 1248. — 12 ) A. Koeppen, Verband bei Oberarmfracturen. Zeitschr. f. prakt.
Aerzte. 1898, pag. 678. — i3 ) A. Roth, Neuer Blechspangenapparat. Budapest 1896, Druck von
Sam. Markus. — 14 ) Th. Köllickkr, Die Gipsdrahtschiene. Leipzig 1900, Vogel. — 15 ) Barden
heuer, Leitfaden der Behandlung von Fracturen und Luxationen mittels Feder, respective
Gewichtsextension. 1890. — ie ) Lof.w, Die Behandlung von Fracturen vermittels der Barden -
HEUER schen Extension. Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1898, Nr. 6; Deutsche Zeitschr. für
Chir. XLIV; Berliner klin. Wochenschr. 1897, Nr. 45. — 17 ) Schwertzkl, Ueber den Werth der
Roentgenstrahlen für die Chirurgie. Berliner klin. Wochenschr. 1897, Nr. 29. — 1B ) Karl Sell,
Aus dem Knappschaftslazareth zu Völklingen a. d. Saar. Ueber die Anwendung des Haus-
mANN Schen Extensionsapparates bei Behandlung von Unterschenkelbrüchen. Archiv für klin.
Chirurgie. LVI, Heft 4. — ,9 ) Hausmann, Universal-Vorderarmextensions- u. Lagerungsschiene.
Sonderabdruck aus der Monatschrift für Unfallhk. 1899. — *°) Georg Skelhorst, Behand¬
lung der Unterkieferbrüche durch Gewichtsextension. Münchener med. Wochenschrift. 1898,
Nr. 17. — 2l ) Lohmann, Prof. J. Witzel in Kassel, Ueber Kieferbrüche. Zahnärztl. Rundschau.
1898, Nr. 312, 314 u. 315. — ss ) Rammstedt, Aus der G. R. v. BRAMANN’schen Klinik. Ein Fall
von Fraktur der Diaphyse des Oberarmes mit bisher noch nicht beobachteter Wirkung des
Streckverbandes. Arch. f. klin. Chir. LVIII. — 23 ) Bahr, Zur Behandl. der Oberschenkelbrüche.
Die ärztl. Praxis. 1899, Nr. 14. — a4 ) Eichel, Ein einfacher Extensionsapparat. Souderab-
druck aus der Zeitschr. f. Krankenpflege u. ärztl. Polytechuik. 1898. — * 5 ) Prof. Dr. K. Schu-
chardt in Stettin. Ueber die Behandlung der subeutanen Knochenbrüche. Deutsche Aerzte-
Ztg. 1. Mai 1900. — 26 ) Dr. J. Port, k. b. Generalarzt , Zur Reform des Kriegsverbands-
wesens. Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1900, pag. 148—183. Walz^ndorff.
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Gährungsprobe (der Fäces), s. Darm, pag. 97.
Gastritis atrophicans, s. Achylia gastrica, pag. 8.
Geheimmittel« In Deutschland ist in den letzten Jahren der Ver¬
such, den Geheimmittelhandel möglichst einzudämmen, von Seiten der Re¬
gierungen und Behörden mit grossem Eifer geführt worden, wobei mit vollem
Recht besonderer Werth auf die Beseitigung der Reclame in der Presse ge¬
legt wurde. Das zuerst von dem Berliner Polizeipräsidium durch Verord¬
nung vom 30. Juni 1897 erlassene Verbot der öffentlichen Ankündigung
und Anpreisung von Geheimmitteln fand in verschiedenen preussischen Pro¬
vinzen und auch ausserhalb Preussens Nachahmung. Zwar wurde in ver¬
schiedenen Processen die Rechtsgiltigkeit einer solchen Verordnung als gegen
die die Pressfreiheit gewährleistenden Bestimmungen des Pressgesetzes und
der Verfassung verstossend angefochten und die Ungiltigkeit selbst in ge¬
richtlichen Entscheidungen ausgesprochen, doch hat schliesslich das Kammer¬
gericht für Preussen die Verordnung für rechtsgiltig erklärt. Es lag daher
kein Grund vor, das Verbot des Annoncirens, das ursprünglich nur das Wohl
der kranken Menschheit im Auge hatte, nicht auch auf die Geheimmittel
gegen Thierkrankheiten und schliesslich sogar gegen Pflanzenkrankheiten
auszudehnen.
Die unmittelbare Folge dieses Verbotes war bei dem Fehlen einer
befriedigenden Definition des Begriffes Geheimmittel unausbleiblich eine
Reihe von Processen, in denen Errungenschaften der modernen wissen¬
schaftlichen pharmakologischen Studien, welche in der ärztlichen Praxis all¬
gemeine Verwendung fanden, in Frage kamen. Noch mehr war dies der
Fall, als durch einen gemeinsamen Erlass der preussischen Ministerien der
geistlichen, Unterrichts- und Ministerialangelegenheiten, des Innern und für
Handel und Gewerbe (28. Januar 1898), dem gleichlautende Erlässe der
Regierungen in den übrigen Staaten des Deutschen Reiches folgten, das be¬
stehende Verbot der Ankündigung der Geheimmittel in politischen Zeitungen
abgeschwächt wurde. Nach dieser Verordnung soll die öffentliche Ankündi¬
gung von Geheimmitteln gestattet sein, wenn »diese ihrer Eigenschaft als
Gebeimmittel dadurch entkleidet werden, dass die Bestandtheile des Mittels
und deren Gewichtsmengen sofort bei der Ankündigung in gemeinverständ¬
licher und für jedermann erkennbarer Weise vollständig und sachentsprechend
zur öffentlichen Kenntniss gebracht wurden«. Wer das Geheimraittelunwesen
der Neuzeit aufmerksam verfolgt hat, musste von vornherein einsehen,
dass die schlimmsten Reclamemittel dadurch von der Bildfläche nicht ver¬
schwinden, sondern dass den Fabrikanten, wie dies ja mit den BRAXDT'schen
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140
Geheimmittel.
Schweizerpillen u. a. schon vorher geschah, eine Angabe der Bestandtheile
durchaus keine Schwierigkeiten bereiten würde. Die unausbleibliche Folge
war, dass ein Rattenkönig von Processen gegen die Darsteller wirklich
werthvoller, auf Grund wissenschaftlicher Forschungen erfundener und er¬
probter Arzneimittel, z. B. die Fabrikanten der diversen organischen Eisen¬
präparate, wie Ferratin, Haemin, Eisensomatose, angestrengt wurde, die zum
Theil mit Verurtheilung endigten, während Alpenkräuterthee, Purgirpillen,
KoNETZKi sche Bandwurmmittel u. s. w. auf der vierten Seite der Tagesblätter
oder in eigenen Beilagen dazu unbeanstandet weiter annoncirt wurden. Man
hat bei diesen Processen erlebt, dass nicht blos seit Jahren von Aerzten ver-
ordnete Heilmittel, sondern sogar patentirte chemische Verbindungen
rechtskräftig als Geheimmittel condemnirt wurden, bis das Kammergericht zu
der richtigen Ansicht gelangte, dass ein dem deutschen Reichspatentamte zur
Begutachtung vorgelegtes Product doch kein Geheimmittel sein könne.
Verschiedene andere Bestimmungen der Verordnung, die ein Sachver¬
ständiger für undurchführbar ansehen musste, z. B. die Angabe der Bestand¬
theile in deutscher Sprache, Hessen der Regelung der Geheimmittelankündi
gung in dieser Form nur eine kurze Lebensdauer prognosticiren, zumal da
die Verordnungen weder denen genehm waren, die den Geheimmittel- und
Specialitätenverkehr auf das Minimum reducirt zu sehen, noch solchen,
welche für die sogenannten Specialitäten und anderen Producte der chemi¬
schen Industrie unbeschränkte Ankündigungsfreiheit verlangen. Die in aller-
neuester Zeit vom Bundesrath beschlossene Regelung des Geheimmittelwesens
beseitigt die Angabe der Bestandtheile und verbietet die öffentliche An¬
kündigung von Geheimmitteln überhaupt. Ohne sich um die Definition des
Begriffes »Geheimmittel« zu kümmern, wird nur als allgemeine Norm hinge¬
stellt, dass nicht als Geheimmittel gelten: 1. in das deutsche Arzneibuch auf¬
genommene und unter der dort angewendeten Bezeichnung angebotene Stof 'e
und Zubereitungen; 2. solche, die in der medicinischen Wissenschaft uüd
Praxis als Heilmittel Anwendung gefunden haben und 3. Mittel, weiche ledig¬
lich als Desinfectionsmittel, kosmetische Mittel, Nahrungs- und Genussmittel
oder als Kräftigungsmittel angeboten werden. Das von den einzelnen Staaten
zu erlassende Verzeichniss der als Geheimmittel anzusehenden Medicamente
wird in allen Bundesstaaten gleichlautend sein. Es soll in der Weise her¬
gestellt werden, dass alle Bundesregierungen zur Einreichung von Listen
aufgefordert werden, deren Sichtung dem Reichsgesundheitsamte überlassen
wird, um daraus ein vom Bundesrathe zu genehmigendes, für alle Bundes¬
staaten massgebendes Verzeichniss herzustellen. Jedenfalls aber ist durch
die Verordnung die Beschränkung des Geheimmittelverkehrs, soweit diese die
massenhafteste Verbreitung durch die Annoncen in Zeitungen finden, auf das
Minimum einerseits erreicht, während andererseits durch den unter bestimmten
Bedingungen zugelassenen Vertrieb in Apotheken auch den Hilfsbedürftigen,
welche keine Heilung oder Besserung durch die Medicamente des Arznei¬
buches oder die in der medicinischen Wissenschaft als Heilmittel erprobten
Stoffe finden zu können glauben, die Möglichkeit zu einer allerdings sehr
problematischen Hilfe zu gelangen, und zwar ohne übermässige Preise dafür
zu zahlen, gelassen ist.
Die neueste bundesräthliche Verordnung behält ausserdem den Be¬
hörden die Befugniss vor, von dem Verkaufe in Apotheken bestimmte Ge¬
heimmittel auszuschliessen, durch deren Verwendung die Gesundheit ge¬
fährdet wird oder durch deren Vertrieb das Publicum in schwindelhafter
Weise ausgebeutet wird. Durch diese Bestimmung schliesst sich Deutschland
näher an die Verhältnisse in Oesterreich an, wo alljährlich derartige Ver¬
bote erlassen werden. Selbstverständlich ist darauf zu achten, dass sie nicht
blos auf dem Papiere stehen, und dass von Zeit zu Zeit eine Auffrischung
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Geheimmittel. — Glaukom.
141
noth thut, um dem immer wieder emporstrebenden Geheimmittelwesen zu
steuern, beweist ein Erlass des k. k. Ministeriums der Justiz und des Innern
vom 22. Juli 1898, in welchem besonders auf frühere Verbote verschiedener
Geheimmittel und Specialitäten hingewiesen wird. Es sind darnach durch
diverse Hofkanzleidecrete Verkauf und Ankündigung untersagt für Schneeberger
Niespulver, schwedisches Elixir, Santa Foscapillen, FRANz'sche Lebensessenz,
Augsburger Lebensessenz, Filicinpillen, blutreinigende Pillen, Jena'sche Tropfen,
Koenig’s Nervenstarker, Nürnberger Wundbalsam, Seehofer' sehen Balsam,
Lebensessenz, Lebensessenzbalsam, HAAS'sche Pillen, Spyker Balsam, Frankfurter
Balsam, Kedlinger Pillen, Vf.rgagm s antiscorbutisches Elixir, Schauer's Balsam,
KiEsow’sche Lebensessenz, Bauer's Pflaster, gehörstärkendes Oel, englisches
Gichtpapier, medicinische Kräutercigaretten von Dr. Loewy in Wien, Pagliano-
syrup, Karpathenkräuterelixir des B. Fuchs in Malaczka, Hanfcigaretten oder
indische Cigaretten der Firma Gr im au 1t & Co. in Paris, JÄGEu'sche Anthropin-
pillen, elektrohomöopathische Heilmittel des Grafen Mattei , Specialitäten
des Apothekers Josef Fürst in Prag, Gastrophon, Karolinenthaler David*
thee und Halspulver des Apothekers Prakowitz, Homeriana, Sanjana-Prä-
parate, WERNER’sche Safecure-Artikel, Aachener Thermensalbe, Biscuits de-
puratifs von Ollivier in Paris, PARAische Arzneizubereitungen, Marienbader
Reductionspillen, Mentholinschnupfpulver, Marienbader Entfettungspillen, die
von der Firma F. A. Richter & Co. in Rudolstadt erzeugten, mit einer
Ankerschutzmarke versehenen zusammengesetzten Arzneibereitungen, Anker-
pninexpeller, Ankerstomakal, Ankerloxapillen, Ankerbetelhonig, Ankertama-
roni, Ankercongopillen, Ankerkefirpillen, Ankermagenpulver, Ankersarsa-
parillian, Ankerfarola, Ankeringapastillen, Ankermakrapillen, Ankerkrakolos,
Ankerpenagnopastillen, Ankerlagosasalbe, Ankerbolagosalbe, Ankerflechten¬
salbe, WEissMANN'sches Schlagwasser, Oleum Baunscheidti, Lebenswecker,
Wunderbalsam und englische Wundersalbe von A. Thierry in Pregrada
(Croatien), Dr. Spudaeus’ Lebensbalsam, Schweizer Pillen jeder Art, Williams'
poröses Pflaster und RiNGELHARüT-GLöCKNER'sches Wund- und Heilpflaster.
Uebersieht man diese Reihe, so wird man zugeben müssen, dass der öster¬
reichische Staat sich der Mehrzahl der für die Medicinalpolizei wichtigsten
und schädlichsten hiehergehörigen Mischungen und Zubereitungen, die wir
als Reclamemittel xxt' e?oyJ)v bezeichnen müssen, wie der Ankermittel,
der Werxer' sehen Safe Cure-Mittel, der Homeriana, der BRANDT'schen
Schweizerpillen, erwehrt hat, soweit das Verbot der Ankündigung, des
Verkaufs und der Einfuhr aus dem Auslande diese fernzuhalten im¬
stande sind. Husemann.
Gehverband, s. Frakturen verbände, pag. 114.
Glaukom. Ausgehend von der Ansicht, dass ein andauernder
Reizungszustand des N. sympathicus mit dem Glaukom in ursächlichem Zu¬
sammenhänge stehe (Beziehungen, die weiterer Klärung bedürfen), hat Abadie
die Exstirpation des Ganglion cervicale supremum des Sympathicus
vorgeschlagen und ausgeführt. Eine grössere Anzahl solcher Operationen führte
Joxxesco (Bukarest) aus, ihm folgte Demicheri (Montevideo) und Mohr be¬
richtet über einen an der chirurgischen Klinik in Tübigen operirten Fall.
Die Erfolge waren im allgemeinen zufriedenstellende; die Schmerzen schwan¬
den, die Pupille verengerte sich, glaukomatöse Anfälle blieben aus, die
Spannung nahm ab, centrales und peripheres Sehvermögen besserte sich,
manchmal nicht unbeträchlich; freilich hatte man zur Operation zumeist
Fälle gewählt, bei denen im vorhinein für das Sehen nicht viel zu erwarten
war. Joxxesco meint, die besten Erfolge seien in solchen Fällen zu erzielen,
in denen entzündliche Erscheinungen gering sind oder fehlen. »Allein da der
Eingriff durchaus unbedenklich ist, so ist er in allen Glaukomformen zu ver-
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142
Glaukom. — Guss lieber.
suchen,« auch dann, wenn die bekannten Operationen keinen Erfolg hatten,
oder wegen Schmerzen bei Glaucoma absolutum.
Allard hat statt der Operation die elektrische Behandlung des Sym-
pathicus durch stärkere galvanische Ströme empfohlen und einige gute Re
sultate erzielt. Die negative, indifferente Elektrode wird auf den Nacken
oder Rucken gesetzt, die positive, wirksame auf den Nackensympathicus. sie
ist 2—2,5 Cm. breit, 8—10 Cm. lang und kommt über nasse Watte an den
vorderen Rand des M. sternocleidomastoideus. Dauer einer Sitzung 15 bis
20 Minuten, wöchentlich 3 Sitzungen.
Literatur: Abadie, Die Natur des Glaukoms, Erklärung der Heilwirkung der Iridek
toinie. Die ophthalmolog. Klinik. 1837, 1, Nr. 1. — Abadie, Glaucome inalin ii forme hemor
rhagiqne enray£ par rablation du ganglion cervical superieur. Archiv d’Ophthalm. 1838.
XV11I, pag. 443. — Cami’os, Considcrations sur la theorie sympathique du glaucome. Ebenda,
pag. 445 und Kecueil d'Ophthalm. 1838, pag. 560. — Jonnksco, Die Resection dos HaD-
sympathicus in der Rehandlung des Glaukoma. Ebenda. 1833, Nr. 18. — Demicheri, Annal.
d’oeulistique. März 1833. — Mouk, Exstirpation des Ganglion cervicale supremum bei Glau¬
coma simplex. 71. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München 1833. Ab¬
theilung für Augenheilkunde. — Allard, Behandlung des Glaucoma chronicum simplex mit
Galvanisirung des Ilalssympathicus. La clinique ophthalm. 1839, Nr. 20. Bcu<s.
Gonorol , ein von Heine & Co. in Leipzig dargestelltes Santel¬
holzölpräparat, welches nach Prof. Rikhl sich bei Urethritis blennorrhoica
besonders wirksam erwiesen hat. Das Gonorol stellt nur die alkoholischen
Theile des Rohöles dar, welches aus dem Holze von Santalum alb. L. durch
Destillation mit Wasserdampf erhalten wird. Durch Verseifung werden die
mitgerissenen Ester in »Gonorol < (alkoholischen Theile) und die entsprechen¬
den Säuren zerlegt und ersteres von den Säuren und den übrigen Bestand
theilen des Destillates, Terpene etc. abgetrennt. Das reine Präparat stellt
ein farbloses, syrupdickes Oel von mildem Geruch und dem Santelöle
eigenthümlichem Geschmack dar, vom specifischen Gewicht 0,976 bei 15° C.;
die Hauptmenge (82%) siedet bei 303—308° C., es ist linksdrehend, es löst
sich schon in 3,5 Th. 70%igen Alkohols bei 20° C. klar auf (gewöhnliches
Santelöl erst in 5 Th. 70%igen Alkohols), mit einem Gehalt an Santalol
von 36,5%. Dieses Präparat hat Riehl in 50 Fällen von Gonorrhoe zu
2,0—3,0 pro die durch 10—3() Tage und länger verabreicht; es wurde ohne
wesentliche Nebenwirkungen gut vertragen ; hier und da wurden allerdings
Aufstossen, rasch vorübergehende Leibschmerzen und Nachempfindung des
Geschmackes beobachtet.
Literatur: Prof. G. Riehl, Uobor Gonorol. Wiener klin. Woehensclir. 1838, Nr. 52. —
Dr. Aufrecht, Pharmaceut. Ztg. 1S33, pag. 134 u. 215. Loebisrh.
Gussfieber, s. Zinkvergiftung.
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Harn« Wir haben in Bd. VI, pag. 2H8 und Bd. VII, pag. 100 der
Encyklopäd. Jahrbücher auf die Arbeiten A. Koränyis hingewiesen, die sich
die Aufgabe stellten, durch Bestimmung der molecularen Concentra-
tion des Harnes einen Einblick in die Leistungsfähigkeit der Niere zu
gewinnen. Von den gleichen theoretischen und experimentellen Grundlagen
gehen auch die Untersuchungen von L. Lindemann j ) über die Concentration
des Harnes und Blutes bei Nierenkrankheiten aus. Er bestimmte die Ge-
sammtmenge des Harns, das specifische Gewicht, den Gehalt an Stickstoff
und Natriumchlorid und überdies die Gesammtzahl der gelösten Molecüle
durch die Bestimmung des osmotischen Druckes der Flüssigkeit und die
des Gefrierpunktes. Es ist nämlich die Gefrierpunktserniedrigung einer Lösung,
dem osmotischen Druck derselben direct proportional und dieser wieder direct
proportional der molecularen Concentration einer Flüssigkeit. Die Bestimmung
der molecularen Concentration des Harnes nach diesen Gesichtspunkten ermög¬
licht einen Schluss auf die Leistungsfähigkeit der Nieren und damit eine Unter¬
scheidung zwischen Albuminurien ohne entzündliche Vorgänge von den durch
Nephritiden verursachten. Die Gefrierpunktserniedrigung und damit auch die
Concentration ist bei allen Nierenentzündungen geringer, bedeutender bei
den parenchymatösen als bei den interstitiellen Nephritiden; auch Restitution
und Heilung lassen sich durch diese Bestimmung erkennen. Die Albuminurien,
durch Fieber, Stauung, Cystitis und Pyelitis verursacht, sind durch das
Fehlen einer Verminderung der Gefrierpunktserniedrigung charakterisirt;
tritt bei Cystitis oder Pyelitis Verminderung der Concentration des Harns
auf, dann ist ein Uebergreifen des Entzündungsprocesses vom Nierenbecken
auf das Nierengewebe wahrscheinlich. Bei Nierenentzündungen ist die Con¬
centration des Blutserums eine normale, so lange keine urämischen Symptome
bestehen; wenn Urämie auftritt, so ist die Concentration des Blutserums,
damit der osmotische Druck desselben erhöht. Die Erscheinungen, welche
nach Injection grosser Mengen concentrirter Salzlösungen in die Blutbahn
auftreten, sind dieselben wie bei der Urämie; sie treten mit der Concen-
trationserhöhung des Blutes auf, wenn die Elimination der angehäuften
Stoffe aus dem Blute nicht mehr vor sich gehen kann, weil die Aufnahms¬
fähigkeit der Gewebe und Organe des Körpers erschöpft ist.
Wie bekannt, werden bei Nierenerkrankungen und bei Gicht häufig bedeu¬
tende Stickstoffretentionen gefunden. Rudolf Rosemann 2 ) macht auf¬
merksam, dass ähnliches auch beim Gesunden vorkommt. Reichliche Wasser¬
zufuhr bewirkt anfänglich Steigerung der Stickstoffausscheidung wohl nur
infolge der Ausschwemmung angesammelter N-Substanzen; häufig tritt die
N-Ausscheidung erst einige Tage nach der sie verursachenden Störung.
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144
Harn.
z. B. übermässige Arbeitsleistung u. ä. au!; auch jene Erhöhung der Stick¬
stoffausscheidung, welche gleichzeitig mit einer Harnsäure- und Phosphor¬
säurevermehrung, unabhängig von irgend einer Nahrungszufuhr in den Vor¬
mittagsstunden beobachtet wird, glaubt Rosemann auf eine N-Retention
während der Nachtzeit zurückführen zu sollen. Bei Stoffwechseluntersuchungen
findet sich gewöhnlich ein Auf- und Abschwanken der Stickstoffbilanz an
den einzelnen Versuchstagen, wie dies der folgende Fall deutlich erkennen
lässt. Es handelte sich um einen 22jährigen, anscheinend ganz gesunden
Mann. Er hatte aber eine sehr reizbare, stets feuchte Haut und litt, wie
auch mehrere Mitglieder seiner Familie, häufig an Urticaria, gegen welches
Uebel er bis 14 Tage vor dem Versuch Jodkali genommen hatte. Während
des Versuches wurde aber noch Jodkali durch den Harn ausgeschieden.
Während der ersten 12 Tage des Versuches wurde stets weniger (0,24 bis
3,98 Grm. im Tag) Stickstoff ausgeschieden als eingeführt. Dann durch drei
Tage mehr ausgeschieden als eingeführt (5,13—11,0 Grm. im Tag), am
letzten Tag wurde annäherndes Stickstoffgleichgewicht gefunden, im ganzen
wurden aufgespeichert 23,63 Grm., dann ausgeführt 23,37 Grm. N. Trotz der
N-Retention sank anfänglich das Körpergewicht um ein weniges, um später
wieder zur ursprünglichen Höhe (77,7 Kgrm.) anzusteigen, um Muskelvermeh¬
rung handelte es sich gewiss nicht. Während der Zeit der Stickstoffverluste
war die Höhe der Harnsäureausscheidung normal, die Wasserausscheidung
war trotz reichlichen Wassertrinkens stets vermindert, doch ausreichend zur
dem normalen Zustand entsprechenden Lösung der stickstoffhaltigen Harn-
bestandtheile. Welches die Ursache der Erscheinung sei, ob die chronische
Jodaufnahme, von welcher bekannt ist, dass sie Nierenreizungen selbst bis
zu Albuminurie bedingen kann, ob eine latente Nierenkrankheit, mit der
vielleicht auch die Urticaria Zusammenhängen könnte, lässt Rosemann unent¬
schieden.
Ueber die Ursachen der hohen Werthe der C :N-Quotienten des
normalen menschlichen Harnes gelangt Fritz Pregl 3 ) zu folgendem Re¬
sultate: Das Verhältniss des Kohlenstoffes (C) zum Stickstoff (N) im Harn¬
stoffe ist gleich 0,43. Wenn man dieses Verhältniss für ein Gemisch von
Harnstoff, Harnsäure, Kreatin etc., wie es im Harn vorliegt, berechnet, so
erhält man bei günstiger Berechnung 0,66, direct gefunden aber wurde dieses
Verhältniss von Scholz zu 0,7—0,9, von Bouchard zu 0,87 und von Fritz
Pregl zu 0,725. Dieser fand nun, dass der C-reiche und N-arme Körper,
der dies Missverhältniss verursachen musste, mit dem getrockneten Harn¬
rückstand in Alkohol überging und aus der alkoholischen Lösung durch
Oxalsäure nicht gefällt werden konnte (wie etwa Harnstoff). Als nun eine
so hergestellte Lösung durch Ammoniak von der überschüssigen Oxalsäure
und dann vom Ammoniak durch Baryt befreit wurde, hinterblieb eine in
Wasser leicht und in absolutem Alkohol nicht lösliche Masse, das Barytsalz
der in jüngerer Zeit öfter erwähnten Oxyprotein- oder Uroprotsäure (s. Ency-
clopädische Jahrbücher, VIII, pag. 136). Pregl vermochte aus der Tagesmenge
eines Harns bis zu 6 Grm. des Barytsalzes dieser Säure darzustellen, während
Bondzijnski und Gottlieb die Tagesmenge dieses Körpers zu 3—4 Grm.
angaben. Bei der sehr umständlichen und verlustreichen Art der Darstellung
der neuen Substanz dürften aber die Tagesmengen noch höhere sein, und
»es ist erstaunlich, dass eine Substanz, die ihrer Menge nach wohl in den
meisten Fällen nächst dem Harnstoff unter den organischen Substanzen des
normalen menschlichen Harns die erste Stelle einnimmt, erst in der jüngsten
Zeit aufgefunden worden ist«. Die Natur dieser Substanz und auch die
Frage, ob es sich um ein Gemenge handle, lässt Pregl dahingestellt sein,
jedenfalls ist sie es, welche den C-Gehalt des Harnes zu Ungunsten des
N-Gehaltes vermehrt.
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Harn.
145
Es ist schon lange nachgewiesen, dass in der Leber der Säugethiere
aus kohlensaurem, beziehungsweise carbaminsaurem Ammoniak Harnstoff
gebildet wird. Sergej Salaskix 4 ) stellte sich die Frage, ob die Leber auch
aus Amidosäuren der Fettsäurereihe — Glykokoll, Leucin und
Asparaginsäure —, welche kohlenstoffreicher als die erstgenannten Am¬
moniaksalze sind, Harnstoff bilden könne. Die an Hunden mit dem Apparat
von S. Dzierzgowski ausgeführten Durchblutungsversuche führten zur Be¬
jahung der Frage. Leucin wird augenscheinlich leichter in Harnstoff um¬
gewandelt wie Glykokoll. Von der dem Blute zugesetzten Asparaginsäure
(2,2 Grm.) wurden 51,49% umgewandelt, die Harnstoffmenge stieg um 71,39° 0 .
Für die klinische Forschung ist in vielen Fällen die Trennung des
Extractiv-N-Stoffes von dem Harnstoff-N von grosser Wichtigkeit,
insoferne letzterer das Mass der vollkommenen Oxydation der Eiweisskörper
bildet; jedoch sind die bisherigen Methoden der Trennung der bezüglichen
stickstoffhältigen Körper im Harn theils umständlich, zeitraubend, theils nicht
präcise genug, so dass die Untersuchungen in der oben angedeuteten Rich¬
tung bisher nur spärlich sind. Ernst Freund und Gustav Töpfer 6 ) theilen
nun eine neue, sehr expeditive Methode der Harnstoffbestimmung im Harne
mit, welche auf die Unlöslichkeit des oxalsauren Harnstoffes in ätherischer
Lösung beruht und welche nach den quantitativen Versuchen der Verfasser
genaue Resultate giebt. Eiweiss oder Zuckergehalt des Harnes beeinflusst
die Genauigkeit dieser Methode nicht. Sie wird in folgender Weise durch¬
geführt: 5 Ccm. normal concentrirter Harn (Doppelbestimmung) werden
unter Zusatz einer gleichen Menge 95%igen Alkohols auf dem Wasserbade
zur Trockne abgedampft, mehrmals mit wasserfreiem, absolutem Alkohol
unter Zerreiben des Niederschlages extrahirt und in ein Kjeldahlkölbchen
filtrirt, der Alkohol im Wasserbade bis auf Spuren abgedunstet und mit
circa 70 Ccm. gesättigter ätherischer Oxalsäurelösung übergossen, der
entstandene Niederschlag absetzen gelassen; die ätherische Lösung kann
über ein Filter vorsichtig abgegossen werden, so dass die Hauptmenge im
Kölbchen verbleibt und in mehreren Portionen mit circa 60—80 Ccm. Aether
gewaschen werden kann. Nach Abdunsten des Filters wird der Inhalt des¬
selben in das Kölbchen gewaschen und die Lösung des Kölbcheninhaltes
zunächst unter Verwendung von Phenolphthalein (zwei Tropfen einer 1° 0 igen
Lösung) bis zu deutlicher Rothfärbung titrirt und nachher der Stickstoff¬
bestimmung nach Kjkldahl unterzogen. 1 Ccm. %-Normalnatronlauge ent¬
spricht 0,015 Grm. Harnstoff. Es wäre noch zu bemerken, dass von Gottlieb
das gleiche Princip zur Bestimmung von Harnstoff in Organen verwendet
wurde.
Adolf Jolles 5a ) berichtet, dass die Resultate der Freund-Töpfer sehen
Harnstoffbestimmung mit jener derPFLüGER schen Methode (Stickstoff im Filtrate
des mit salzsäurehältiger Phosphorwolframsäure versetzten Harnes) genügend
übereinstimmt. Zugleich überzeugte sich Jolles, dass bei der PFLÜGER’schen
Methode das vorgeschriebene 24stündige Stehen des Niederschlages vor dem
Filtriren sich ohne Beeinträchtigung des Resultates auf 4 Stunden reduciren
lässt, wenn man im Anfänge die Flüssigkeit unter wiederholtem Umrühren
auf dem Wasserbade etwa eine Viertelstunde erwärmt und hierauf bei ge¬
wöhnlicher Temperatur stehen lässt. Den Stickstoff selbst bestimmt A. Joli.es
statt nach Kjeldahl mit einem von ihm modificirten Kxouschen Azotometer
durch Zerlegung des Harnstoffes mit Bromlauge.
Die Untersuchungen zur Physiologie und Pathologie der Harn¬
säure bei Säugethieren von 0. Minkowski 6 ) bieten grosses Interesse
namentlich durch die Gründlichkeit, mit welcher die Lösung der zahlreichen
Fragen und gegenteiligen Anschauungen auf diesem Gebiete erstrebt wird.
Zunächst zeigt Minkowski, dass eine synthetische Bildung der Harnsäure
Enrycloi». Jahrbücher. IX.
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Harn.
14 »3
im Organismus des Hundes wahrscheinlich nicht stattfindet. Bei Vögeln
bildet bekanntlich die Leber synthetisch Harnsäure aus zugeführtem Am¬
moniak, Harnstoff etc.; wird die Leber ausgeschaltet, so erscheint milch¬
saures Ammon an Stelle der Harnsäure, eingeführter Harnstoff erscheint als
solcher wieder u. ä. ; nur soviel Harnsäure wird noch ausgeschieden, als dem
Zellkernstoffwechsel des Thieres, also der Oxydation der Purinkörper, ent¬
spricht; zugeführtes Hypoxanthin wird nach den Versuchen Mach's zu Harn¬
säure verbrannt. Minkowski hat nun Hunden grosse Mengen von Harnstoff,
Allantoin und fleischmilchsaures Ammon (aus dem Harn entleberter Gänse
genommen) verfüttert und keine Vermehrung der Harnsäureausscheidurg
gefunden. Bei der Verfütterung von künstlich dargestelltem Hypoxanthin
aber wurde eine Oxydation dieses Körpers beim Menschen zu Harnsäure,
beim Hunde zu Harnsäure und Allantoin beobachtet. Caffein, beim Menschen
versucht, und Adenin, dem Hunde verfüttert, hatten keine derartige
Wirkung. Dieser Unterschied zwischen Mensch und Hund zeigt sich auch
bei der Verfütterung von Thymus oder Nucleinsäure aus Lachssperma (am
Hunde versucht); bei ersterem erscheint die Harnsäure allein vermehrt,
wenn auch nicht dem Xanthinkörpergehalt der Nahrung völlig entsprechend,
bei letzterem erscheint neben der vermehrten Harnsäure auch noch Allan
toin. Minkowski konnte feststellen, dass an Hunde verfüttertes Allantoin
zum grössten Theile, wenn nicht vollständig, im Harne wieder erscheint,
während es beim Menschen sehr leicht zu Harnstoff weiter verbrannt wird,
so dass bei Einnahme von 5 Grm. nicht einmal 1 Grm. in den Harn Über¬
tritt. Es wurden des weiteren Versuche angestellt über den Bestandtheil
des Nucleins, welcher die Vermehrung der Harnsäure hervorbringt. Die aus
dem Lachssperma und aus Thymus abgespaltene Nucleinsäure — der wesent¬
liche und die Xanthinkörper enthaltende Bestandtheil der Nucleine —
brachte deutliche Harnsäure- und Allantoinvermehrung hervor, die daraus
abspaltbaren Xanthinbasen nicht mehr. Diese letzteren lassen sich also nur
zu Harnsäure oxydiren, solange sie sich in organischer Verbindung mit einem
Nucleinsäurerest befinden. Gelegentlich der Verfütterung des Adenins, des
hauptsächlichsten Vertreters der Purinkörper der Thymusdrüse, zeigte sich
neben anderweitiger heftiger Giftwirkung (Erregung des Circulationsappa-
rates, heftigste Entzündung der Magen- und Darm-, besonders der Duodenal¬
schleimhaut) constant die Bildung merkwürdiger Harnsäureablagerungen in
den Harncanälchen der Nieren. Die grösseren Concremente waren kugel¬
förmig strahlig gebaut (Sphaerolithen), die kleineren nadelförmig krystallisirt
oder unregelmässige Körnchen; sie lagen nie in den Glomerulis, sondern
nur in den Canälchen, theils frei im Lumen, theils zwischen, selbst in den
Zellen. Dabei waren Zeichen der Nierenreizung, selbst das ausgeprägte Bild
einer acuten Nephritis vorhanden. Die Concremente bestanden wenigstens
grösstentheils aus Harnsäure. Dabei war aber der Harn selbst auffallend
arm an Harnsäure, in der Regel verdünnt und von neutraler, selbst alkali¬
scher Reaction; andererseits wurde in jenen Fällen, wo nach Thymus- oder
Hypoxanthinfütterung sehr harnsäurereicher Harn durch lange Zeit entleert
wurde, ein ähnlicher Befund nie gemacht. Aehnliche Ablagerung von Harn¬
säure in den Harnwegen wurde beschrieben nach intravenöser oder sub-
cutaner Einführung grösserer Harnsäuremengen bei Kaninchen und bei Ver¬
fütterung derselben an ganz junge Hunde und es zeigte sich immer deut¬
licher, dass die Bildung von Concrementen in der Niere nicht abhängt
von der Menge der anwesenden Harnsäure, der Reaction und
Concentration des Harnes, sondern von anderen, uns vorläufig nicht
bekannten Verhältnissen.
In den Versuchen von Horhaczewsky, aus dem Nuclein der Milzpulpa
und anderer zellreicher Organe durch Fäulniss und nachfolgende Oxydation
Original fro-m
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Harn.
147
Harnsäure darzustellen, sind es die Fäulnissbakterien, welche die Spaltung
und Oxydation des Nucleins beziehungsweise seiner Componenten bewirken.
Spitzer 7 ) gelang es nun, durch Einwirkung von wässerigen Auszügen der
frischen Leber und Milz auf Hypoxanthin und Xanthin unter antibakteriellen
Cautelen (Chloroform oder 2°/ 00 iges Thymol) bei 50° C. und Durchloitung
eines Luftstromes die genannten Xanthinbasen in Harnsäure umzuwandeln.
Er schliesst aus seinen Versuchen, dass in der Leber und Milz Verbin¬
dungen enthalten sind, die die Oxydation der Xanthinkörper in Harnsäure
vermitteln, und möchte annehmen, dass auch im lebenden Organismus Leber
und Milz wesentliche Centren für die Bildung der Harnsäure sind, soweit
dieselbe aus Xanthinkörpern in Betracht kommt. An der darauffolgenden
Discussion betheiligen sich Kühnau (Breslau), Jacoby (Berlin) und Hugo
Wiener (Prag) und theilen Beobachtungen über Bildung und Zersetzung von
Harnsäure unter experimentellen und physiologischen Bedingungen mit.
G. Ascoli 8 ) fand bezüglich der Stellung der Leber im Nuclein-
stoffwechsel, dass mit Harnsäure beladenes Blut beim Durchleiten durch
die überlebende Leber einen guten Theil der Harnsäure verliert, in einem
Versuche entstand dafür eine entsprechende Menge Harnstoff. Er spricht
daher der Leber, als dem zwischen Verdauungstract und dem übrigen
Organismus eingeschalteten Organe, eine bedeutende Rolle bei der normalen
Umwandlung der Harnsäure im Organismus zu und warnt davor, die Aus¬
scheidung dieser Säure im Harn als das Mass ihrer Bildung im Organismus
zu betrachten.
Bei etwa der Hälfte der in den ersten Lebenswochen sterbenden
Kinder zeigen die Nieren die Erscheinungen des Harnsäureinfarktes.
H. Spiegelberg 9 ), der die Ursachen dieser Erscheinung zu erforschen suchte,
weist zunächst darauf hin, dass die Erscheinung bei Thieren nicht vorzu-
zukommen scheint, immerhin wird ein positiver Befund bei einem Aeffchen
mitgetheilt. Der hohe Harnsäuregehalt des Harnes der Neugeborenen —
das Verhältnis von Harnstoff Stickstoff zu Harnsäure-Stickstoff ist hier
74,9 : 7,9 gegen 85 : 2 beim Erwachsenen — ist ja für die Hälfte der Fälle
unschädlich. Spiegelberg hat Hunden verschiedener Altersstufen Harnsäure
subcutan zugeführt; es zeigte sich, dass erwachsene Thiere in viel höherem
Masse die Fähigkeit besitzen, zugeführte Harnsäure zu zerstören als junge,
bei welchen Harnsäuregaben von 0,25 Grm. per Kilo an stets hochgradige
Infarkte erzeugten. Die Ursache dieser mangelnden Fähigkeit ist nicht in
einer geringeren Oxydationskraft der Gewebe zu suchen, denn andere oxy-
dable Körper, ameisensaures und unterschwefligsaures Natron wurden von
jungen Thieren sogar in reichlicherem Masse verbrannt als von erwachsenen;
sie ist auch nicht in einer Verringerung der spaltenden Thätigkeit des Or¬
ganismus zu suchen, denn eingegebene Hippursäure wurde von jungen
Thieren ebenfalls energischer zu Benzoesäure und Glykokoll zerspalten als
von älteren. Besonders auffallend ist es, dass eine vielleicht nur sehr gering¬
fügige Steigerung der Harnsäureausscheidung beim Neugeborenen zu Infarkt
der Nieren führt, während bei Erwachsenen selbst hochgradige Anreiche¬
rung des Harns an Harnsäure dies nicht bewirkt. Diese Thatsache wird
noch unerklärlicher, da nach den Versuchen von Spiegelberg der Harn des
Neugeborenen trotz seiner sauren Reaction und seines relativ geringen Harn¬
stoffgehaltes sogar ein stärkeres Lösungsvermögen für Harnsäure aufweist
als der des Erwachsenen.
Beiträge zur Kenntniss der Harnsäureausscheidung unter physio¬
logischen und pathologischen Verhältnissen theilen Schreiber und Wald¬
vogel 10 ) mit. Bei zwei Candidaten der Medicin, die durch 3 Tage hungerten —
es wurde Sauerbrunnen getrunken —, sank die Harnsäure von 0,477, bezie¬
hungsweise 0,718 Grm. im Tag, bei beiden gleichmässig auf 0,2 Grm. Die
Autoren halten daher die durch den Kernzerfall im Organismus gelieferte
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Harn.
Harnsäuremenge für constant. Fast derselbe niedrige Harnsäurewerth wurde
auch gefunden bei rein vegetabilischer Kost. Von der Gesammtstickstoffaus-
scheidung ist die Harnsäureausscheidung unabhängig: im Hunger z. B. ging
erstere in die Höhe, letztere sank. Bei reiner Fleischkost wurde die Harn¬
säure nicht, wohl aber die Xanthinkörper stark vermehrt gefunden ; es wird
dies auf darniederliegende Oxydation zurückgeführt. Als durch Thyreoidea¬
tabletten in zwei Fällen von Basedow* scher Krankheit und von Adipositas
der Körpereiweisszerfall vermehrt wurde (erschlossen aus der Vermehrung
der Phosphorsäure, des Acetons und der Acidität des Harns), stieg weder
Harnstoff, noch Harnsäure und Xanthinbasen an, obwohl eine bedeutende
Leukocytose auftrat. Auch die Einnahme von Harnstoff, salicylsaurem Natron
und benzoesaurem Natron brachte keine eindeutigen Aenderungen der Aus¬
scheidung zustande. Nach einem Fall mit reichlicher Aufnahme von Speise
und Trank stieg die Harnsäureausscheidung auf 1,035 Grm., wobei dieselbe
spontan aus dem Harn auskrystallisirte. Einige gleichartige Untersuchungen
an Kranken ergaben für einen Knaben mit Chorea etwas niedrigere Werthe
für Harnsäure und Xanthinbasen, als sie bei einem gleichernährten, gleich-
alterigen gesunden Knaben gefunden wurden. Untersuchungen an Diabetikern,
die ausserdem an Gicht- oder B.\SEDOW*scher Krankheit litten, ergaben keine
eindeutigen Resultate.
Schon Wühler giebt an, dass der Genuss von Obstfrüchten die
Harnsäuremengen herabsetze, er wies auch auf eine Kirschen- und Erd-
beerencur gegen Gicht hin. J. Weiss 11 ). der an sich Versuche anstellte,
konnte nach Genuss von Kirschen (l 1 /* Pfund), Erdbeeren (1 Pfund). Trauben
(2 Pfund) ein deutliches Absinken der Harnsäureausscheidung bemerken,
während gleichzeitig Hippursäure im Harne auftrat. Um zu entscheiden,
welcher von den in den Früchten enthaltenen Stoffen diese Wirkung her¬
vorgebracht hatte, wurden Versuche mit weinsaurem Kali, Tannin, Zucker
und Chinasäure vorgenommen. Nur die Chinasäure bewirkte gleichzeitig
mit Steigerung der Hippursäureausscheidung Verminderung der Harnsäure.
Wühler hatte bekanntlich angegeben, dass im Harne saugender Kälber sich
Harnsäure fände, die beim Uebergang zu vegetabilischem Futter der Hippur¬
säure Platz mache; Weiss konnte in einem Versuche diese Angabe nicht
bestätigen. Ein Versuch mit Milchsäure- und mit Glycerinaufnahme, welcher
eine Vermehrung der Harnsäure erwarten Hess, ergab keine Aenderung
der Harnsäureausscheidung.
Nach den Versuchen von 0. Minkowski und Ph. Cohx enthält der
Harn von mit Thymus gefütterten Hunden Allantoin in reichlicher Menge.
Salkowski 12 ) machte dieselbe Beobachtung bei Pankreasfütterung. Es betrug
bei ausschliesslicher Pankreasfütterung eines Hundes die Harnsäureausschei¬
dung fast das Fünffache derjenigen bei Fleischfütterung; auch beim Men¬
schen wird der Genuss von Pankreas zweifellos reichliche Harnsäureaus¬
scheidung verursachen. Pankreas soll zur Bereitung von »Leberwurst« ver¬
wendet werden. Dieses Nahrungsmittel wäre also bei gesteigerter Harn¬
säureausscheidung zu vermeiden.
Sundwik 13 ) erhärtet durch Analysen die von ihm schon früher auf-
gestellte Behauptung (s. Encyclopäd. Jahrb. VIII, pag. 141), dass aus Harn¬
säure durch Reduction mit Chloroform und Natronlauge neben dem schon
früher identificirten Xanthin auch Hypoxanthin entstehe.
Die hohe Bedeutung, welche der Harnsäureproduction und -Ausschei¬
dung bei so vielen pathologischen Processen zukommt, lässt es begreiflich
erscheinen, dass man nach Verfahren sucht, welche die Zeitdauer der bisher
am meisten geübten Harnsäurebestimmungsmethode nach Salkowski Ludwig
abkürzen. In dieser Beziehung schienen zunächst die titrimetrischen Ver¬
fahren nach Hodkixs und die von Folin Aussicht auf Erfolg zu haben.
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Harn.
149
Letztere Methode beruht als eine Modification jener von Hopkins bekannt¬
lich auf der Oxydation der Harnsäure mit einer titrirten Lösung von Per¬
manganat bis zum Bleiben der Rothfärbung. Während mit dieser Methode
bei reinen Harnsäurelösungen genaue Resultate erhalten werden, giebt sie
im Harn nicht constante und zu hohe Werthe. Die Rothfärbung verschwindet
wieder nach einiger Zeit, da die bei der Oxydation der Harnsäure entstan¬
denen Producte weiter oxydirt werden. Eine von Adolf Jolles 14 ) bearbeitete
zuverlässige Methode zur quantitativen Bestimmung der Harnsäure im
Harn gründet sich nun auf die völlige Oxydation der Harnsäure im Harn durch
Permanganat in heisser, saurer Lösung. Hierbei entsteht kein Ammoniak,
sondern ein Molecül Harnsäure zerfällt durch Aufnahme von drei Atomen
Sauerstoff und zwei Molecülen Wasser glatt in zwei Molecüle Harnstoff und
drei Molecüle Kohlensäureanhydrid. J olles berechnet nun aus dem im
oben erwähnten, von ihm modificirten Kxop'schen Azotometer erhaltenen
Stickstoff die Harnsäure. Die Ausführung der Methode ist folgende : In 50
bis 1*00 Grm. Harn werden 5—20 Grm. festes Ammoniumacetat gelöst. Der
mit Ammoniak schwach alkalisch gemachte Harn wird nach 3 Stunden
filtrirt, der Niederschlag mit gesättigter Lösung von Ammoniumcarbonat
chlorfrei gewaschen. Der Niederschlag wird mit heissem Wasser in ein
Becherglas gespritzt und mit Magnesia usta bis zur völligen Entfernung
des Ammoniaks gekocht. Nach Ansäuern mit Schwefelsäure wird in die
kochende Flüssigkeit so lange circa 0.8 u /oige Permanganatlösung gegeben,
bis die Farbe nach V^tündigeni Kochen nicht mehr verschwindet. Nach
Entfärbung mit Oxalsäure wird die abgekühlte Flüssigkeit mit Natronlauge
alkalisch gemacht und der Harnstoff mit Bromlauge nach HPfxer bestimmt.
Hierzu dient das von Jolles modificirte Kxop'sche Azotometer, bezüglich
dessen Beschreibung wir auf das Original verweisen. Dem Apparate, welcher
von Carl Reichert in Wien geliefert wird, wird eine Tabelle beigegeben,
welche die Factoren enthält, mit denen die Zahl der abgelesenen Cubik-
centimeter Stickstoffe zu multipliciren ist, um direct die Milligramme Harn¬
säure pro Liter Harn zu erhalten.
Als einfaches Verfahren zur Bestimmung der Harnsäure giebt E.
WOrxer 15 ) an, die Harnsäure zunächst als Ammoniaksalz auszufällen, das
Ammoniak durch Kochen mit Natronlauge aus dem gesammelten und ge¬
waschenen Niederschlag auszutreiben und im zurückbleibenden harnsauren
Natron den Stickstoff zu bestimmen. Es werden zu dem Behufe 150 Ccm.
eiweissfreier Harn in einem Becherglase auf 40—50° erwärmt und darin
:-)0 Grm. Ammoniumchlorid gelöst, der entstandene Niederschlag nach l / 2 bis
Istündigem Stehen filtrirt, mit 10° 0 iger Ammonsulfatlösung chlorfrei ge¬
waschen und auf dem Filter in 1—2°/ 0 iger Natronlauge gelöst, die Lösung
sammt Waschwassern wird in einer Porzellanschale durch Kochen vom
Ammoniak befreit, alsdann nach Kjeldahl zersetzt und das entstandene
Ammoniak titrirt. 1 Ccm. Y^-Normal-Schwefelsäure entspricht 0,0042 Grm.
Harnsäure.
Das grosse Interesse, welches dem Auftreten der Alloxurbasen (von
denen nur drei, Coffein, Theobromin und Theophyllin, ausschliesslich dem
Pflanzenreiche anzugehören scheinen) im Harn entgegengebracht wird, regten
M. KrOger und G. Salomon 10 ) an, ihre schon früher an 10.000 Liter Harn
in dieser Richtung begonnenen Untersuchungen dahin auszudehnen, um auch
die Frage zu beantworten, welche Alloxurbasen im Harn mit Sicherheit
vorhanden sind, wobei sie auch eine neue Methode der Trennung dieser
Basen von einander angeben. Es wurden dabei folgende Alloxurbasen im Harn
gefunden: Xanthin, Heteroxanthin (= 7-Methylxanthin), 1-Methylxanthin.
Paraxanthin (= 3—7. Dimethylxanthin), ferner Hypoxanthin, Adenin (= Amido-
hypoxanthin) und Epiguanin. Dazu kommt dann noch das von P. Balke im
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150
Harn.
Menschenharn aufgefundene, vielleicht mit dem Epiguanin identische Episarkin
und das Guanin, das im Schweineharn Vorkommen kann, beim Menschen
aber trotz der gegenteiligen Meinung von Pouchet wahrscheinlich nicht
vorkommt.
In einer II. Mittheilung berichten M. Krüger und G. Salomon 17 ) über
die Ergebnisse der fortgesetzten Untersuchungen in dieser Frage. Sie er¬
hielten aus 10.000 Liter Harn: 10,11 Grm. Xanthin, 22,345 Grm. Hetero¬
xanthin, 31,285 Grm. 1-Methylxanthin, 13,31 Grm. Paraxanthin, 8,5 Grm.
Hypoxanthin, 3,54 Grm. Adenin, 3,4 Grm. Epiguanin. Guanin, Carnin und
Episarkin (dieses letztere vielleicht identisch mit Epiguanin) wurden nicht
gefunden. Schuld daran trägt vielleicht (die Yerff. glauben aber, dass sie
überhaupt nicht im Harne Vorkommen) das angewandte, bisher allgemein
übliche Neubauer sehe Verfahren, bei welchem die Silberverbindungen der
Basen aus heisser Salpetersäure umkrystallisirt werden, dabei wird Carnin
in Hypoxanthin, Guanin in Xanthin verwandelt. Deswegen und aus anderen
gewichtigen Gründen schlagen die Verff. ein neues Verfahren zur Abschei¬
dung der Xanthinbasen vor. Die Silber- oder Kupferniederschläge der
Xanthinbasen werden mit Salzsäure oder Schwefelwasserstoff zerlegt, die
abfiltrirte Flüssigkeit wird mit Wasser digerirt, wobei die schon bisher als
Xanthinfraction bezeichneten Basen mit Ausnahme des Paraxanthins unge¬
löst Zurückbleiben; die Hypoxanthinfraction löst sich. Die einzelnen Körper
können dann nach den im Original geschilderten Methoden isolirt werden.
Para-, Hetero- und 1-Methylxanthin bilden, wie man sieht, die Hauptmenge
der im Harn vorkommenden Purin- (Alloxur-) Körper, treten aber beim
Zerfall der Nucleine höchstens in unbedeutender Menge auf und Krüger
und Salomon schliessen sich darum der Ansicht an, dass gerade diese
Körper von den methylirten Xanthinen (Coffein, Theobromin etc.) der Nah-
rungs- und besonders der Genussmittel abstammen. Die klinische Bedeutung
der Bestimmung der Purinkörper im Harn wird damit wieder um ein gutes
Stück verringert. In einer nachfolgenden Arbeit: »Das Epiguanin« stellen
die Verff. dann noch die Constitution des genannten Körpers als 7-Methyl-
guanin fest.
Ein interessantes Beispiel des verschiedenen Verhaltens einer in ihrer
chemischen Constitution bekannten Substanz in verschiedenen Thierorga¬
nismen zeigen die Untersuchungen von Manfredi Albanese. 18 ) Diese er¬
gaben, dass sich Coffein (1—3—7 Trimethyl, 2—6 Dioxypurin) im Orga¬
nismus des Menschen, des Hundes und des Kaninchens verschieden verhält,
während das Kaninchen nach Coffeineingabe Xanthin ausscheidet, scheidet
der Hund ein Monomethylxanthin aus, welches identisch ist mit dem von
E. Fischer und Ach synthetisch dargestellten 3 -Methylxanthin, der Mensch
wieder bildet aus Coffein ein Dimethylxanthin, das wahrscheinlich 1,3 Me¬
thylxanthin oder Theophyllin ist.
Ueber das Ausscheidungsverhältniss der Alloxurkörper bei
Nephritis hat Charles F. Martin 1ö ) in 7 Fällen von Nephritis verschie¬
dener Form (acute, chronisch-parenchymatöse, Schrumpfniere etc.) Beob¬
achtungen ausgeführt. Die Alloxurbasen wurden direct als Silbersalz nach
Salkowski, die Harnsäure nach Ludwig und der Gesammtstickstoff nach
K.ieldahl bestimmt. Coffeinhaltige Nahrungsmittel sind strengstens vermieden
worden. Therapeutische Eingriffe medicamentöser oder physikalischer Art
(Bäder) w r urden unterlassen. Die Zahlenresultate sind in Tabellen geordnet.
Als physiologische Vergleichsweise zieht Ch. F. Martin blos die von Sal¬
kowski und seinen Schülern Flatow-Reitzenstein ermittelten Zahlen heran,
welche übrigens mit früher von Stadthagen gefundenen 24stünd. Ausscbeidungs-
niengen ziemlich gut übereinstimmen (27,2—55,1 Mgrm. pro die). Nach am
Laboratorium der Klinik des Prof. Kraus in Graz gemachten Erfahrungen
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Harn.
151
kann der betreffende Werth noch etwas nach oben überschritten werden.
Jedenfalls sind schon unter normalen Bedingungen die Unterschiede der
Alloxurbasenausscheidung relativ bedeutende und mahnen zu entsprechender
Vorsicht in der Beurtheilung pathologischer Zahlen. Das Verhältniss zwischen
Alloxurbasen und Harnsäure im normalen Urin beträgt nach Salkowski
1 : 10,2—1 : 27,1; die Relation Basen Stickstoff zu Harnsäurestickstoff ist
demnach 1 : 8,8—1 : 25, nach Flatow-Reitzenstein 1 : 10—1 : 32,6, meist sich
bewegend zwischen 1 : 14 und 1 : 22. In sechs der vom Verf. untersuchten
Fälle von Nephritis beträgt die tägliche Ausscheidungsgrösse von Alloxurbasen
13,6—47 Mgrm. Die für jeden einzelnen Kranken aus sämmtlichen Untersuchungs¬
tagen zu berechnenden Mittelwerthe sind: Fall I 0,0352 Grm., Fall II 0,0367 Grm.,
Fall III 0,0227 Grm., Fall V 0,0172 Grm., Fall VI 0,0337 Grm., Fall VII
o,0337 Grm. Die Werthe sind also von Fall zu Fall bedeutend verschieden und
können auch beim einzelnen Kranken von einem Tag zum anderen unab¬
hängig von der Harnwassersecretion relativ stark wechseln. Verglichen mit
den vorliegenden Normalzahlen, sind die gefundenen keineswegs abnorm
hoch zu nennen; liegen doch nur einzelne derselben nahe den bisher fest¬
gesetzten oberen physiologischen Grenzen. Das aus den Durchschnittswerthen
der verschiedenen Versuchspersonen berechnete Mittel würde 23,9 Mgrm.
betragen. Von einer absoluten Vermehrung der Alloxurbasen in der Tages¬
menge Urin kann also bei keinem dieser Fälle von Nephritis die Rede sein.
Die absoluten Werthe der Harnsäure schwanken, ebenfalls unter vorläufigem
Verzicht auf Fall IV, zwischen 0,2 und 0,567 Grm. Die für jeden Einzelfall
berechneten Durchschnittswertbe der täglich ausgeschiedenen Harnsäure¬
menge betragen in Fall I 0,289 Grm., Fall II 0,445 Grm., Fall III 0,286 Grm.,
Fall V 0,303 Grm., Fall VI 0,395, Fall VII 0,395. Mittel aus sämmtlichen
Zahlen: 0,358 Grm.
An den verschiedenen Versuchstagen entsprechen die Harnsäurewerthe
in einem Falle immer, bei den anderen wenigstens öfters vollständig der
Norm. Vielfach stosst man allerdings auf absolut geringe Beiträge. Wird
aber im gegebenen Falle auch die Harnsäure in absolut kleiner Menge aus¬
geschieden, macht sie doch beim Nephritiker ebenso wie beim Gesunden
den grössten Theil sämmtlicher Alloxurkörper aus, indem sie 79,5—96%
(durchschnittlich 91%) derselben beträgt. Die Gesammtmenge der pro die
durchschnittlich ausgeschiedenen Alloxurkörper kann also eine niedrige, die
Relation Alloxurbasen zu Harnsäure (beziehungsweise Basenstickstoff zu
Harnsäurestickstoff) braucht nicht wesentlich gegenüber der Norm ver¬
schieden zu sein. An gewissen Versuchstagen erscheint allerdings das frag¬
liche Verhältniss näher zusammengerückt, z. B. auf 1 : 4,2, 1 : 7,3. Am auf¬
fälligsten tritt dieser Umstand bei dem sub IV geführten Patienten mit
Schrumpfniere hervor. Einem relativ kleinen Harnsäurewerth entspricht hier
die höchste, von Ch. F. Martin überhaupt beobachtete Alloxurbasenausschei¬
dung. Dieselbe beträgt 0,0811 Grm., ist also fast doppelt so gross als
Salkowski's Normalzahlen, und auch weit grösser, als die im obgenannten
Laboratorium sonst constatirten physiologischen Werthe. Die Grösse der
Basenexcretion stellte sich in diesem Falle jener der Harnsäure nahezu
gleich. Auch der bereits erwähnte grosse Wechsel der Menge der Alloxur¬
basen an verschiedenen Untersuchungstagen kommt natürlich in einem be¬
deutenden Schwanken des Verhältnisses von Basen zu Harnsäure zum Aus¬
druck, wodurch die Beurtheilung einzelner Untersuchungen erschwert wird;
so betrug diese Verhältnisszahl in Fall I am 1. Tage 1 : 4,2, am 3. Tage
1 : 13; in Fall V einmal 1 : 11,4, ein anderesmal 1:26 etc. Ein wirkliches
Ueberwiegen des Basenstickstoffs über den Harnsäurestickstoff (Kolisch)
konnte aber keinmal festgestellt werden. Solche Befunde dürften doch wohl
nur auf der fehlerhaften, zu grosse Zahlen des Basenstickstoffs gebenden
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Harn.
152
Kk( geh-Wulff sehen Methode beruhen. Da die Ursachen der physiologischen
Verschiedenheiten der Alloxurbasenausscheidung nicht näher bekannt sind,
muss auch auf einen Erklärungsversuch der beim Nephritiker vorhandenen
Schwankungen verzichtet werden. Ausser einer gelegentlichen, wie es scheint
höchstens ausnahmsweisen Mehrausscheidung derselben oder aus einem
Engerwerden der Harnsäure-Basenrelation Schlüsse auf die Fähigkeit der
Niere zur Harnsäureprägung zu ziehen, wird kaum angehen. Endlich wird
darauf hingewiesen, dass der procentische Gehalt des Nephritikerharns an
Harnsäure häufig recht gross ist. Würde thatsächlich, wie Kolisch meint,
die Harnsäurebildung in der Niere infolge ihrer Entzündung darniederliegen
und die Ausscheidungsgrösse derselben ein directes Mass hierfür abgeben,
so könnte erwartet werden, dass nicht nur der 24stündige Gesammtharn,
sondern auch jeder einzelne Theil desselben weniger Harnsäure enthalte.
Diese Voraussetzung trifft aber keineswegs zu, vielmehr ist der procentische
Harnsäurewerth im eiweisshaltigen Urin vielfach recht gross. Besonders
lehrreich sind nach dieser Richtung zwei Fälle von sogenannter intermit-
tirender Albuminurie gewesen. Der Ruheharn war bei diesen beiden, seit
Jahren in Beobachtung stehenden Personen vollständig oder bis auf kleinste
Spuren frei von Eiweiss, während nach mässiger Bewegung regelmässig
Albuminurie auftrat. Dabei zeigten die eiweisshaltigen Harnportionen immer
ein Uratsediment. Die quantitative Untersuchung auf Harnsäure ergab nun
bei einem dieser Fälle im eiweissfreien (Nacht-)Harn 0,0060 Grm., in der
eiweisshaltigen Harnportion vom Nachmittag (nach einem kleinen Spazier¬
gang) 0,0803 Grm. Harnsäure in 100 Ccm., bei dem zweiten 0,0558% im
Ruheharn und 0,0698% im eiweisshaltigen, nach leichter Bewegung ge¬
lassenen Urin. Unter Bedingungen also, welche diese Nieren nach Massgabe
der Eiweissabscheidung erkennbar schädigten, war die Bildung, beziehungs¬
weise die Excretion der Harnsäure nicht beeinträchtigt.
Für das Vorkommen der familiären Cystinurie liefert einen Beitrag
J. Cohn 20 ), der bei einem 7jährigen Mädchen einen Cystinstein durch Sectio
alta entfernte. Im Harn der Kranken fielen die Diaminproben negativ aus.
Von 10 untersuchten Mitgliedern der Familie wurde bei sieben Cystin ge¬
funden, aber auch bei diesen fiel die Untersuchung auf Diamine negativ
aus, so dass die Infectionstheorie für die Entstehung des Cystins in diesem
Falle keineswegs geltend gemacht werden kann, ebensowenig wie bei der
von Baumann untersuchten Pfeiffer sehen Cystinfamilie.
Prof. Eriuh Harnack 21 ) theilt eine in Gemeinschaft mit Cand. med. Else
von der Leyen gemachte Beobachtung mit, dass eine subcutane Injection von
circa 0,1 neutralem Natriumoxalat beim Hunde mit gemischter Kost Indicanurie
erzeugt, dass also Oxalsäure selbst in ungiftiger Dosis Indicanurie
erzeugt, eine Thatsache, die Harnack dem Phloridzindiabetes an die Seite
stellt. Zu den bezüglichen Thierversuchen wurde Harnack durch einen Fall von
schwerer, jedoch nicht tödtlicher Sauerkleesalzvergiftung beim Menschen an¬
geregt. Der Harn enthielt noch drei Wochen nach der Vergiftung viel Kalkoxalat
als Sediment und gab eine auffallend starke Indicanreaction. Die Verff. halten
es nach ihren Thierversuchen und nach den in dieser Frage verwerthbaren
Literaturangaben für wahrscheinlich, dass die durch Oxalsäure erzeugte In¬
dicanurie nicht auf einer Darm-, sondern auf einer Gewebs-, beziehungsweise
Stoffwechselwirkung beruht. In einem »Nachtrag« wird mitgetheilt, dass die
zur Erzeugung der Indicanurie erforderlichen Dosen individuellen Schwan¬
kungen unterliegen, und dass der Erfolg in einem Theil der Fälle erst ver¬
zögert als Nachwirkung zutage tritt, dann aber ungemein stark und an¬
haltend sein kann, ein Umstand, der auch nicht für eine Darmwirkung spricht.
Zur Entscheidung der Frage, ob die Oxalsäure ein Product des Stoff¬
wechsels ist oder nur einen mit der Nahrung eingeführten Körper darstellt.
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der zum Theil im Harn wieder ausgeschieden wird, führte Hugo Lüthje 2 ’ 2 )
Versuche an Hunden aus. Im Harn eines hungernden Hundes wurden Oxal¬
säure vom 12. Hungertage an zu 7—9 Mgrm. gefunden; Zufuhr von reinem
Fleisch, von Fett oder von Traubenzucker änderte den Befund nicht auf¬
fallend. Die Oxalsäure ist also ein Product des Stoffwechsels, nicht ein Derivat
der Nahrung, speciell nicht der Kohlenhydrate. Die Versuche am Menschen
durch Thymus- und Nucleinfütterung, die Harnsäurebildung zu vermehren
und dann die beim weiteren Zerfall derselben etwa entstehende Oxalsäure
im Harn aufzusuchen, führte nur zu unsicheren Resultaten, jedenfalls nicht
zu einer Bestätigung der häufig geäusserten Ansicht, dass die Oxalsäure
eines der weiteren Abbauproducte der Harnsäure (über Oxalursäure) darstelle.
Eine neue Reaction zum Nachweis der Acetessigsäure im
Harn theilt Arnold 2S ) mit. Man bedarf für dieselbe zweier Lösungen:
a) Paramidoacetophenon; 1 Grm. wird in 80—100 Ccm. destillirten Wassers
mit Hilfe von tropfenweise zugesetzter Salzsäure unter starkem Schütteln
gelöst. Man setzt dann noch so viel concentrirte Salzsäure tropfenweise
hinzu, bis die anfangs gelbe Lösung fast wasserklar geworden ist (ein
Ueberschuss von Salzsäure soll vermieden werden), b) l%ige Lösung von
Natrium nitrosum. a und b sind haltbar. Man mischt 2 Theile a mit 1 Theil b.
Zum Reagens giebt man gleichviel oder mehr des zu untersuchenden Harns
und setzt unter Schütteln 2—3 Tropfen starken Ammoniaks hinzu. Alle
Harne werden jetzt braunroth. Auf 1 Ccm. des rothbraunen Harns bringt
man im Spitzglas 10—12 Ccm. concentrirte Salzsäure: ist Acetessigsäure im
Harn, so färbt sich diese Mischung prachtvoll purpurviolett. Die Reaction
ist eine Diazoreaction, welche nur bei Gegenwart von Acetessigsäure in der
geschilderten Weise verläuft.
Für den Nachweis von Aceton im Harn hat Oppenheimer 24 ) indem
sauren Mercurisulfat ein bequemes, sicheres und empfindliches Mittel ge¬
funden; auch im Blut gelingt der Nachweis; man braucht nur geringe
Quantitäten Blut, etwa 3 Ccm. Man bereitet das Reagens, indem man
200 Ccm. concentrirte Schwefelsäure in 1000 Ccm. destillirtes Wasser giesst,
dann 50 Ccm. gelbes Quecksilberoxyd (via humida paratum) hinzufügt, nach
24stündigem Stehenlassen filtrirt. Nachdem man durch tropfenweises Zu¬
thun des Reagens zu circa 3 Ccm. Harn die fällbaren Substanzen , wie Ei-
weiss, Harnsäure, Kreatinin gefällt und durch ein dickes Filter filtrirt hat,
setzt man noch 2 Ccm. Reagens und 3—4 Ccm. 30%ige Schwefelsäure zu
und erhitzt dann bis zu 4 Minuten; je nach der Quantität des vorhandenen
Acetons tritt früher oder später eine starke oder schwächere Trübung ein;
der Niederschlag löst sich in überschüssiger Salzsäure bis auf eine geringe
Trübung. Zwei Punkte sind bei Anstellung der Probe genau zu beachten,
damit Täuschungen vermieden werden: 1. fällt der Niederschlag nur in sehr
verdünnten Lösungen durch einen grossen Ueberschuss von Reagens; 2. tritt
häufig auch bei acetonfreien Harnen beim Erwärmen nach dem Filtriren
wieder eine Trübung auf, die mit einer partiellen Reduction des Mercuri-
sulfats zu Mercurosalz einhergeht. Diese Trübung lässt sich sicher ver¬
meiden, indem man nochmals mit 30%i& er Schwefelsäure stark ansäuert.
Uebrigens giebt Acetessigsäure die Probe mit derselben Intensität.
Karl Neuberg 25 ) überzeugte sich durch Versuche, dass bei der Phenol¬
bestimmung im Harn nach der Methode von Kossler und Penny (Destil-
liren des mit Schwefelsäure angesäuerten Harns) im Destillate ausser Phenol
noch andere jodbindende Stoffe, Aldehyde und ketonartige Körper, Vor¬
kommen, die namentlich von der Zersetzung der Kohlehydrate und der im
normalen Harn nie fehlenden Glykuronsäure herrühren. Es lassen sich also
die Phenole direct im Destillate des Harns nicht nachweisen und die von
Strasser bei Diabetes gefundenen Phenolmengen sind zu hoch. Neuberg em-
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Harn.
pfiehit daher ein neues Verfahren zur quantitativen Bestimmung des Phenols
im Harn. Es werden zunächst nach dem Verfahren von Kossler und Penny
die Phenole aus dem Harn abgetrieben, das Destillat wird zur Entfernung
von salpetriger Säure und Ameisensäure über Calciumcarbonat rectificirt
und dann zur Abscheidung der Aldehyde und ketonartigen Körper in fol¬
gender Weise behandelt: In einem Zweiliterkolben wird das Gemenge der
Phenole und der durch die Destillation aus den Kohlehydraten entstandenen
jodbindenden Producte mit einem grossen Ueberschuss von lufttrockenem,
hydratischem Bleioxyd (3 Grm.), das mit Barytlösung aus Bleinitrat frisch
zu fällen ist, und 5 Ccm. einer concentrirten Lösung von basischem Blei¬
acetat oder, statt beider, mit einer Auflösung von 1 Grm. Aetznatron und
6 Grm. festem Bleizucker versetzt und etwa 15 Minuten auf einem lebhaft
siedenden Wasserbad erhitzt. Hierbei löst sich ein Theil des Bleioxyds in
den Phenolen zu basischen Bleiphenolaten, während die leicht flüchtigen
Aldehyde entweichen. Zur vollständigen Entfernung der letzteren erhitzt
man den Kolbeninhalt noch kurze Zeit am absteigenden Kühler auf freier
Flamme, bis wenige Cubikcentimeter des übergehenden Destillats ammonia-
kalisch-alkalische Silberlösung nicht mehr reduciren, was gewöhnlich nach
etwa 5 Minuten der Fall ist. Ein unnöthiges langes Erhitzen ist zu ver¬
meiden, da bei anhaltender Erwärmung die Bleiphenolate in ihre Compo-
nenten zerfallen. Man säuert nun den Kolbeninhalt stark mit verdünnter
Schwefelsäure an und destillirt die Phenole unter zweimaliger Ergänzung
der Flüssigkeitsmenge durch Wasser ab. Das Destillat wird nun wieder
nach den Angaben von Kossler und Penny behandelt, d. h. mit Alkali über¬
sättigt und nach dem Erwärmen auf dem Wasserbad in einer grossen
Stöpselflasche sogleich mit % 0 -Normaljodlösung im Ueberschuss versetzt,
der in der Kälte nach dem Ansäuern mit 1 10 Thiosulfat zurücktitrirt wird.
Als Mittelwerth fand Neuberg durch diese Methode für die Höhe der täg¬
lichen Phenolausscheidung 0,0332 Grm. Ein Diabetesharn mit 1.5% Zucker
zeigte für die 24stündige Urinmenge von 1600 Ccm. einen Phenolgehalt von
0.0368 Grm. Diese Zahlen nähern sich nun ausserordentlich dem von I. Munk
auf gewichtsanalytischem Wege gefundenen Mittelwerth von 0,0270 Grm.
Fritz Oberm.wer- 6 ) und Eyvin Waxg 27 ) haben unabhängig voneinander
fast die gleiche Methode der Indikanbestimmung vorgeschlagen. Der Harn (nach
Obermayer nur 10 — 50, nach Waxg bis 300 Ccm.) wird mit essigsaurem
Blei unter Vermeidung eines Ueberschusses gefällt und filtrirt. Ein aliquoter
Theil des Filtrates wird (nach Obermayer auf 50 Ccm. aufgefüllt) mit dem
gleichen Volum des Obermayer sehen Reagens (concentrirte Salzsäure,
die circa 2 Grm. Eisenchlorid im Liter enthält) versetzt, und nach 10 bis
15 Minten langem Stehen wird das gebildete Indigo mit je 25 Ccm. Chloro¬
form so oft ausgeschüttelt, bis es sich nicht mehr blau gefärbt zeigt.
Die Chloroformlösung wird abgedampft. Während nun Wang das im Destil¬
lationskölbchen zurückbleibende (vom Chloroform vollständig befreite) Indigo
sofort mit concentrirter Schwefelsäure löst, behandelt Obermayer den in
einer Schale fest haftenden Chloroformrückstand mehrmals mit warmem
40—50%igen Alkohol, um ihm Verunreinigungen, speciell den röthlichbraunen
Farbstoff, der bei der Indikanreaction, wenn viel Harn verwendet wird,
stets entsteht, zu entziehen und löst dann ebenfalls den Indigo mit 5 Ccm.
concentrirter Schwefelsäure. Die Schwefelsäurelösung wird dann noch warm
in Wasser eingegossen und auf ein bestimmtes Volum gebracht (nach der
Methode von Wang bilden sich nun manchmal rothbraune Flocken, die ab-
filtrirt werden müssen). Ein aliquoter Theil dieser blauen Lösung wird mit
Lösung von übermangansaurem Kali bei 50—80° titrirt, bis die blaue Farbe
verschwindet und die Flüssigkeit farblos oder gelblich — nicht roth er¬
scheint. Obermayer titrirt mit einer Lösung, die 0,0256 Grm. KMn 0 4 im
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Harn.
155
Liter enthält und von der 1 Ccm. = 0.05 Mgrm. Indigo entspricht, wenn
zur Titration nicht weniger als 2 und nicht mehr als 8 Ccm Permanganat
verbraucht wurden. Wang bewahrt das Permanganat als concentrirte Lösung
(circa 3 Grm. im Liter) auf, verdünnt halbweise 5 Ccm. auf 200 Ccm., stellt
die Lösung auf Oxalsäure und findet die Indigomenge durch Multiplication
des Oxalsäurewerthes der Titerlösung mit 1,04. Die genauesten Resultate
werden auch hier beim Verbrauch von 10—15 Ccm. der Permanganatlösung
erzielt.
In einer späteren Arbeit erklärt E. Wang 28 ), bezugnehmend auf seine
früheren Auseinandersetzungen mit Obermaykr 29 ), dass auch das von letzterem
vorgeschlagene Reinigungsverfahren für das aus dem Harn dargestellte
Indigoblau nicht ausreiche, und schlägt seinerseits vor, den Abdampfrück¬
stand von der Chloroformlösung mit Alkoholäther auszuwaschen, das zurück¬
bleibende Indigoblau mit Chloroform nochmals aufzunehmen, zu verdampfen
und nun erst mit Schwefelsäure zu lösen und mit Permanganat zu titriren.
Demgegenüber bemerkt Jacob Bocma 30 ), dass durch diese Reinigungs¬
verfahren die gefundenen Werthe zwar um 30% herabgedrückt würden,
dass aber die weggewaschenen Farbstoffe Abkömmlinge des Indikans seien,
gerade so wie das Indigoblau. Wird die Reaction bei niedriger Temperatur
ausgeführt, so entsteht viel mehr Indigoroth, bei 50° fast nur Indigoblau.
Aus den Abdampfrückständen der Chloroformausschüttelungen lässt sich
durch Aether fast reines Indigoroth, dann durch Alkohol Indigobraun, end¬
lich durch Chloroform Indigoblau in Lösung bringen, indes ergab sich die
Identität dieser Farbstoffe mit den aus dem pflanzlichen Indikan bei der
Oxydation Entstehenden. Bouma empfiehlt daher, die genannten Auswaschungs¬
methoden bei der Indikanbestimmung im Harn nicht anzuwenden. Wang 31 )
jedoch hält auf Grund der Löslichkeitsverhältnisse die in Frage stehenden
braunen Farbstoffe nicht für Abkömmlinge des Indikans oder für verändertes
Indigo. Er stellt fest, dass die aus demselben Harn erhältlichen Mengen
von Indigoblau trotz verschiedener Anordnung des Versuches constant waren,
und dass die Menge der entstehenden rothbraunen Farbstoffe von der Art
der Nahrung abhängig ist (Fleischnahrung vermindert sie erheblich). Da
ferner das Chloroform ausser Indigo noch Benzoesäure, Phenole (aus ge¬
spaltener Hippursäure und Aetherschwefelsäuren des Harns) und aromatische
Oxysäuren enthalten muss, hält Wang die Waschung des Chloroformrück¬
standes doch für nothwendig.
Die intermittirende Albuminurie der Adolescenten studirte Pri-
bram 33 ) an 15 diesbezüglichen Fällen. Als urologisch wichtige Resultate
ergaben sich: Im centrifugirten Harn waren morphotische Elemente der
Nieren niemals vorhanden; die Albuminurie (bis zu 1 °/oo) trat nur bei auf¬
rechter Stellung und körperlicher Bewegung ein, kam plötzlich und schwand
rasch, war nie im Morgenharn nachweisbar. In den Stunden der Albuminurie
war das specifische Gewicht des Harnes sehr hoch. Ausser Albumen war
auch stets mucinoide Substanz (Nucleoalbumin ?) im Harn vorhanden. Bei
Versetzen des Harnes mit Esbachs Reagens entstand ausser der flockigen
Eiweissfällung auch eine krystallinische Ausscheidung von Kalium- und
Natriumpikrat; Neigung zur Albuminurie und zur Krystallbildung (vermehrte
Ausscheidung von Kalium- und Natriumsalzen) traten bei wachsenden Indi¬
viduen cyklisch auf in den Zeiträumen rascheren Längenwachsthums des
Körpers, besonders der distalen Knochen neben chlorotischen Erscheinungen.
Mit dem Langsamerwerden des Körperwachsthums schwand die Neigung
zur Albuminurie, auch bei starken Bewegungen — ebenso unter Liegen —
und Mastcur bei vielen Fällen dauernd.
Zum Nachweis von Eiweiss im Harn empfiehlt Casimir Stry-
zowski 33 ) die Persulfate, namentlich Ammoniumpersulfat (XHJ. S 2 O b , farb-
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Harn.
lose, in Wasser trübe, lösliche Krystalle (die Lösung entwickelt beim Er¬
wärmen Sauerstoff, wobei sich das obige Salz in saures Ammoniumsulfat
und Sauerstoff zerlegt). Die Lösung ist daher zur folgenden Reaction nur
kalt zu verwenden. Man unterschichtet den Harn, er mag sauer oder alka¬
lisch sein, wie bei der HELLER'schen Probe mittels einer Pipette mit 10° 0 iger
Lösung von Ammoniumpersulfat. Eiweiss in Verdünnungen bis zu 1 : lÜÜ.OOu
lässt dann einen w r eissgrauen Ring entstehen, bei gleichzeitiger Gegenwart
von Gallenfarbstoffen ist derselbe grün. Peptone und Urate sollen keine
trügerischen Ausscheidungen ergeben. Die coagulirende Wirkung der Per¬
sulfate kommt ausschliesslich dem frei werdenden Sauerstoff zu.
Ueber das Vorkommen der Albumosen im Harn hat Aldor 34 ) neuer¬
dings Untersuchungen bei sehr verschiedenen Krankheiten vorgenommen,
welche ihn zu einer Kritik der verschiedenen Formen der Albumosurie
führen. Er möchte die sogenannte enterogene Albumosurie, die von
manchen Autoren in der Weise aufgefasst wurde, dass bei Läsionen des
Magendarmtractus, wie bei Typhus und anderen Geschwüren, das Pepton
nicht ausgenützt, sondern in die Blutbahn übergeführt und durch den Harn
ausgeschieden werde, nicht annehmen. Er hält die Albumosurie eher für
die Folge des gleichzeitigen Fiebers, welches hierfür häufig als ätiologisches
Moment in Betracht komme. Der Grund für die Verschiedenheit der An
sichten über das Vorkommen und die Entstehung der Affection liegt nach
Aldor in der Unzuverlässigkeit der Untersuchungsmethoden. Er fand nnn
in dem absoluten Alkohol ein zuverlässiges Mittel, um die Farbstoffe, die
vornehmlich zu Täuschungen Veranlassung geben, besonders das Urobilin,
zu eliminiren: Der mit Salzsäure angesäuerte Harn wird solange mit 5° 0
Phosphorwolframsäure versetzt, bis alle fällbaren Substanzen gefällt sind;
der Niederschlag wird so oft centrifugirt und mit absolutem Alkohol geschüttelt,
bis Alkohol und Sediment farblos bleiben; letzteres wird dann in etwas
Wasser gelöst, mit concentrirter Natronlauge versetzt, worauf eine blaue
Verfärbung entsteht, die übrigens durch Schütteln mit der Luft verschwindet ;
sodann kommt zu der farblosen Lösung Cuprum sulfuricum; als positiv
wird das Resultat nur betrachtet, wenn ein schönes Rosa zustande kommt.
Ist Eiweiss im Urin vorhanden, so muss dieses erst ausgefällt werden, und
zwar empfiehlt Arnold dazu die 15%ige Trichloressigsäure. Auf Grund
seiner mit dieser Probe angestellten Untersuchungen glaubt Arnold eine
febrile und eine histo- oder helkogene Form der Albumosurie feststellen
zu können; dieselbe stellt anscheinend eine Stoffwechselanomalie dar, her¬
vorgerufen durch gesteigerten Eiweisszerfall.
Der Nachweis des von den Albumosen wesentlich verschiedenen Nucleo-
histons dürfte namentlich bei Eiterungsprocessen, also bei der sogenannten
»pyogenen Histonurie«, von Interesse sein; Adolf Jolles 36 ) empfiehlt zum
Nachweis von Histonen im Harne folgende Methode: 50—100 Ccm. des
ei weissfreien Harns werden mit 4% Essigsäure angesäuert, dann mit etwas
Chlorbariumlösung (10%) versetzt, bis keine Trübung mehr entsteht, und
man rührt fleissig um. Der Niederschlag setzt sich bei dieser Behandlung rasch
zu Boden, wird dann auf dem Filter gesammelt (ohne auszuwaschen) und
sammt dem Filter mit 10 Ccm. einer l%igen Salzsäure übergossen, mehrere
Stunden hingestellt. Hierauf versetzt man, um eventuell vorhandenes Chlor-
baryum auszufällen, mit festem Natriumcarbonat bis Lackmuspapier Blau¬
färbung zeigt, und filtrirt ab. Vom Filtrat wdrd ein Theil mit Kalilauge
und Kupfersulfat auf Biuretreaction geprüft, ein anderer Theil wird vor¬
sichtig angesäuert und mit Ammoniak das Histon als Niederschlag oder
Trübung ausgefällt. Bei eiweisshaltigen Harnen ist die Enteiweissung mittels
essigsauren Natrons und Eisenchlorid in der Wärme nicht thunlich, w^eil
hierbei das Nucleohiston zum grössten Theile niedergeschlagen w r ird. Es
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Harn.
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empfiehlt sich, eiweisshältige Harne statt mit Chlorbarium mit Kieselguhr
zu versetzen, um den durch verdünnte Essigsäure hervorgerufenen Nieder¬
schlag nach dem Schütteln mit Kieselpulver besser zum Absetzen zu bringen.
Niederschlag sammt Filter behandelt man hierauf mehrere Stunden mit
l%iger Salzsäure und filtrirt. Das Filtrat wird mit Ammoniak versetzt, wo¬
bei neben mineralischen Substanzen auch das eventuell vorhandene Histon
ausfällt. Der Niederschlag wird auf dem Filter gesammelt, dann in Essig¬
säure gelöst und in dieser Lösung das Histon durch die Biuretreaction und
eventuell Coagulation in der Hitze nachgewiesen. Jolles fand in mehreren
Harnen von Cystitis, Pyelitis, Pyelonephritis, eiteriger Meningitis und eiteriger
Phthise Eiweisskörper aus der Gruppe der Nucleohistone.
Felix Rafael 3e ) konnte bei Kaninchen mittels grosser Atropindosen
mit oder ohne Zufuhr von Zucker Glykosurie erzeugen, es gehört also
das Atropin zu jener Gruppe toxischer Substanzen, welche Glykosurie er¬
zeugen können; auch ist von Interesse, dass sich das Atropin in dieser
Beziehungseinem Antagonisten, dem Morphium, vollkommen gleichartig verhält.
Die Beziehungen der alimentären Glykosurie zu Pankreas-
affectionen studirte Erich Wille 37 ) an einem grossen klinischen Materiale.
Es ergab sich, dass zwar nicht regelmässig eine Erkrankung des Pankreas
alimentäre Glykosurie im Gefolge hat, dass aber bei regelmässig auftreten¬
dem positiven Erfolg des Fütterungsversuches die grösste Wahrscheinlichkeit
einer schweren Erkrankung des Pankreas vorliegt; bei schwankenden Re¬
sultaten kann man nach Ausschluss anderer mitwirkender Factoren (Fieber,
Arzneimittel) eine vielleicht nur geringe Betheiligung des Pankreas in Er¬
wägung ziehen. Jedenfalls spielt für das Zustandekommen der alimentären
Glykosurie das Pankreas eine sehr wichtige Rolle. Aus dem Fehlen des
Symptoms ist aber nicht mit Sicherheit ein Rückschluss auf die normale
Beschaffenheit des Pankreas gestattet.
Exner 38 ) hebt die Bedeutung des Harnzuckers für die Diagnose
der Gallensteinkrankheit hervor. Er konnte bei seinen an 40 Gallen¬
steinkranken vorgenommenen Harnuntersuchungen Traubenzucker, theils
durch die Gährungsprobe, theils durch Polarisation nachweisen, und zwar
bis 0,4%- Die Menge des Zuckers nahm nach der Gallensteinoperation ab
und schwand nach 3—4 Wochen ganz. Er schlägt daher die Untersuchung
auf Zucker zur Sicherung der Diagnose bei zweifelhaften Fällen vor.
Ueber das Vorkommen von Pentosen im Harn (s. Encyclopäd.
Jahrb., VI, pag. 254) veröffentlicht E. Salkowski 39 ) eine ausführliche Studie,
in welcher er zunächst die Reactionen angiebt. welche für den Nachweis der
Pentosen im Harn in Betracht kommen. Es sind dies 1. die Ton.EXs'sche
Iieaction mit Phloroglucinsalzsäure, 2. die Toi^EXs'sche Reaction mit Orcin-
salzsäure, 3. die Probe mit Anilinacetatpapier, 4. der Nachweis des Furfurols
nach vorgängiger Destillation mit Salzsäure, 5. die Darstellung des Osazons.
Bezüglich der ersten vier Reactionen verweisen wir auf das Original und
begnügen uns an dieser Stelle damit, die Darstellung des ebenfalls prak¬
tisch wichtigen Osazons zu reproduciren ; Es werden 200 Ccm. Harn mit
5 Grm. Phenylhydrazin und soviel Essigsäure, dass die Mischung sauer
reagirt, zuerst auf dem Drahtnetz (jedoch nicht bis zum Sieden), dann eine
Stunde lang auf dem Wasserbade erhitzt; die Flüssigkeit wird heiss filtrirt.
das Filtrat abkühlen gelassen und das ausgeschiedene Osazon — bei
kleineren Quantitäten aus alkoholhaltigem Wasser (5: 100) — umkrystallisirt.
Während vor Verwechslung mit der Glykuronsäurephenylhydrazinverbindung
der krystallinische Habitus des Pentosazons schützt, ist es vom Glykosazon
leicht durch seinen Schmelzpunkt 159—100° (der reinen Verbindung, die
unreine schmilzt erheblich tiefer) und durch seine Löslichkeit in heissem
Wasser zu unterscheiden. Salkowski giebt ferner die Methode des Nach-
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Harn.
weises der Pentose neben Traubenzucker an. Es gelingt dies durch die
Unterschiede in der Löslichkeit der betreffenden Osazone; auch wird die
Orcinprobe durch die Gegenwart des Traubenzuckers nur wenig gestört,
während beim Versuche, den Traubenzucker durch Gährung fortzuschaffen,
geringe Mengen Pentose leicht vollständig raitvergähren können. In Betreff
der Abstammung der Pentosen im Harne kam für die von Salkowski beob¬
achteten Fälle ein etwaiger Gehalt der Nahrung an Pentosen nicht in
Betracht, so dass in diesen Fällen die Quelle derselben im Organismus zu
suchen ist. Nachdem nun Hammarsten aus dem Nucleoproteid des Pankreas
ein Osazon bekommen hatte, welches mit grösster Wahrscheinlichkeit als
Pentosazon anzusehen war, so lag die Vermuthung nahe, als Quelle der
Pentose im Harn das Nucleoproteid des Pankreas anzunehmen. Wohl machten
die Untersuchungen Salkowski's die Identität der Harnpentose mit der
Pankreaspentose sehr wahrscheinlich, doch möchte E. Salkowski daraus
keineswegs folgern, dass die Harnpentose wirklich aus dem Pankreas stammt,
umsomehr, als diese Annahme in Thierversuchen, bei welchen Hunde mit
Pankreas gefuttert wurden, keine Stütze fand. Er ist geneigt, die Möglich¬
keit anzunehmen, dass im Organismus vielleicht ein Uebergang von den
Hexosen zu den Pentosen durch Glukonsäure hindurch stattfindet. Ein
Thierversuch in dieser Richtung, bei welchem einem Kaninchen an drei auf¬
einanderfolgenden Tagen jedesmal circa 7 Grm. Glukonsäure als Natriumsalz
gegeben wurde, ergab ein negatives Resultat; der Harn enthielt keine
Pentose.
Es war die Frage zu lösen, ob die Pentosen zum Ersatz des Trau¬
benzuckers in der Ernährung des Diabetikers verwerthet werden können.
Die hierauf bezüglichen, von v. Jaksch 40 ) unternommenen Versuche ergaben
folgendes Resultat* Von den Pentosen wird Arabinose in Mengen von 48—82° 0 ,
Xylose nur in Spuren, Rbamnose zu %— l U wieder ausgeschieden. Keine der¬
selben aber kann von den Zellen des diabetischen Organismus verwerthet
werden und etwa zum Ersatz des Traubenzuckers dienen. Sie führen beim
Diabetiker zur vermehrten Diurese, sie rufen Diarrhoen hervor, am inten¬
sivsten die Rhamnose, endlich aber ist infolge ihrer Verabreichung kein
Rückgang der GJykoseausfuhr, wohl aber eine Steigerung der Stickstoff¬
ausfuhr eingetreten; die Steigerung des Eiweisszerfalles war bei der Xylose
»ganz enorm, anscheinend tagelang anhaltend«.
Die Phenylhydrazinprobe ist zum Nachweise des Harnzuckers
wegen ihrer Empfindlichkeit für klinische Zwecke sehr geeignet, da sie
bis zu 0,05% Zucker anzeigt, andererseits die Grenze des normalen
Zuckergehaltes, die bis 0,02% herabgeht, nicht erreicht. Auch sind die
entstehenden Glykosazonkry^alle in ihrer typischen Lagerung in Form
von meist doppelten Garbenbündeln von anderen etwa auftretenden Kry-
stallbildungen, die viel unregelmässiger sind, leicht zu unterscheiden.
Behufs leichterer Anwendbarkeit und um die nöthigen Reagentien immer
frisch zu haben, empfiehlt Kowarsky 41 ) die Methode in folgender Weise
auszuführen: Im Reagensglase werden 5 Tropfen reines Phenylhydrazin mit
10 Tropfen Acid. acet. glac. gemischt und leicht geschüttelt, dazu 1 Ccm.
einer gesättigten Kochsalzlösung gefügt. Dazu werden nicht mehr als 3 Ccm.
Harn gegossen und das Gemisch wird 2 Minuten über die Flamme gehalten,
dann langsam erkalten gelassen. Je mehr Zucker vorhanden ist, desto
schneller bildet sich der Niederschlag; übersteigt der Zuckergehalt 0,5%,
so erscheint der Niederschlag schon nach 2 Minuten, auch ist er dann so
charakteristisch, dass man das Mikroskop entbehren kann. Um Zucker¬
spuren völlig ausschliessen zu dürfen, darf der Niederschlag erst nach einer
Stunde untersucht werden. Grössere Eiweissmengen müssen vorher durch
Kochen ausgefällt werden, geringere stören die Reaction nicht.
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Harn.
15 9
Statt des Saccharometers von Einhorn, bei dessen Herstellung der
Scala au! die absorbirte Kohlensäure keine Rücksicht genommen wurde,
empfiehlt Theodor Lohnstein 42 ) sein neues Gährungssaccharometer,
welches im wesentlichen eine Modification des vorigen darstellt. Das In¬
strument soll beim Füllen an der Kuppe einen Luftraum von bestimmter
Grösse haben, wodurch die Kohlensäureentwicklung unter Partialdruck er¬
folgt und nur der dem HENRY'schen Gesetze entsprechende Theil von der
Flüssigkeit zurückgehalten wird ; auch ist die Absperrung durch Quecksilber
nothwendig, um das Mischen der beiden Flüssigkeiten zu verhindern. Das
Saccharometer von Lohxstein besteht 1. aus einem U-förmig gestalteten
Glasgefäss, dessen kürzerer Schenkel kugelig ist und an seinem oberen
Ende durch einen Stöpsel luftdicht abgeschlossen werden kann. Der Stöpsel
enthält seitlich eine Durchbohrung, der eine eben solche am Halse der
Kugel correspondirt; 2. einer bestimmten, in den Apparat zu giessenden
Quecksilbermenge; 3. einem Gewichte zum Beschweren ; 4. der Scala, die so
gearbeitet ist, dass sie nach Belieben dem Rohre des Saccharometergefässea
aufgesetzt und von diesem abgenommen werden kann; 5. der zur Ab¬
messung der benöthigten Harnmenge dienenden PRAVAZschen Spritze ; 6. einer
Blechdose mit dem Schmiermittel zur Dichtung des Stöpsels. Zum Zwecke
einer Zuckerbestimmung wird ein Stück Presshefe mit dem 2—3fachen
Volumen Wasser zu Brei verrieben; von dem zu untersuchenden Harn bringt
man hierauf mit der PRAVAZ schen Spritze 0,5 Ccm. auf die Oberfläche des
Quecksilbers in der Kugel, reinigt die Spritze und fügt 1—2 Theilstriche
Hefebrei hinzu. Man setzt den Stöpsel so auf, dass das seitlich in ihm be¬
findliche Loch und die entsprechende Oeffnung in der Regel übereinander
zu liegen kommen, setzt die Scala auf und giebt auf den Stöpsel das oben
erwähnte Gewicht. Man überlässt nun den Harn im Apparate der Gährung, ent¬
weder bei Zimmertemperatur, oder aber man setzt, da der Ablauf des Pro-
cesses dann viel schneller vor sich geht, den Apparat einer Temperatur von
o2—38° C. aus, unter welchen Umständen auch bei hohen Zuckergehalten
die Gährung in 3—4 Stunden beendet ist. Zu diesem Zweck stellt man den
Apparat am einfachsten in ein Wasserbad, das man sich leicht durch eine
Casserole mit einem Dreifuss berstellen kann, die durch ein unterzustellen¬
des Nachtlämpchen (Oelnachtlicht oder Petroleumnachtlämpchen) mehrere
Stunden auf 32—38° C. gehalten wird; man braucht dazu nur ein- für alle¬
mal die richtige Entferuung der Flamme vom Boden der Casserole auszu-
probiren. Die Scala nimmt man vorher natürlich ab. Nach Beendigung der
Gährung, die man daran erkennt, dass die Quecksilbersäule im Messrohr
nicht mehr steigt, kühlt man zweckmässig den Apparat wieder auf die
Stubentemperatur ab, bei der er gefüllt wurde, indem man die Casserole
mit stubenwarmem Wasser füllt und den Apparat auf einige Minuten hinein¬
bringt. Zur Ablesung enthält der Apparat auf dem abnehmbaren Rahmen
zwei Scalen, von denen die eine für 20° C., die andere für 35° C. gilt. Die
Scalen geben für die kleineren Zuckergehalte direct die Zehntelprocente
an und lassen durch Schätzung des Standes der Kuppe zwischen den ein¬
zelnen Theilstrichen noch bequem die Hundertelprocente erkennen; für die
Procentgehalte von 2° 0 an sind sie in in halbe Procente getheilt und kann
man daher auch im Bereich dieser höheren Werthe die Zuckergehalte bis
auf 1 / 10 oder 1 / 20 °/o bequem feststellen. In den meisten Fällen wird man sich
nach vorheriger Abkühlung des Apparates ohne merklichen Fehler mit der
Ablesung an der rechten, für 20° C. gütigen Scala begnügen können.
H. Malfatti 4ä ) hebt hervor, dass der Arzt derjenige sein soll, welcher
den Ham des Patienten untersucht, nicht der Chemiker, denn für den Arzt,
der den ganzen Menschen, nicht nur den Harn vor sich hat, fallen viele der
bekannten Schwierigkeiten der TROMMERschen Probe fort, er kann darum
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Harn.
130
auch mit dieser einfachen Probe sein Ausreichen finden, um den Verdacht
auf Diabetes zu sichern oder zurückzuweisen, während der Chemiker dazu
ein viel complicirteres Rüstzeug: gebraucht. Immerhin werden Harne, be¬
sonders Zuckerharne Vorkommen, bei welchen Zweifel über die An- oder
Abwesenheit von Zucker auftauchen können. Da müssen andere Proben —
in erster Linie die Gährungsprobe — aushelfen. Man kann auch versuchen,
den Harn für die Ausführung 1 der TROMMERschen Methode geeigneter zu
machen. Malfatti empfiehlt die Behandlung mit Kupferhydrat. Der Harn
wird mit einigen Tropfen Kalilauge alkalisch, dann durch Zusatz von Kupfer¬
sulfatlösung wieder eben sauer gemacht, filtrirt, das fast kupferfreie Filtrat
wird mit Kalilauge und Kupfersulfat versetzt und erhitzt.
Während die übrigen Harnproben auf Eiweiss, Indican etc. schon durch die
Stärke ihres Ausfalles Anhaltspunkte für die ungefähre Menge des vorhandenen
abnormen Bestandtheiles bieten, ist dies bei der Trümmer' sehen Reaction
nicht der Fall. Man kann sich ein ungefähres Bild der vorhandenen Zucker¬
menge dadurch machen, dass man die gewöhnliche TuoMMERsche Probe in
dom Sinne der Peska sehen quantitativen Methode abändert. Die Kupfer¬
lösung des Reagenzienschranks soll 7% (spec. Gew. 1,045), die Kalilauge
10—15° 0 sein. Dann gebe man 1 Ccm. dieser Kupferlösung in die Eprou¬
vette, circa gleich viel der Lauge, dann Ammoniakflüssigkeit, bis sich alles
gelöst hat und Wasser bis circa 10 Ccm. Das Ganze wird mit Paraffinöl
überschichtet, 1 Ccm. Harn zugefügt und (nicht bis zum Kochen) erhitzt.
Enthält der Harn mehr als 1% Zucker, so entfärbt sich die Lösung sehr
bald, enthält er genau 1° 0 . entfärbt sie sich langsam in 2—3 Minuten,
enthält er weniger als 1%, so tritt Entfärbung in 2—3 Minuten nicht ein.
und man müsste von 1 2 ° 0 Harn 2 Ccm., von Vs 0 o 3 Ccm. etc. verwenden,
um die Entfärbung in 2—3 Minuten auftreten zu lassen. Zuckerreicher Harn
müsse durch das Verdünnen auf das 1-, 2-, 3fache seines Volumens in circa
2° 0 iger Zuckerlösung umgewandelt, dann erst bestimmt werden.
In ganz zweifelhaften Fällen steht aber dem Arzt stets die Anwen¬
dung des physiologischen Versuches zur Seite, indem durch ein Amylaceen-
frühstück beim diabeteskranken Menschen Glykosurie hervorgerufen wird,
beim noch gesunden Menschen nicht.
Eine für die Praxis zu empfehlende quantitative Bestimmung muss
den Forderungen nach leichter Ausführbarkeit und Genauigkeit Genüge
leisten. Beiden erscheint in dem von Zdenek Peska zur Bestimmung des
Traubenzuckers angegebenen Methode entsprochen, die mit dem bekannten
einfachen Verfahren Fehlings, aus dem sie hervorgegangen, nach den von
A. Gregor angestellten Versuchen eine sehr weitgehende Genauigkeit ver¬
bindet. Dem Uebelstande eines schwerer zu constatirenden Farbenumschlages
bei Harnen mit niedriger Reductionskraft räth A. Gregor i4 ) durch eine Ver¬
minderung der zu reducirenden Flüssigkeitsmenge zu begegnen und wendet
in seinen sich anschliessenden Untersuchungen über physiologische Glyko¬
surie 4 Ccm. PESKA sche Flüssigkeit zur Reduction an. Die hierbei gewon¬
nenen Resultate werden in folgende Sätze zusammengefasst: 1. Die Reduc-
tionsfähigkeit des normalen Harnes zeigt im Verlaufe des Tages durch die
Nahrungsaufnahme bedingte Schwankungen. 2. Der Procentgehalt an redu-
cirender Substanzen schwankt im normalen Harne in dreistündigen Perioden
zwischen 0,0825 und 0,347, die Menge zwischen 0,280 und 0,555 Grm.
3. Die Reductionsfähigkeit des Harnes wird im Inanitionszustande constant
und giebt in dreistündigen Zeiträumen einen durchschnittlichen Procent¬
gehalt von 0.085O, eine durchschnittliche Menge von 0,335 Grm. 4. Der ver¬
mehrte Genuss von Kohlehydraten hat im normalen Organismus keine
Steigerung der Harnreduction zur Folge. 5. Die Reductionsfähigkeit des
Harnes bei reiner Fleischkost nähert sich der des Inanitionszustandes. Stoff-
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Harn.
161
Wechsel und Reduction stehen in umgekehrtem Verhältnisse. Alkohol er¬
zeugt Erhöhung der Reductionsfähigkeit des Harnes.
Eine eingehende Arbeit von P. Mayer 46 ) über die Ausscheidung
und den Nachweis der Glykuronsäure im Harn bringt neben bisher
schon bekannten Thatsachen auch einige interessante neue Resultate. So
zeigt er, dass neben Chloralhydrat, Kampher, Terpentinöl, welche, wie be¬
kannt, dem Organismus einverleibt, ihn als Glykuronsäureverbindung im Harn
verlassen, auch das Morphium als gepaarte Glykuronsäure im Harn ausge¬
schieden wird. Der Nachweis der Glykuronsäure kann ohne die schwierige
Reindarstellung dieser Substanz geführt werden, indem man die gepaarten
Glykuronsäuren durch Bleiessig und Bleiessigammoniak ausfällt, durch Schwefel¬
wasserstoff entbleit und die gepaarten Glykuronsäuren durch Kochen mit
Schwefelsäure zerlegt. Dann kann durch Uebergang der Drehung der Lösungen
von Linksdrehung in Rechtsdrehung, durch den positiven Ausfall der Trom-
MER schen und der ToLLENs’schen Proben und durch den Nachweis von Gäh-
rungsunfähigkeit die Anwesenheit der Glykuronsäure sichergestellt werden.
Mit Phenylhydrazin kann die Glykuronsäure noch nicht isolirt werden, da
viele Verbindungen mit verschiedenem Schmelzpunkt zwischen diesen zwei
Körpern existiren, doch spricht das Auftreten gelber Phenylhydrazin Verbin¬
dungen im Harn, nach Kochen mit Schwefelsäure, für ein Vorkommen der
gepaarten Glykuronsäuren im normalen Harn. Da die Glykuronsäure das
erste Oxydationsproduct des Traubenzuckers ist, war es von Wichtigkeit
festzustellen, dass auch beim Diabetes Glykuronsäure, und zwar manchmal
in erheblichen Mengen, ausgeschieden werden kann, was auf eine gewisse
zuckerzerstörende Kraft der Gewebe des Diabetikers hinweist.
Aus Anlass eines Falles auf der medicinischen Klinik in Marburg, in
welchem eine Patientin mit Zeichen hereditärer Syphilis mit Geschwüren im
Gesicht und am Kopfe einen burgunderroth gefärbten Harn entleerte, der
neben reichlich Urobilin auch Hämatoporphyrin enthielt, studirte Prof. E.
Nebelthau das chemische und spectroskopische Verhalten des aus diesem
Harn dargestellten Hämatoporphyrins, welches mit den gebräuchlichen
Methoden von Mac Munn, Salkowski und Hammarsten abgeschieden werden
konnte. Nebelthau 46 ) fand im Verlaufe seiner Untersuchungen schliesslich
^ur Ausfällung des Farbstoffes die Essigsäure als ein sehr einfaches und
vollkommenes Mittel, zumal bei dieser Art der Ausfällungen das Urobilin
vollständig in Lösung gehalten wurde. Er versetzte den sonst eiweiss- und
zuckerfreien Harn mit Eisessig je 5 Ccm. auf 100 Ccm. Harn. Nach 24 bis
40 Stunden entstand ein Niederschlag von rother Farbe, der zugleich die
Nubecula und Harnsäurekrystalle einschloss. Der Niederschlag mehrerer
Tagesportionen wurde durch die Centrifuge gesammelt, mit Wasser ausge¬
waschen und mit Natronlauge behandelt. Es entstand eine tiefdunkelrothe
Lösung des Farbstoffes, welche nach dem Filtriren wiederum mit Essigsäure
angesäuert wurde. Dabei fiel der Farbstoff in dicken braunen Flocken zu
Boden, während die darüber stehende Flüssigkeit zunächst einen braunrothen
Farbenton zeigte. Der so ausgefällte Farbstoff wurde auf dem Filter ge¬
sammelt, in Wasser gewaschen und nun in möglichst wenig Natronlauge
von neuem gelöst, um wiederum mit Essigsäure ausgefällt zu werden.
Dieser Vorgang wurde wiederholt, bis die über dem Niederschlag stehende
Flüssigkeit nur noch eine geringe braune Färbung zeigte. Der Niederschlag
wurde jetzt nach dem Lösen in Natronlauge der Dialyse gegen destillirtes
Wasser ausgesetzt, so lange, bis die Farbstofflösung neutral reagirte. Aus
der neutralen Lösung wurde der Farbstoff jetzt wiederum durch Essigsäure
ausgefällt, auf dem Filter gesammelt und mit Wasser, Alkohol und Aether
ausgewaschen. Dabei erwies sich der Farbstoff nach der Behandlung mit
Wasser als nur wenig in Alkohol und Aether löslich. Der Farbstoff zeigte
Encyclon*- Jahrbücher. HX.
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Ori?|iVal from
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162
Harn.
das spectroskopische Verhalten des Hämatoporphyrins, hat einen der Nkncki-
SiEBERschen Formel entsprechenden Stickstoffgehalt von 9,7%, circa 3%
Asche, darunter 0,37% Eisen (letzteres als Verunreinigung). Die im Wolf-
sehen, von Nebelthai t modificirten Apparate ausgeführte colorimetrische
Bestimmung ergab für im Mittel 1130 Ccm. Tagesharn 0,04089 Gnn.
Farbstoff.
Eine neue Reaction auf Gallenfarbstoffe, insbesondere im Harn, theilt
Olof Hammarstex 47 ) mit. Das Reagens besteht aus Alkohol und einem Ge¬
menge von Salzsäure und Salpetersäure. Man bereitet sich erst ein Gemenge
von 1 Volumen Salpetersäure und 19 Volumen Salzsäure, jede Säure von
25%. Dieses Gemenge, welches erst dann wirksam ist, wenn es kurze Zeit
gestanden hat und gelblich geworden ist, wird gesondert aufbewahrt und
ist lange Zeit, mindestens ein Jahr, völlig wirksam. Das fertige Reagens,
welches aus 1 Volumen des Säuregemenges und 4 Volumen Alkohol besteht,
wird dagegen nach einiger Zeit zersetzt und wird am besten vor dem Ge¬
brauche neu bereitet. Setzt man zu 1—2 Ccm. des Reagens einen oder ein paar
Tropfen Bilirubinlösung, so nimmt die Flüssigkeit fast sogleich nach dem
Umschütteln bei Zimmertemperatur eine schön grüne Farbe an, die tagelang
bestehen bleibt. Setzt man der grünen Flüssigkeit nach und nach steigende
Mengen des Säuregemenges hinzu, so kann man in schönster Weise nach
einander die verschiedenen Farben der Gmelix sehen Scala hervorrufen. Die¬
selbe Farbenscala geben mit diesem Reagens auch die übrigen bekannten
Gallenfarbstoffe, welche die Gmf.lin sehe Reaction geben. Zum Nachweis des
Gallenfarbstoffes im Harn ist es oft genügend, zu ein paar Cubikcentimetern
des Reagens einige Tropfen des ikterischen Harns zuzusetzen. Wenn es sich
aber um den Nachweis von nur Spuren von Gallenfarbstoff, namentlich
neben anderen Farbstoffen, handelt, verfährt man in folgender Weise: Man
giesst etwa 10 Ccm. des Harns in das Rohr einer kleinen Handcentrifuge
hinein, setzt etwas Bariumcbloridlösung hinzu und centrifugirt etwa % Minute.
Die Flüssigkeit giesst man von dem Bodensätze ab, zertheilt den letzteren
in 1—2 Ccm. des Reagens und centrifugirt von neuem etwa % Minute,
nach welcher Zeit man, bei Gegenwart von Gallenfarbstoff, eine klare grüne
Flüssigkeit oberhalb des Bodensatzes hat. Nach dieser Methode kann man,
bei Anwendung von 10 Ccm. Harn, in weniger als 2 Minuten sehr leicht
und sicher 1 Theil Gallenfarbstoff in 500.000 Theilen normalen Harns nach-
weisen. Auch der Nachweis von 1 : 1,000.000 gelingt bei Beobachtung einiger
Cautelen ohne Schwierigkeit. Die Reaction ist brauchbar auch bei Gegen¬
wart von anderen Harnfarbstoffen, von Blutfarbstoff oder Blut. In dem
letzteren Falle muss man jedoch den Bodensatz erst durch Behandeln mit
Wasser, welches die Blutkörperchen löst, von den letzteren befreien. Bei
Gegenwart von nur Spuren von Gallenfarbstoff neben viel anderem Farb¬
stoff kann jedoch die Reaction bei Anwendung von Bariumchlorid, welches
zu viel von dem fremden Farbstoffe mitniederreisst, bisweilen fehlschlagen.
Für solche Fälle ist es besser, den Harn mit Calciumchlorid zu fällen, wobei
jedoch der Harn nicht alkalisch, sondern sehr schwach sauer oder fast
neutral sein muss. Bei Gegenwart von nur Spuren von Gallenfarbstoff kann
es übrigens bisweilen besser sein, ein Reagens mit mehr Alkohol und
weniger des Säuregemenges, wie z. B. 1 Volumen Säuregemenge auf 9 Vo¬
lumen Alkohol oder ein Säuregemenge mit weniger Salpetersäure, 1 Theil
Salpetersäure und 99 Theile Salzsäure zu verwenden. Die grüne Farbe geht
hierbei weniger rasch in eine grünblaue über.
Immanuel Munk 4d ) hat an ikterischem Harn und an Harnen nach Zu¬
satz von Hundegalle oder gewogener Mengen von Bilirubin vergleichende
Untersuchungen angestellt über die Empfindlichkeit der Gallenfarb¬
stoff reactionen. Von allen vorgeschlagenen Proben und Modificationen
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Harn.
163
kommen nur in Betracht die ursprüngliche GMELiN sche Probe (Unterschichten
mit etwas salpetrige Säure enthaltender Salpetersäure von 1,4 spec. Gew.),
die von Rosin vorgeschlagene Probe (Ueberschichten l%iger alkoholischer
Jodlösung) und am meisten die HüPPERTsche Probe in der SALKOWSKi schen
Ausführungsart. (10 Ccm. Harn werden mit etwas Sodalösung alkalisch ge¬
macht, mit tropfen weis zugesetzter Chlorcalciumlösung ausgefällt, der Nieder¬
schlag auf einem Filterchen gesammelt, 1—3mal mit Wasser gewaschen
und dann mit 10 Ccm. salzsauren Alkohols (5 HCl auf 100 Alkohol) ex-
trahirt und die Lösung erwärmt; Blaugrünfärbung); diese letztere Probe er¬
wies sich als die empfehlenswertheste, sie ist viel empfindlicher als die com-
plicirte Methode von Jolles (Encyclopäd. Jahrb., VIII, pag. 154). Ihre Em¬
pfindlichkeitsgrenze (für 10 Ccm. Harn) liegt bei 0,1 Mgrm. Bilirubin in
100 Harn (bei 0,5 Mgrm. ist auch noch der Kalkniederschlag deutlich gelb),
während sie für die Gmelin sehe und RosiN'sche Probe ungefähr bei 6 Mgrm.
in 100 gefunden wurde. Die Gegenwart von Eiweiss, Indican und anderer
Farbstoffe beeinträchtigt die HüPPERTsche Reaction nicht, wie die beiden
anderen Proben.
Achard und Morfaux 49 ) injicirten bei gesunden und kranken Nieren
subcutan Urobilin, um durch den Uebergang dieses vom Blut in den Urin
einen Anhaltspunkt für die Durchgängigkeit der Nieren zu gewinnen. Beim
Gesunden trat nach Injection von 10 Ccm. innerhalb einer Stunde Urobi-
linurie auf; bei zwei Kranken mit chronischer Nephritis konnte dagegen
nach der gleichen Injection Urobilin im Harn nicht nachgewiesen werden.
Das gleiche Ergebniss gab eine Injection von 5 Ccm. bei einem Gesunden
und bei einem Kranken mit Schrumpfniere, bei ersterem wurde im Urin
jedoch nicht Urobilin selbst, sondern das Chromogen desselben gefunden.
Die Versuche beweisen also, dass eine kranke Niere dem Uebergang von
Urobilin in den Harn einen bedeutend grösseren Widerstand entgegenstellt
als eine gesunde, und dass der Organismus imstande ist, Urobilin in das
Chromogen zu reduciren.
Anknüpfend an einen Fall von Hydronephrose, in welchem W. Hirsch-
laff B0 ) reichliche Mengen von Cholesterin im Harn auf chemischem und
mikroskopischem Wege nachgewiesen hat, bespricht Verf. auch das Vor¬
kommen von Cholesterin im Harn überhaupt. Abgesehen von den Fällen, wo
sich die Ausscheidung des Cholesterins der Lipurie anschliesst, kann Chole¬
sterin auch aus Echinococcuscysten in den Harn übergehen. Auch in Nieren¬
steinen wurde es oftmals nachgewiesen, und es kommen selten auch Steine
vor, die im wesentlichen nur aus Cholesterin bestehen.
Zur Bestimmung der reducirenden Kraft des Harns hat Rosin 51 )
folgende Methode angewendet: In ein ERLEXMEYER-Kölbchen von 100 Ccm.
Inhalt werden 25 Ccm. des um das Fünffache verdünnten, nur noch schwach
gelb gefärbten Harns gegossen und 1 Ccm. officinellen Liq. Kal. caust. zugefügt.
Sodann wird Paraffin, liquid, in etwa dreifacher Höhe über die Mischung
geschichtet und das Ganze vorsichtig bis nahezu zum Sieden erhitzt. Die
Ueberschichtung mit Paraffin und die Verhinderung des Eintritts des Siedens
soll den Luftzutritt verhüten. In die erhitzte Flüssigkeit fügt man aus einer
Bürette, deren Abflussrohr unter die Paraffinschicht taucht, 1 Ccm. l / SO o<r
Chlorhydrat-Methylenblau und erhitzt weiter. Die Flüssigkeit verliert das Blau
in wenigen Secunden. Man lässt nun aus einer zweiten Bürette V^o-Normal-
permanganatlösung zufliessen, bis ein blaugrüner Schimmer erscheint. Das
Permanganat giebt zuerst an die reducirenden Substanzen des Harns seinen
Sauerstoff; sind diese gesättigt, so giebt es sofort Sauerstoff an das Leuko-
methylenblau: Indicator ist also die beginnende Blaufärbung. Die Menge des
aus dem verbrauchten Permanganat zu berechnenden Sauerstoffs ist das
Mass der reducirenden Kraft des Harns.
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Harn.
ir>4
Die prognostische Bedeutung der EHRLicH'schen Diazoreaction
prüfte Krokiewicz 62 ) durch 16.167 Harnuntersuchungen in 1105 Krankheits¬
fällen. Er gelangte zu folgenden Schlüssen: Die Reaction fehlt bei Nieren-
kratkheiten, sofern sie nicht auf Intoxication mit farbstoffhaltigen Medica-
menten beruhen. Sie fehlt ferner im allgemeinen bei Carcinomen; ihr Er¬
scheinen bei Uterus- und Ovarialcarcinom bedeutet Entzündung oder Metastase
im Peritoneum. Bei Tuberkulose tritt sie auf, wenn eine rapide Verschlim¬
merung sich vorbereitet unabhängig von der anatomischen Ausbreitung der
Tuberkulose, beziehungsweise der Menge der Bacillen. Bei örtlich beschränkter
Tuberkulose, auch des Urogenitalapparates, findet man sie nicht. — Bei
Typhus abdominalis beweist sie entweder, dass der Krankheitsprocess noch
nicht abgelaufen ist oder dass ein Recidiv eintritt.
Michaelis 63 ) erkennt der Diazoreaction im Harne ebenfalls einen
bedeutenden prognostischen und diagnostischen Werth zu. Im normalen Harn
kommt sie nicht vor. Bei Rückenmarks-, Herz-, Nierenleiden und anderen
chronischen Krankheiten ist sie selten. Bei manchen Krankheiten, wie Typhus
abdominalis und Masern, erscheint sie im Beginn und verschwindet mit dem
Nachlassen der Krankheit. Sie tritt beim ersteren am 5.—8. Tage auf und
ist mit Sicherheit für das Initialstadium diagnostisch zu verwerthen. Ihr
Erscheinen ist stets das Anzeichen einer schweren Infection. Findet man
sie bei Erysipel, Pneumonie, Diphtherie, so documentirt sich damit die Pro¬
gnose als sehr zweifelhaft. Bei Phthisis pulmonum erscheint sie nie in
leichteren, häufig dagegen in schwereren Fällen, die eine Prognosis mala
geben, ebenso bei acuter käsiger Pneumonie. Die Reaction ist unabhängig
vom Fieber. Die Bildungsstätte des Farbstoffes ist unbekannt.
Um die Bedeutung der Diazoreaction richtig zu beurtheilen, muss man
auch die Beeinflussung dieser Reaction durch Arzneien kennen. Wie Burg¬
hart ß4 ) fand, können gewisse Medicamente, Körper der Naphtalinreihe, ferner
Tinct. opii simpl., Extract. cascar. sagradae oder Extract. Hydrast. canad. die
Diazoreaction im Harne Vortäuschen; allerdings sind die Farbennuancen
etwas abweichend und könnten nur grössere Gaben der erwähnten Medica¬
mente. keineswegs die üblichen Dosen eine Täuschung bewirken. Wichtiger
ist jedenfalls, dass durch andere Arzneistoffe die vorher positive Diazo¬
reaction aufgehoben werden kann, namentlich von Gallus- und Gerbsäure
und deren Präparaten Tannalbin, Tannigen. Von Gerb= oder Gallussäure
genügen schon etwa 3mal täglich 0,1, von Tannalbin und Tannigen 3mal
täglich 0,5. Die gleiche Wirkung haben auch Gerbsäure in genügender Menge
enthaltende Arzneimittel, wie z. B. Folia uvae ursi. Auch das Jod hebt die
Diazoreaction auf, und zwar in Form von Jodtinctur und Jodvasogen, nicht
aber in Form der Jodalkalien.
Ein erschöpfende Darstellung der chemischen Grundlagen und der
klinischen Bedeutung der Diazoreactionen im Harn hat Clemens im
Deutschen Arch. f. klin. Med., LXIII, veröffentlicht.
Ein Reagenspapier zum Nachweis von Jodiden im Urin und
Speichel hat Bourget 6R ) hergestellt: Man taucht Filtrirpapier in eine
5%ige Lösung von gekochter Stärke, trocknet, bringt dann eine 5%ige
Lösung von Ammoniumpersulfat darauf und lässt trocknen. Zweckmässig
wird das Papier mit Bleistift in Quadrate getheilt, in deren Mitte je einige
Tropfen des Persulfates aufgeträufelt werden. Um das Jod in dem Orga¬
nismus nachzuweisen, braucht man nur etwas Harn oder Speichel auf ein
solches Quadrat zu tupfen, wobei sofort ein blauer Fleck (Jodstärke) ent¬
steht. Man kann so z. B. nach Einführung von mit Jodoform beschickten
Glutoidkapseln nach Sahli ohne weitere ärztliche Controle Curven über die
Jodausscheidung (beziehungsweise die Motilität des Magens) erhalten, wenn
man den Patienten anweist, stündlich oder zweistündlich auf eines der
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Harn.
165
genannten Quadrate au! dem Reagenspapiere zu spucken. Die Haltbarkeit
des Reagenspapieres ist aber noch nicht genügend erprobt und es müsste
daher bei älterem Papier seine Brauchbarkeit vor jedem Versuche mit einer
Jodlösung festgestellt werden.
Den Werth genauer Schwefelbestimmungen im Harn für die
Beurtheilung von Veränderungen des Stoffwechsels studirte Prof.
E. Harnack. ßü ) Hierbei bestimmte er zunächst im Hundeharn die präfor-
mirte und gepaarte Schwefelsäure, die unterschweflige Säure und den soge¬
nannten neutralen Schwefel. Gleichzeitig wurde in den meisten Fällen auch
der Harnstoff und der gesammte Stickstoff bestimmt. Harnack kommt zum
Schlüsse, dass man bei völlig gleichbleibender Nahrung für die Entscheidung
gewisser Fragen ebensogut vom Harnschwefel wie vom Harnstickstoff aus¬
gehen kann, denn die Schwefelsäure ist ebenso das normale Stoffwechsel-
endproduct für den Schwefel wie der Harnstoff für den Stickstoff. Wurden
die Oxydationen in den Versuchen von Harnack durch Eingabe von Chloral-
hydrat gestört, so wurde mehr unoxydirter Schwefel und dem entsprechend
weniger Harnstoff (trotz der Vermehrung des Gesammtstickstoffes) ausge¬
schieden. Verabreichung von kohlensaurem Natron hatte den umgekehrten
Effect und war imstande, die Chloralwirkung nach dieser Seite aufzubeben.
Dabei wurde beobachtet, dass durch die Sodaeingabe dem Körper Chlor
entzogen wurde (0,6 Grm. im Tag), so dass das Thier zum Schlüsse auf¬
hörte, Chlor auszuscheiden oder Salzsäure im Magen zu produciren. Pflanzen¬
saure Alkalien, welche die Magensäure nicht neutralisiren, hatten weder
diese Wirkung, noch nennenswerthen Einfluss auf den Stoffwechsel. Die
Menge des neutralen Schwefels hängt sehr von der Nahrungsaufnahme ab
und beträgt beim Menschen im Mittel etwa 19—24% vom Gesammtschwefel.
Am Krankenbett kann die einfache Schwefelbestimmung zur Diagnose wohl
nicht verwendet werden. Bemerkt sei hier, dass bei hochgradiger, lang¬
dauernder Dyspnoe, auch wenn keine Nahrung aufgenommen wurde, sehr
hohe Werthe für den neutralen Schwefel (34—44%) beobachtet wurden.
Der gleiche Befund ergab sich constant am Harne einer trächtigen Hündin
bis zum Geburtsact (bis zu 50%).
Durch die Fortschritte der Zellchemie hat die Bestimmung des
organisch gebundenen Phosphors — Glycerinphosphorsäure und andere
noch unbekannte Verbindungen — im Harn erhöhte Bedeutung gewonnen.
An die wenigen Untersuchungen in dieser Richtung (Lepine und Eymonxet,
Zuelzer) knüpft Horst Oertel 57 ) die seinigen an, wobei erfolgende Methoden
der Bestimmung durchführte: 50—100 Ccm. Harn werden zunächst zur Be¬
stimmung der Gesammtphosphorsäure direct mit Aetzkali und Salpeter
geschmolzen, die Schmelze in Wasser unter Zusatz von Salpetersäure ge¬
löst und die Phosphorsäure nach der Molybdänmethode schliesslich als
Magnesiumpyrophosphat gewogen. Zur Bestimmung des organisch gebundenen
Phosphors wird eine zweite Quantität Harn nach Ausfüllung der Phosphate
durch Chlorcalcium und Ammoniak filtrirt und im abgedampften Filtrate
die Phosphorsäure wie oben bestimmt und das Ergebniss als organisch ge¬
bundener Phosphor angesprochen. Neben einer Tagesausscheidung von circa
2 Grm. Gesammt-P 2 0 6 fand Verfasser im Mittel 0,05 Grm. organischen Phos¬
phor (0,120 Grm. im Maximum, 0,03 Grm. im Minimum unter 7 Personen).
Bei Tag erwies sich die Ausscheidung beider Phosphorarten höher als bei
Nacht (ein Versuch), Muskelarbeit beeinflusste die Ausscheidung weder
absolut, noch relativ. Bei hoher Stickstoffausscheidung fanden sich auch
stets hohe Werthe für den organischen Phosphor, ohne dass aber etwa ein
paralleles Schwanken beider Ausscheidungen constatirt werden konnte. Im
allgemeinen kommen auf je 100 Theile Stickstoff 0,3—0,5 Theile organischer
Phosphor. Ob nun der organisch gebundene Phosphor hauptsächlich durch
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Harn.
UH»
Zerfall des Körpergewebes selbst entsteht, ob er eine unvollständige Oxy¬
dation von Phosphorverbindungen darstellt, lässt sich bis jetzt nicht ent¬
scheiden.
Die Bedeutung der Phosphaturie für die Behandlung und Pro¬
gnose der Fracturen beleuchtet J. L. Howell ßS ), der in allen Fällen, bei
denen die Fractur nicht eine geringfügige war, eine bedeutende Vermehrung
der Ausscheidung der Gesanimtphosphorsäure im Harn nachweisen konnte.
Die Menge der Phosphate, die im normalen Harn in 24 Stunden 3—6 Grm.
beträgt, stieg in den Fällen von Howell auf 15 Grm. und mehr. In den
ersten Tagen nach Entstehen der Fractur war der Gehalt an Phosphaten
bedeutend geringer wie später; auch veränderte sich das Verhältnis« der
phosphorsauren Alkalien zu den phosphorsauren Erden, die Menge der
letzteren nahm bis um 70% zu. Es besteht also während des Heilungs-
processes der Fracturen eine vermehrte Ausscheidung von Phosphaten, die
bis zur Phosphaturie gehen kann. Es sollen daher dem Körper Knochen¬
salze in Gestalt von Hypophosphiten zugeführt werden, um die Callusbildung zu
beschleunigen. (Eine Nachuntersuchung dieser Angabe wäre umso wünschens-
werther, als man a priori geneigt wäre, bei der Heilung der Knochenbrüche
eine Retention von Erdphosphaten anzunehmen. L.)
Bezüglich der Oxydation der arsenigen Säure im Organismus des
Menschen, über welche widersprechende Angaben vorliegen, haben C. Binz
und C. Laar 5 ’) den Harn von Patienten untersucht, welche arsenige Säure
subcutan erhielten, weil dadurch jede Wirkung der Darmbakterien ausge¬
schlossen war. Die Oxydation war wenigstens in den gelungenen Versuchen
so vollständig, dass nur geringfügige Mengen arseniger Säure neben der
Arsensäure nachgewiesen werden konnten. Die Ursache dieser Erscheinung
glauben die Verfasser in einer specifischen oxydirenden Kraft des Harnes
der arsenigen Säure gegenüber gefunden zu haben, über welche weitere
Untersuchungen in Aussicht gestellt werden.
Richard Phibram und Georg Gregor 60 ) theilen eine neue Methode
zur Bestimmung der Alkalien im Harn mit. Bevor sie an die Ausarbeitung
dieser gingen, prüften sie die bisherigen Methoden und gelangten zu dem
Resultate, dass das LRiiMANx'sche Verfahren, welches als theoretisch ein¬
wandsfrei bezeichnet werden muss, bei der Kalibestimmung die höchsten
Werthe ergiebt; doch ist das Verfahren sehr zeitraubend wegen der Sorg¬
falt, welche die Veraschung erfordert. Weniger befriedigen die Methoden von
Bunge und Salkowski-Munk. Glüht man nur schwach, so stören später die
organischen Substanzen, glüht man zur vollständigen Zerstörung dieser
stärker, so drohen Verluste durch Verflüchtigung der Alkalichloride. Das
Verfahren von Heixtz giebt zu geringe Werthe für das Kalium, die Methode
ist ungenau. Das von Piubram und Gregor angegebene Verfahren ist
folgendes: 50 Ccm. Harn werden in einem Becherglase mit 10—20 Ccm.
10%iger Baryumpermanganatlösung unter Zusatz von 10 Ccm. verdünnter
Schwefelsäure zum Sieden erhitzt, wobei die Rothfärbung erst nach 10 bis
15 Minuten währendem Sieden langsam verschwinden soll; ein etwaiger
Ueberschuss von Permanganat wird durch einige Tropfen Oxalsäurelösung
entfernt. Hierauf wird die heisse Flüssigkeit mit Chlorbariumlösung ver¬
setzt, ammoniakalisch gemacht und das überschüssige Chlorbarium durch
Ammoniumcarbonat gefällt. Hierauf wird filtrirt, mit heissem Wasser ge¬
waschen und das Filtrat in der gewogenen Platinschale abgedampft. Nach
schwachem Glühen des Rückstandes bringt man die Alkalichloride zur
Wägung. Die Controlversuche mit Lehmann s Methode gaben genaue Resul¬
tate bei rascherer Ausführbarkeit.
Da die in der Literatur zerstreuten Angaben über die Kalk aus Schei¬
dung bei Diabetes sich häufig widersprechen, untersuchte Ernst Tan-
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Harn.
‘ 1G7
bäum 61 ) bei 14 Diabetikern den Harn in Bezug auf Zucker-, Stickstoff-,
Ammoniak-, Kalk-, Magnesia- und Phosphorsäuregehalt. Besonders bei den
schweren Fällen fand sich eine bis auf das 15fache des Normalen gesteigerte
Kalkausfuhr. Aus der Vergleichung der Analysenresultate, vorhandener
Literaturangaben und aus einem sechstägigen Selbstversuche, bei welchem
durch Erhöhung der Nahrung an drei Tagen eine Vermehrung der Stick¬
stoffausscheidung hervorgerufen wurde, schliesst Tanbaum, dass diese Ver¬
mehrung des Kalks im Harn direct zusammenhängt mit der reichen Flüssig¬
keit- und Stickstoffausscheidung der Diabetiker. Er hält entgegen der An¬
sicht von Dickinson, der den Zerfall von Nervensubstanz, und von Zuelzer,
der die Auflösung von Knochenkalk durch die im Darm gebildete und re-
sorbirte Milchsäure beschuldigt, die Kalksalze der mit der reichlichen Nah¬
rung aufgenommenen Proteinsubstanzen für die Ursache dieses Verhaltens
beim Diabetiker. In einzelnen sehr schweren Fällen muss auch der Zerfall
von Körpereiweiss herangezogen werden. Eine für Diabetes specifische Ver¬
mehrung der Kalkausfuhr ist nicht anzunehmen.
Die für den Diabetiker eigenthümliche, auf langewährender über¬
mässiger Säurebildung im Organismus beruhende, gesteigerte Kalkaus¬
scheidung und ihre Beziehungen zur Ammoniakbildung haben an einem
schweren Diabetiker, dem periodenweise täglich je 20 Qrm. Natriumbicarbonat
eingegeben wurden, Dietrich Gerhardt und Wilhelm Sc hlesinger 62 ) unter¬
sucht. Parallel mit diesen Versuchen liefen ähnliche, an einem Gesunden
(mässige Syringomyelie), der auf strenge Fleischfettkost gesetzt war, wobei
das Auftreten von grossen Mengen von Aceton, Acetessigsäure und, was be¬
sonders bemerkenswerth ist, von ß-Oxybuttersäure eine deutliche Säuerung
(A cid ose) des Organismus bekundeten. Es ergab sich, dass die während
der Perioden mangelnder Alkalizufuhr sehr stark erhöhte Kalk- und Am¬
moniakausscheidung beim Diabetiker wie beim Gesunden parallel gingen
und durch Alkalizufuhr herabdrückbar waren. Während beim Gesunden nur
10, höchstens 30% der Gesammtkalkausfuhr auf die Ausscheidung durch
den Harn kommen, das übrige auf die Darmausscheidung, fanden sich beim
Diabetiker 59% des Gesammtkalks im Harn, 41% in den Fäces. Aehnlich
Hegen die Verhältnisse bei reiner Fleischfettnahrung oder auch im Hunger
(Cetti); Alkalizufuhr hebt auch dieses Missverbältniss auf. Der ausgeschie¬
dene Kalk stammte wenigstens in vorliegenden Versuchen von dem zer¬
fallenden Knochengerüst (Knochen von Diabetikern pflegen auffallend leicht
zu sein), dabei war aber das Verhältnis des durch den Harn ausgeschie¬
denen Kalks zur Magnesia gegen die Norm in der Weise verschoben, dass
nur während der Alkalizufuhr etwa doppelt so viel Kalk als Magnesia aus¬
geschieden wurde, während der Periode ohne Alkali aber das Dreifache. Die
absolute Verminderung der Gesammtmagnesiaausfuhr (in Fäces und Harn)
lässt schliessen, dass bei der relativen Verarmung des Organismus an
Alkalien, ein Theil des beim Zerfall der Knochensubstanz freiwerdenden
Magnesiums zurückgehalten wird.
Wie schon Friedrich Müller 68 ) nachgewiesen, findet man beim
Phenacetingebrauch im Harne kein unverändertes Phenacetin, sondern
im alkalischen Aetherextracte des Harnes und direct im Harn Phenetidin.
Führt man dieses in die Diazoverbindung über, so giebt diese mit a-Naphthol
eine prachtvoll purpurrothe, mit Phenol eine gelbe Farbe. Die Reaction wird
im Harn in folgender Weise ausgeführt: Man versetzt den Harn im Reagens¬
glase mit etwa 2 Tropfen Salzsäure und 2 Tropfen einer l%igen Natrium¬
nitritlösung. Fügt man nun einige Tropfen einer alkalischen, wässerigen
a-Naphthollösung zu und macht alkalisch, so entsteht eine prachtvolle Roth-
färbung, die bei nachträglichem Ansäuern mit Salzsäure in Violett über¬
geht. Nimmt man statt a-Naphthol Carbolsäure, so entsteht in alkalischer
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Harn.
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Lösung eine citronengelbe, in saurer eine rosenrothe Farbe. Diese Reaetion
tritt aber, da das Phenetidin nach dem Gebrauche von kleinen Dosen
Phenacetin als Aetherschwefelsäure im Harn erscheint, nach G. Edlefsex
in diesem Falle nur ein, wenn es vorher aus dieser Verbindung durch
Kochen mit Salzsäure abgetrennt wird. Die Ausführung der Reaetion ge¬
staltet sich dann in folgender Weise: Man kocht eine Portion des Harns
wie zum Zwecke der Indophenolreaction mit etwa ! / 4 Volum concentrirter
Salzsäure 2—3 Minuten lang und lässt erkalten. Zu der abgekühlten Flüssig¬
keit fügt man je nach ihrer Menge 2—3 Tropfen l°/ 0 ige Natriumnitritlösung
hinzu und schüttelt. Die Hälfte dieser Mischung versetzt man darauf mit
1—2 Tropfen alkoholischer (4—5%iger) x-Naphthollösung und macht mit
Natronlauge alkalisch. Es tritt bei Gegenwart von Phenetidin eine trotz
der schon durch das Kochen mit Salzsäure entstandenen Verfärbung des
Harns deutlich erkennbare rein rothe Färbung ein, die beim Ansäuern mit.
Salzsäure rothviolett wird. Die zweite Hälfte der Mischung kann man mit
1—2 Ccm. 3%igen Carboiwassers versetzen und wieder mit Natronlauge
alkalisch machen: Es tritt Gelbfärbung ein, die beim Ansäuern mit Salz¬
säure in eine blassrothe übergeht. Die a-Naphtholprobe scheint jedoch wegen
der grösseren Färbungsintensität zuverlässiger zu sein.
Nach Darreichung von Pyramidon tritt nach Konrad Gregor 04 ) im
Verlauf der auf die Einnahme des Medicamentes folgenden 12 Stunden eine
kirschrothe Färbung des Urins auf, während die übrigen Harnportionen des¬
selben Zeitraumes normal gefärbt erscheinen. Der rothe Farbstoff nach
Pyramidon lässt sich aus dem Harn leicht durch Schütteln mit Essigäther
entfernen; er wird nicht durch Bleiacetat gefällt. Durch Zusatz von Salz¬
säure oder Salpetersäure wird er sofort zerstört und der Harn nimmt nor¬
male Gelbfärbung an. Der rothgefärbte Harn, ebenso wie der mit Essig¬
äther extrahirte Farbstoff weist spectroskopisch keine Absorptionsstreifen
auf. Da sich dieser Körper anscheinend nicht rasch zersetzt, ist es leicht
möglich, aus einer Reihe von Pyramidonharnen durch Ausfällen mit Blei¬
acetat und Extrahiren des Filtrats mit Essigäther hinreichend grosse Mengen
zur weiteren Untersuchung zu gewinnen. Durch Abdestilliren eines Theiles
des Lösungsmittels kann man ihn sodann von anderen mitextrahirten,
schwerer löslichen Stoffen trennen. Er ist in concentrirter Lösung von tief
rubinrother Färbung. Nach vollständigem Abdestilliren und nochmaligem
Lösen des Rückstandes in Essigäther bekommt man einen schwerer und
einen leichter löslichen Antheil, welch letzterer wieder durch Ligroin fällbar
ist. Pyramidon giebt auch, ähnlich wie Antipyrin, wenn auch nur vorüber¬
gehend, auf Eisenchlorid Rothfärbung.
Zum Nachweis von Chinin im Harn empfiehlt A. Christomanos 65 )
wässerige Pikrinsäurelösung. Der entstehende Niederschlag von pikrinsaurem
Chinin ist in kaltem Wasser unlöslich, in warmem Alkohol leicht löslich. Am
Rande des Deckglases bilden sich nach Verdunstung des Alkohols nadelförmige
gelbliche Krystalle. Da Esbach s Reagens im Eiweissharn ebenfalls einen
Niederschlag giebt, ist die Probe nur im eiweissfreien Harne anwendbar.
Die Giftigkeit des Harns* erörtert A. A. Hymans van den Bergh 66 );
hierbei wendet er sich gegen die Brauchbarkeit der von Bouchard ange¬
gebenen und von französischen Autoren häufig angewandten Methode,
Thieren bestimmte Mengen Harn in eine Vene einzuspritzen, bis das Thier
stirbt und so den >toxischen Coefficienten« des betreffenden Harnes zu be¬
stimmen. Allerdings ist die Wirkung der Kalisalze des Harns allein nicht
imstande, den ganzen Symptomencomplex der Harnvergiftung zu erklären,
wohl aber in Verbindung mit der Einführung einer im Verhältnis zur Blut-
* Vergl. auch den folgenden Artikel.
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Harn.
169
flüssigkeit sehr concentrirten Salzlösung, durch welche nicht nur die rothen
Blutkörperchen, sondern auch die Organe, besonders das Centralnerven¬
system, durch Wasserentziehung geschädigt werden; so erklärt sich auch
die Thatsache, dass die Harnasche in Wasser aufgelöst, die Erscheinungen
der Harnvergiftung hervorzurufen vermag. Aber auch abgesehen davon ist
die Methode Bouchards nicht einwandsfrei. Das Lebendgewicht so kleiner
Thiere ist nämlich zu sehr beeinflusst vom Füllungszustande des Magen-
darmtractes, die Einspritzungsgeschwindigkeit ist von ausserordentlichem
Einfluss auf den Ausfall des Versuches, und die Menge des zur Tödtung
des Thieres erforderlichen Harns ist auch nicht sicher anzugeben, denn das
Thier braucht eine gewisse Zeit zum Sterben und ist jedenfalls schon tödt-
lich vergiftet, lange bevor der Tod wirklich eintritt. Zu alledem kommt noch
die verschiedene Widerstandskraft der einzelnen Thiere, die hauptsächlich
abhängt von der Functionstüchtigkeit der ausscheidenden Organe, in erster
Linie der Nieren. Die Methode kann uns daher über Erhöhung oder Erniedri¬
gung der Giftausscheidung aus dem Organismus nicht belehren, auch ist
sie nicht imstande, uns einen Einblick über Veränderungen des Stoffwechsels
bei Krankheiten zu gewähren. Ueber eine sialogene Eigenschaft des Urins
berichtet Mavrojannis. 67 ) Ein Harn (spec. Gew. 1016) einer an Melancholie
und Stupor leidenden Kranken tödtete zu 110 Ccm. ein Kaninchen nach
Herabsetzung der Temperatur um 4° C., er zeigte nur geringe diuretische,
krampferregende myotische Wirkung, erregte aber einen kräftigen Speichel¬
fluss. Charrin bemerkt dazu, dass er sialogene Wirkung vom Urin eines
Neugeborenen beobachtet hat, ferner von Extracten von Muskeln und Ein-
geweiden. Bouchard, RßNON u. a. sahen Speichelfluss bei Urämie.
Die Frage über die Giftwirkung des normalen Harnes haben auch
Posner und Vertun 68 ) eingehend studirt. Sie wenden zunächst gegen die
Versuchsanordnung von Bouchard und seinen Schülern, welche grössere
Mengen normalen Harnes in die Vene injicirten, ein, dass hierbei die Ver¬
änderung des Blutdrucks durch die Menge der eingespritzten Flüssigkeit,
die Einwirkung auf den Circulationsapparat, die Möglichkeit einer Throm¬
bose oder Embolie zu berücksichtigen seien, und dass dabei die individuell
verschiedene Widerstandsfähigkeit der Versuchsthiere in Betracht komme,
vor allem sei aber die Verschiedenheit der Concentration von Blut und Harn,
der verschiedene Salzgehalt ausseracht gelassen. Um diese Fehlerquellen
auszuschalten, wandten Posner und Vertun bei ihren Versuchen nicht die
endovenöse, sondern die subcutane Infusion an; sie benützten ferner weisse
Mäuse, die ein annähernd gleiches constantes Gewicht besitzen; vor allem
aber berücksichtigten sie genau die Concentration des einzuspritzenden Harns
im Vergleich zu der des Blutes, indem sie hiefür die Gefrierpunktserniedri¬
gung als Massstab nahmen, die zwar kein genaues Bild der Concentration
überhaupt, wohl aber der auf der Quantität der Molecüle beruhenden os¬
motischen Eigenschaft der Flüssigkeit giebt. Vorher hatten sie festgestellt,
dass Kochsalzlösungen von 0,91% dem Blute isoton, d. h. dieselbe Gefrier¬
punktserniedrigung haben wie das Blut, dass man dem Versuchsthiere
von dieser isotonen Flüssigkeit so viel einspritzen kann, wie es überhaupt
aufnimmt, ohne dass es Schaden leidet, dass dagegen Lösungen von höherer
oder geringerer Concentration an dem Thiere entsprechende geringere oder
stärkere Vergiftungserscheinungen hervorrufen; dieselbe Beobachtung wurde
mit Leitungswasser und Traubenzuckerlösung gemacht. Auch bei der In-
jection von Harn konnte nun festgestellt werden, dass die geringste Gift¬
wirkung hervorgebracht wurde, wenn der Urin die gleiche Gefrierpunkts¬
erniedrigung wie das Blut hatte, dass die Toxicität mit der moleculären
Concentration steigt und fällt und dass jedenfalls der grösste Theil der
Giftwirkung normalen Harns auf dieses Moment zurückzuführen ist, wenn
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170
Harn
auch chemische Agentien, und zwar höchstwahrscheinlich die Kalisalze, nicht
ganz unbetheiligt sind. So dürfte auch die wichtigste Form der Harnvergif¬
tung, die Urämie, in einer erhöhten moleculären Concentration des Blutes
und daraus resultirenden Wasserentziehung aus den Geweben ihre häufige,
wenn auch nicht constante Ursache haben.
ln einem von Wakburu öü ) beobachteten Falle von Bakteriurie ent¬
leerte der sich in Spitalspflege wegen Bronchitis befindliche Mann unter
Schüttelfrost und zweitägigem hohen Fieber plötzlich trüben Urin. Nieren¬
oder Blasenaffection fehlt; die Cultur aus dem steril entnommenen Harn
ergab Bacill. lactis aerogenes. Die Frage, w r ie dieser Bacillus in die
Blase gelangte, beantwortet Warburg nach Ausschluss der anderen Mög¬
lichkeiten dahin, dass der fragliche Bacillus aus dem Darm oder aus der
erkrankten Lunge ins Blut und von hier aus in die Blase gelangt sein dürfte.
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bei Nierenkrankheiten mit einem Beitrag zur Lehre von der Urämie. Deutsches Arch. f. klin.
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Farbs’offe bei der quantitativen Bestimmung des ilarnindicans. Ebenda. XXVIII, pag. 276. —
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Harn. — Harngiftigkeit. 171
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Loebisch.
Harngiftigkeit« Die 1887 von Bouchard gegründete Lehre von
den Autointoxicationen ist in Deutschland erst Mitte der Neunziger Jahre
weiteren ärztlichen Kreisen bekannt geworden. Das Interesse, das sie auch
hier sofort erregte, hat wohl eine grosse Zahl klinischer Arbeiten hervorge¬
bracht, welche die neue Lehre mehr oder minder zu stützen und auszubauen
vermochten. Aber die exacte Forschung, und zwar sowohl die pathologische
Chemie wie die experimentelle Pathologie haben davon im allgemeinen nur
wenig Notiz genommen, oder sie sind auf diesem allerdings recht schwierig
zu bebauenden neuen Gebiete ziemlich unfruchtbar geblieben. Ja sogar die
theoretische Kritik (hauptsächlich Fr. MCller und C. A. Ewald) hat diese
ganze Lehre ziemlich schroff als nicht genügend begründet zurückgewiesen.
Wenn man von dem Standpunkt ausgeht, für diese Lehre Grundlagen im
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172
Harngiftigkeit.
Sinne der modernen medicinischen Wissenschaft zu fordern, erscheint dieses
Urtheil im grossen und ganzen auch durchaus berechtigt. Ich schliesse mich
dem in dieser Hinsicht selbst an. Ob nicht aber auch die klinische Betrach¬
tung in dieser Frage ein entscheidendes Wort mitsprechen darf, soll an dieser
Stelle nicht weiter erörtert werden, da es sich hier nur darum handelt,
einen der wesentlichen Bestandtheile der Lehre von den Autointoxicationen.
der bisher einen ihrer solidesten Grundsteine gebildet hat, nach dem neuesten
Stande der Wissenschaft zu würdigen.
Für Bouchard war die Lehre vom Harngift der Ausgangs- und Angel
punkt seiner ganzen Theorie. Er deducirte, dass die endogenen Gifte des
Organismus, die durch seine eigene Zeilthätigkeit gebildet werden, im Harne
mit den Endproducten des gesammten Stoffwechsels zur Ausscheidung kommen
müssen. Je geringer die Giftigkeit des Harns sich erwiese, desto mehr Gift¬
stoff müsste im Körper zurückbehalten sein, und umgekehrt könnten aus
einer starken Giftigkeit des Harns auf eine vorangegangene Entgiftung des
Körpers Rückschlüsse gemacht werden. Dieser Masstab setzte die Kenntniss
der Giftigkeit des normalen Harns voraus. Dass der Harn giftig ist, war
schon lange vor Bouchard bekannt, aber dieser hat es zuerst unternommen,
den Grad der Giftigkeit zu messen und zu bestimmen. Er bediente sich dazu
eines sehr geistreich ersonnenen und dabei sehr einfachen Verfahrens: näm¬
lich die Ueberführung des zu prüfenden Harns in den Körper eines Ver¬
suchstieres und zwar mittels intravenöser Injection. Auf die Technik der
Methode soll nicht weiter eingegangen werden, nachdem sie im letzten Jahr¬
zehnt in zahlreichen Abhandlungen und Monographien (cf. u. a. das Buch des
Referenten: Ueber die Autointoxicationen des Intestinaltractus, Berlin 1895)
mitgetheilt worden ist. Es sei nur erwähnt, das Bouchard als »urotoxischen
Coefficienten des Harns« dasjenige Gewicht des Versuchskaninchens in Kilo¬
gramm bezeichnet, welches durch die vom Kilogramm Körpergewicht des
Kranken in 24 Stunden entleerte Harnmenge getödtet wird. Er beträgt beim
gesunden Menschen 0,465 und schwankt in Krankheiten zwischen 0,1 und
2,0. Bouchard selbst und eine grosse Zahl seiner Schüler sowie seiner
weiteren Landsmänner, ferner auch manche italienische Autoren u. a. haben
die Untersuchungsmethode bei acuten und chronischen Krankheiten in der
umfassendsten Weise angewendet und aus dem Ergebniss ohne Bedenken
Rückschlüsse auf die Stoffwechselvorgänge im Organismus des betreffenden
Kranken und das Wesen der Krankheit gemacht. In Deutschland ist man,
wie der Lehre von den Autointoxicationen überhaupt, auch gegenüber dieser
BoucHARD'schen Methode zur Bestimmung der Harngiftigkeit sehr zurück¬
haltend gewesen. Schon die ersten Autoren (v. Noorden und der Referent)
haben Werth und Beweiskraft des Verfahrens angezweifelt; ihnen sind später
Gumprecht, Fr. Müller, Ewald, Posner u. a. gefolgt. Am einschneidendsten
aber war die Kritik eines holländischen Autors, Hymans van den Bergh,
welcher der Methode jede Brauchbarkeit bestritten hat und die Gründe dafür
in überzeugender Weise auf Grund zahlreicher eigener Versuche darge¬
legt hat.
Bei der Kritik der BoucHARD schen Untersuchungsmethode sind zwei
Punkte auseinander zu halten, erstens einmal der Werth der Methode an
sich, und zweitens die Berechtigung, aus ihren Ergebnissen pathognomoni-
sche und diagnostische Schlussfolgerungen abzuleiten. Wir wollen letzteren
Punkt zuerst erledigen. Man versteht wohl eine Angabe etwa derart: dass
0,1 Grm. K CI 1 Kgrm Thier tödtet. Das ist eine bestimmte Dosirung eines
bestimmten Giftes. Wer aber vermag eine exacte Vorstellung mit einer der¬
artigen Angabe zu verbinden, dass 40 oder 60 Ccm. eines Harns 1 Kgrm.
Kaninchen tödten? Der Harn ist nicht die Lösung weder eines einzelnen,
noch mehrerer bekannter Giftstoffe. Enthielte der Harn auch nur zwei ver-
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Harngiftigkeit.
173
schieden© Substanzen, so wäre der Massstab der Prüfung schon werthlos,
so lange nicht der Antheil eines jeden dieser beiden Theile für sich be¬
stimmt werden kann. Nun ist aber der Harn ein Mixtum compositum, dessen
zahlreiche einzelne Bestandtheile in ihrer chemischen Natur wie in ihrer
Giftwirkung sich wesentlich von einander unterscheiden. Man ist ja nicht
einmal berechtigt, den Ham nach seinen hauptsächlichen Componenten als
eine Harnstoff-Kochsalzlösung zu bezeichnen, weil daneben noch viele andere
Substanzen in schwankender Menge vorhanden sind, die namentlich, wenn
sie aus pathologischem Harn stammen, in ihrer Wirkung unberechenbar sind.
So wird z. B. im Falle einer starken Indicanurie das dabei in grösserer
Menge zur Ausscheidung kommende Salz (indoxylschwefelsaures Kalium) ohne
Zweifel im Blute eines so kleinen Versuchsthieres nicht indifferent bleiben.
Der Harn des Menschen in seiner Gesammtheit kann also gar nicht als
Reagenz für eine andere Thierart verwendet werden. Es ist ferner doch
als ganz willkürlich anzusehen, die hervorgetretene Giftwirkung auf orga¬
nische Gifte und speciell auf solche im Körper des Kranken selbst gebildete
zurückzuführen. Schliesslich ist der Harn doch nur die Sammlung der Endpro-
ducte des Stoffwechsels, welche nur bedingt einen Rückschluss auf die lebenden
Vorgänge im Organismus und sogar nur einige derselben gestattet, nämlich
nur dann, wenn es sich um die genaue quantitative Analyse einzelner chemisch
wohlbekannter Substanzen handelt. Wenn der menschliche Harn auch wirk¬
lich beim Kaninchen eine Vergiftung (unbekannter Natur) erzeugt, wie darf
man daraus Schlussfolgerungen über die Natur des Krankheitsprocesses im
menschlichen Organismus, aus dem der Harn stammt, ableiten? Eine der¬
artige Logik ist doch sehr willkürlich und nicht mehr streng wissen¬
schaftlich.
Was nun die Methode der subcutanen Injection des Harns zur Prüfung
seiner Toxicität anlangt, so haftet ihr, wie jetzt feststeht, eine ganze Reihe
von Fehlern an, die sie unzuverlässig, ja unbrauchbar machen und die Ab¬
leitung von Schlussfolgerungen nicht berechtigt erscheinen lassen. Der Re¬
ferent hat als der erste festgestellt, dass der BoucHAiuvsche urotoxische
Coefficient für den normalen Harn ganz und gar nicht eine feststehende
Zahl, sondern im Gegentheil eine nach oben wie unten ausserordentlich
schwankende ist, und zwar um nicht weniger oder zuweilen sogar noch
mehr als etwa die Hälfte seiner eigenen Grösse (wie sie Bouchard ange¬
geben hat)! Wenn, wie sich bei zahlreichen Nachprüfungen ergeben hat, ein
Kilogramm Kaninchen vom normalen Menschenharn in einem Falle 50 Ccm., im
zweiten 60, im dritten 70, im vierten 80 und im fünften Falle 90 (um nur
runde Zahlen zu nehmen) verträgt, so kann von einer bestimmten Grösse,
oder auch nur Durchschnittsgrösse der normalen Harngiftigkeit nicht die
Rede sein. Diese erheblichen Schwankungen sind durch zweierlei Umstände
hervorgerufen: durch die individuellen Differenzen des geprüften mensch¬
lichen Harns einerseits, des Versuchsthieres andererseits. Was zunächst
letzteren Punkt anlangt, so bedingen Alter, Geschlecht, Körpergewicht,
der jeweilige Kräfte- und Ernährungszustand Unterschiede in der Wider¬
standsfähigkeit, die für die Kaninchen unter einander wahrscheinlich nicht
geringer sind als zwischen den Menschen, van den Bergh hat darauf auf¬
merksam gemacht, dass die Bestimmung der Grösse der Harngiftigkeit u. a.
auch deshalb so grossen Schwankungen unterliegt, weil bei Berechnung des
Körpergewichtes der Inhalt des Magendarmcanals mit hineinbezogen ist, der
sehr verschieden an Menge ist und bis zu 200—300 Grm. betragen kann.
Auch hat dieser Autor mit Recht darauf hingewiesen, dass der Zeitpunkt
des Eintritts des Todes des Versuchsthieres kein exacter Anhaltspunkt für
die Beurtheilung der Toxicität des Harnes ist, weil ja schon zuvor Ver¬
giftungserscheinungen, wie Convulsionen, Myosis, Exophthalmos, Speichelfluss
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174
Harngiftigkeit.
13 . dergl. auftreten, und zwar bei den einzelnen Thieren zu sehr verschiedener
Zeit. Beim Menschen und überhaupt im ganzen Thierreich betrachten wir
doch eine Substanz nicht erst dann al9 giftig, wenn sie bereits tödtet!
Warum soll zu Gunsten des Harns eine Ausnahme von dieser biologischen
Grundanschauung gemacht werden ? Wenn es sich aber für die Bestimmung
des BoucHARD schen urotoxischen Coefficienten als nothwendig erweist, dann
ist damit wiederum die Unzulässigkeit der Methode dargethan.
Es kommt hinzu, dass die Dosis der Giftigkeit selbst einfacher Sub¬
stanzen nicht nur bei verschiedenen Thierarten, sondern auch bei den einzelnen
Individuen derselben Species keine feststehende, vielmehr in mehr oder
minder breiten Grenzen schwankende ist. So haben z. B. Godart und Slosse
bei Vergiftungen von Kaninchen mit Strychnin Werthe gefunden, die pro
Kilo von 0,34—2,30 Mgrm., d. h. also um fast das Zehnfache des Minimums
schwankten. Aehnliche Erfahrungen liegen, wenn auch nicht immer so schroff,
zahlreich in der experimentellen Pathologie und Pharmakologie vor, und
auch in der Chronik der beim Menschen vorkommenden Intoxicationen findet
sich vielfach Analoges. Gift ist eben, wie seit langem bekannt, kein absoluter,
sondern ein relativer Begriff. Die Wesenheit eines Giftes ist in hohem Masse
von der individuellen Widerstandsfähigkeit des thierischen Organismus ab¬
hängig.
Woher stammen nun aber die Krankheitserscheinungen, welche man
thatsächlich nun doch nach intravenöser Injection des menschlichen Harns
beim Kaninchen beobachten kann? Sind sie als die Wirkungen eines über¬
tragenen Giftstoffes im Sinne Bouchard s anzusehen ? Oder bedingen andere
Umstände diese scheinbare Giftigkeit? Als dritte Unterfrage kann man hinzu
thun: Tritt diese Giftigkeit nicht erst unter gewissen Bedingungen auf und
verstärken diese die spontane Giftigkeit? Nach neueren eigenen Unter¬
suchungen, die demnächst an anderer Stelle ausführlich publicirt werden sollen,
kann ich berichten, dass die Einfuhr einer so grossen Flüsäigkeitsmenge in
den Körper des Versuchstieres, die ich früher mit anderen schon allein für
schädigend hielt, vollkommen irrelevant ist — allerdings nur unter einer
sehr wesentlichen Bedingung, die gerade bei Bouchard s Versuchsanordnung
nicht erfüllt ist. Man kann einem kleinen Kaninchen von 1000 Grm. oder
weniger 150 oder 250 Ccm. oder noch mehr Flüssigkeit unter gewisser
Voraussetzung intravenös infundiren, ohne dass die geringste Schädigung
zutage tritt, ohne dass eine Ueberfüllung des Blutkreislaufes oder eine Steige¬
rung des Blutdruckes, oder was man sonst alles theoretisch befürchten kann,
eintritt. Die Voraussetzung, unter der die Einfuhr solch enormer Flüssig¬
keitsmengen schadlos verläuft, das ist — die Einhaltung einer gewissen
Grenze in der Geschwindigkeit der Infusion. Diese Bedingung ist die
wichtigste in der ganzen Technik solcher Versuche, und bei ihrer Ausser-
achtlassung kann man leicht Folgeerscheinungen beobachten, die man dem¬
gemäss auf die »Giftwirkung« der infundirten Flüssigkeit zu beziehen geneigt
ist, während sie nur die Wirkung gewisser physikalisch-chemischer Störungen
im Organismus des Versuchsthieres sind, die dem Process der Infusion an
sich unter gewissen Bedingungen anhaftet. Es kommt nämlich in der Haupt¬
sache darauf an, wieviel Flüssigkeit in der Zeiteinheit (z. B. in einer
Minute) in den Blutkreislauf des Versuchsthieres hineingebracht wird. Spritzt
man mit einer Geschwindigkeit von 2 oder 3 bis zu 5 Ccm. in der Minute
ein, so kann man nicht nur von physiologischer (0,9 0 / 0 iger) und zwei- und
dreimal stärker concentrirter Kochsalzlösung, sondern auch von normalem
und pathologischem Harn 200, 300 Ccm. u. s. w. infundiren, ohne dass wesent¬
liche Störungen bei dem Thiere hervortreten. Der gesunde thierische
Organismus besitzt nämlich eine geradezu wunderbare Schutzvorrichtung,
sich vor Ueberfüllung seines Blutkreislaufes und Ueberschwemmung seiner
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Harngiftigkeit.
175
Gewebe zu bewahren. Diese Function der Regulation übernehmen nämlich die
Nieren, welche mit grosser Schnelligkeit die infundirte Flüssigkeit wieder
ausscheiden, fast ebenso schnell, als sie in den Körper hineingebracht sind,
so dass gar keine Flüssigkeit aus dem Gefässsystem in die Gewebe über¬
treten kann. Die hoch gesteigerte Diurese der Versuchstiere bringt die
natürliche Reaction des Organismus zum getreuen Ausdruck. Auf Neben¬
erscheinungen bei den Versuchen sei hier nicht näher eingegangen.
Die Ausscheidung der infundirten Flüssigkeit geht so vor sich, wie
die normale Nierensecretion des Thieres. Sie ist eben dem eigenen Blute des
Thieres vollkommen gleich geworden. Das konnte sie nur, wenn sie keine
Veränderung in der Blutmischung hervorrief, wenn sie dem Blut in dessen
Eigenschaften glich. Dass es sich dabei weniger um chemische als auch
gleichzeitig um physikalische Eigenschaften handelt, das ist die neueste Er¬
kenntnis, die einen ganz neuen Gesichtspunkt in die Lehre vom Harngift
gebracht hat
Wie jede Flüssigkeit hat auch das Blut eine ihr eigene Dichte (Con-
centration), die von seinem Salzgehalt abhängig ist. Vermöge der gelösten
Salztheilchen übt das Blut beim Hindurchgehen durch die Gefässwandungen
und Uebertritt in die Gewebe einen Druck aus, den man »osmotischen
Druck« nennt. Seine Grösse ist bedingt nicht durch die Art der gelösten
Salze (ob Kalium oder Natriumsalze oder dergl., ist für diese Betrachtung ohne
Belang), sondern durch die Zahl der in der Einheit (z. B. einem Cubikcenti-
meter) enthaltenen Molecüle. Alle äquimolecularen Lösungen haben gleiche
osmotische Druckkraft, d. h. sie sind isosmotisch oder isotonisch. Von zwei
Lösungen heisst diejenige, welche eine grössere Zahl gelöster Molecüle ent¬
hält, hyperisotonisch oder kurzweg hypertonisch, eine mit geringerer mole-
cularer Concentration hypoisotonisch oder hypotonisch. Der osmotische Druck
äussert sich im physiologischen Sinne, wie man gesagt hat, durch die
»wasserentziehende Kraft« der betreffenden Lösung, so dass, wenn zwei nicht
äquimoleculare Lösungen Zusammentreffen, die concentrirtere verdünnt, die
dünnere dichter wird, bis ein Ausgleich erreicht ist.
Gehen äquimoleculare Lösungen in einander über, so vollzieht sich das
ohne merkbare Veränderungen. Das ist genau so auch im thierischen Organis¬
mus, und das ist auch der Fall, der bei der Injection von sog. physiologischen
Kochsalz- oder Traubenzuckerlösungen u. dergl. in das Blut vorliegt. Posner
und Vertun haben bei Mäusen von solchen isotonischen Lösungen soviel
subcutan einspritzen können, als die Thiere auf diesem Wege überhaupt
aufzunehmen imstande sind, d. h. das Gleiche des Körpergewichts, während
Abweichungen von der Isotonie nach oben oder unten bei bestimmter Menge
den Thieren den Tod brachten, z. B. von einer 5%i£ en Kochsalzlösung bereits
2 Ccm., von einer 2%igen Kochsalzlösung 5 Ccm., von Traubenzucker¬
lösungen ist nur die 5,4%ige isoton und unschädlich. Auch für den Harn
wiesen Posner und Vertun in einer solchen Versuchsanordnung nach, dass
mit der Steigerung der molecularen Concentration der Harne, gemessen nach
der Gefrierpunktserniedrigung mittels des BECKMANN-FRiEDKNTHAi/schen Ap¬
parates, auch die schädliche Wirkung wächst, so dass die Autoren mit
Recht daraus schlussfolgern, dass eben auch der Harn nur dann giftig wirkt,
wenn er nicht isoton mit dem Blute ist, dem ja nach neueren Feststellungen
nicht mehr eine 0,6— 0,7%i sondern eine 0,9%ige Kochsalzlösung adäquat ist.
Meine neueren Untersuchungen haben mir nun aber gezeigt, dass die Sache
doch noch etwas sein kann. Man kann selbst hyperisotonische Lösungen, auch
Harn, der ja etwa einer 3° 0 igen Kochsalzlösung entspricht, ins Blut spritzen,
ohne dass schädliche Wirkungen auftreten, wenn das nur sehr langsam
(2—3 Ccm. in der Minute) erfolgt. Dann hat der Organismus Zeit, im Blut
sofort einen Stoffaustausch vorzunehmen. Die eintretende stärkere molecu-
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176
Harngiftigkeit.
lare Concentration des Blutes gleicht sich schnell wieder aus, weil die
Nieren den Ueberschuss sofort ausscheiden. »Der Organismus ist immer be¬
müht, die osmotische Spannung des Plasmas auf der gleichen Höhe zu er¬
halten« (vax den Bergh), und das Mittel dazu, um die Concentration des
Blutes constant zu erhalten, sind die Nieren.
Spritzt man den Kaninchen hyperisotonische Lösungen ebenso langsam
in s Blut, so macht der thierische Organismus noch stärkere Anstrengungen,
den osmotischen Druck constant zu erhalten, indem er, da die Nieren allein
nicht ausreichen, den Ueberschuss auszuscheiden, alle übrigen drüsigen Organe,
vor allem den Darm zu Hilfe nimmt. Dasselbe sieht man nach Ausschaltung
der Nieren schon nach Infusion isotonischer Lösungen. Bei stärkeren Concen-
trationen, auch beim Harn, tritt aber unter diesen Verhältnissen, selbst bei
langsamer Infusion doch sehr bald der Tod des Versuchsthieres ein.* Offenbar
ist dann doch das Blut mit dem Ueberschuss an Salzen zu stark überladen,
um sich in derjenigen Mischung erhalten zu können, die die Fortdauer des
Lebens möglich macht. Die Concentrationsänderung tritt plötzlich zu stark
ein, um durch Abgabe an die Gewebe sich ausgleichen zu können.
Wenn nach den mitgetheilten Beobachtungen ein grosser Theil der that-
sächlichen Giftigkeit schon des normalen Harns, wie van den Bergh und ich
selbst schon früher dargethan haben, sicherlich auf die physikalischen Wir¬
kungen der Harninjection, d. h. die Differenz der osmotischen Spannung zwischen
Harn und Blut des Versuchsthieres zurückzuführen ist, namentlich bei der
BoucHARDschen Art der Versuchsanordnung, wobei 10 Ccm. Harn in der
Minute injicirt werden, so kann man gerade auf Grund der letzteren oben mit¬
getheilten Versuche doch daran nicht zweifeln, dass ein Theil des Harngiftes
ein chemisch wirkendes sein muss, wie man seit langer Zeit angenommen hat.
Dieser chemische Antheil sind hauptsächlich die Kalisalze, deren Giftwirkungen
durch zahlreiche Thierversuche aus älterer und neuerer Zeit erhärtet sind.
All die bisher genannten Factoren tragen zum Zustandekommen der
Giftigkeit der menschlichen Harns bei intravenöser Uebertragung auf ein
Thier bei, und zwar in einer ihrem procentuellen Verhältnis nach nicht genau
abzuschätzenden Menge.
Jedenfalls bleibt für die Annahme eines chemischen, organischen Harngiftes
nicht viel übrig. Damit fällt aber leider die hauptsächlichste Stütze der Lehre
vom Harngift, wie sie Bouchard für den Zweck der Begründung der Lehre von
den Autointoxicationen aufgestellt hat. Dennoch halte ich die Möglichkeit der
Existenz eines organischen Harngiftes, wenn es auch noch nicht gefunden und
erwiesen ist, durchaus nicht für ausgeschlossen. Namentlich ist für patholo¬
gische Harne daran festzuhalten, in denen ja oft abnorme Stoffwechselproducte
nachweisbar sind, so, um nur ein Beispiel herauszugreifen, Leucin und Tyro¬
sin bei der acuten gelben Leberatrophie, einer klinisch ganz zweifellosen in¬
testinalen Autointoxication. Die Lehre vom Harngift ist weit entfernt davon,
abgeschlossen zu sein, und es bleibt der Forschung auf diesem Gebiete, auf
der ihr die Klinik vorausgeeilt ist, noch viel zu thun übrig.
Literatur: Verhandlungen des Congresses für innere Medicin. Karlsbad
1898, mit den Vorträgen von Fr. Müller und Brikger und den Discussionsbemerkungen von
Ewald, Albu u. a. — Hymans van den Bergh, Ueber die Giltigkeit des Harns. Zeitschr. f.
klin. Med. 1898, XXXV. — Gumprecut, Magentetanie und Autointoxication. Centralblatt für
innere Med. 1897. — Posner und Vertun, Ueber die Giftvvirkung des normalen Harns. Ber¬
liner klin. Wochenschr. 1900, Nr. 4. — C. A. Ewald, Die Autointoxication. Ebenda. 1900,
Nr. 8 und 9 (Sacularartikel). In letzten beiden Arbeiten ist auch die übrige neuere, übrigens
spärliche Literatur nachzusehen. — Ueber die Grundlagen zur Beurtheilung der Verhältnisse
des osmotischen Druckes orientirt man sich am besten aus der kleinen Schrift von H. Köppe,
Physikalische Chemie in der Medicin. Wien 1900. Albu (Berlin).
* Alles Nähere über die interessanten Versuchsergebnisse behalte ich mir für eine
ausführliche Mittheilung in eiuer Fachzeitschrift vor.
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Harnsäure. — Hedonal.
177
Harnsäure, Bildung, s. Harn, pag. 145; Ausscheidung, ibid.
pag. 147 ff.
Harnstofifbestimmung, s. Harn, pag. 145.
Hedeoma, s. Poleiöl.
NH
Hedonal, C0\ n %„/CH 3 , Methylpropylcarbinol-Urethan,ein
. Orixp, tt
O3 n 7
zur Gruppe der Urethane zählendes Schlafmittel. Bekanntlich wurde das Aethyl-
NH
urethan, CO/q ^ jj , der Aethylester der Carbaminsäure, auf Anregung
Schmiedeberg's von Jolly und von v. Jaksch als Hypnoticum (von letzterem
namentlich für die Kinderpraxis) empfohlen. Das Mittel wurde jedoch wegen
der grossen Dosen, die für eine sichere Wirkung nothwendig sind, verlassen.
Es war vorauszusehen, dass ein Urethan, in welchem das Aethyl durch ein
kohlenstoffreicheres Alkoholradical ersetzt wurde, auch eine stärkere pharma¬
kologische Wirkung äussern werde; demgemäss versuchte Dreser das
Hedonal, in welchem, wie oben ersichtlich, das Aethyl durch den ein-
werthigen Rest eines Methylpropylcarbinols substituirt ist. Die bezüglichen
Thierversuche ergeben, dass das Hedonal dem Gewichte nach doppelt so
stark wie Chloralhydrat wirke, dass Athmung und Blutdruck nur in geringem
Masse durch das Mittel beeinflusst werden, und dass die Latenzzeit für die
Reflexbewegung des Anziehens der elektrisch gereizten Froschpfote während
des Hedonalschlafes um das Vier- bis Sechsfache gesteigert war.
Das von den Elbertelder Farbwerken dargestellte Hedonal bildet farblose, bei 76° C.
schmelzende Krystalle, siedet bei circa 215°, ist in kochendem Wasser löslich, in kaltem
weniger gnt; der Geschmack der Lösnng erinnert ausserordentlich stark an Pfefferminze.
Die Reinheit des Hedonals wird durch den Schmelzpunkt geprüft. Beim Kochen mit Alka¬
lien zerfällt es in Carbonat, Alkohol und in Ammoniak.
Das Mittel wurde von Paul Schuster bei Schlaflosigkeit, wie sie in¬
folge von organischen und functioneilen Krankheiten vorkommt und die
weder durch starke Schmerzen, noch durch starke Erregungszustände be¬
dingt ist, als ein von unangenehmen Nebenwirkungen freies Hypnoticum
befunden. Auch A. Eulenburg fand das Mittel bei leichter neurasthenischer
Agrypnie von Wirkung; hingegen verhielten sich Kranke mit manischen
Exaltationszuständen und solchen, bei denen heftige Schmerzen verschiedener
Art den Schlaf störten, ziemlich refractär; er äussert sich dahin, dass wir
es hier mit einem verstärkten Urethan zu thun haben, welches in dreifach
kleinerer Dosis wirkt; keineswegs kann aber das Mittel mit den stärkeren
Antineuralgicis — Morphium. Dionin — in Vergleich treten. Die von Dreser
constatirte diuretische Wirkung des Hedonals tritt nach Eulenburg beim
Menschen in ungleicher Weise, zuweilen aber recht auffällig hervor; auch
Nawratzki und Arndt beobachteten in manchen Fällen eine gesteigerte
Diurese nach Hedonal. Sämmtliche Urtheile stimmen darin überein, dass
das Mittel ein schwaches Hypnoticum darstellt, frei von unangenehmen
Nebenwirkungen, das übrigens zur Abwechslung mit anderen Schlafmitteln
immerhin angewendet werden kann.
Dosjrung. Erst Dosen von 1,0 sind beim Erwachsenen wirksam, doch
muss man oft bis zu 2,0, selbst 3,0 steigen, um einen Schlaf von 7—8 Stun¬
den zu erzielen. Eulenburg combinirt in Fällen, wo 2,0 nicht ausreichen,
0,5 Trional mit 1,0 Hedonal. Wegen seiner Schwerlöslichkeit wird das
Mittel in Pulverform gegeben; da es sehr schlecht schmeckt, lässt Eulen¬
burg, wo ein Corrigens nöthig ist, mit x / 2 —1 Theelöffel aromatischem Zimmt-
wasser, dem einige Tropfen von Orangenöl zugesetzt sind, dem trocken
genommenen Pulver nachspülen.
Encyclop. Jahrbücher. IX. |2
Difitized
hy Google
Original frnm
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178
Hedonal. — Hernia lineae albae.
Literatur: H. Dreser, Ueber ein Hypnoticum aus der Reihe der Urethane. Vortrag
au! der Natur!. Versannul. in München 1899. — Paul Schuster, Ueber ein neues Schlaf¬
mittel aus der Gruppe der Urethane. Aus der Privatklinik des Pro!. Mendel in Berlin.
Therap. Beil. d. Deutschen med. Wochensehr. 10. Mai 1900, pag. 19. — A. Edlenburg, Be¬
merkungen über Hedonal. Ebenda. 7. Juni 1900, pag. 20. — Nawratzki und Arndt, Ueber
das Hedonal. Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorl. Therap. Monatsh. Juli 1HOU,
pag. 372. Loehisrh.
Hernia lineae albae« Seit hundert Jahren ist diese Affection
in der medicinischen Literatur bekannt, dennoch aber ist sie bis auf den
heutigen Tag nicht Allgemeingut der Aerzte geworden. Der Umstand, dass
sie in der Mehrzahl der Fälle keine grobsinnfällige äussere Erscheinungen
macht, wie die Leisten- und Schenkelhernien, erklärt es zur Genüge, dass sie
nicht nur vom Patienten, sondern auch von Aerzten oft übersehen wird. Die
Bedeutung dieser Bruchform ist noch nicht genügend bekannt und gewürdigt.
Die Hernia lineae albae gehört zu den Grenzgebieten der inneren Me-
dicin und Chirurgie. In neuerer Zeit haben denn auch hauptsächlich chirur¬
gische Publicationen von v. Bergmann, Roth, Lindner, Wltzel u. a., das In¬
teresse dieser Affection in höherem Masse zugewendet.
In einer gewiss nicht kleinen Zahl von Fällen, in denen solche Hernien
die Ursache mehr oder minder schwerer und andauernder Verdauungs¬
störungen sind, ist die Erkennung dieses Zusammenhanges vielfach von
grosser praktischer Tragweite, weil die letzteren erst mit Beseitigung der
ersteren ihre Heilung finden können. Deshalb ist es die hauptsächlichste
Aufgabe dieser Zeilen, das Auffinden solcher Hernien zu erleichtern.
Die Hernia lineae albae ist in der Mittellinie der Bauchdecke gelegen.
Sie Ist die häufigste Form der Bauchdeckenbrüche, welche nur in seltenen
Fällen seitlich von der Mittellinie auftreten. Sie stellt einen rundlichen, meist
sich flach vorwölbenden Tumor dar, der allerdings bei oberflächlicher Be¬
sichtigung des Abdomens häufig nicht in die Augen fällt. Zuweilen lässt
nur ein leichter Schatten die Stelle ihres Sitzes vermuthen, ja manchmal
vermag überhaupt erst die sorgfältigste Palpation einen solchen Tumor nach¬
zuweisen. Oft bedarf es erst der Ausführung gewisser Bewegungen des
Patienten, um die Hernie zu Gesicht zu bringen. Darüber soll gleich noch
Näheres gesagt werden. Die Hernia lineae albae sitzt durchgehends zwischen
Nabel und Processus xiphoideus, zuweilen gerade etwa in der Mitte, meist
aber näher dem Nabel oder sogar unmittelbar über demselben. Ihre Grösse
ist eine sehr wechselnde, sie schwankt von der eines Fünf-Markstückes bis
zu der eines Fünf-Pfennigstückes und noch kleiner, so dass sie Geschwülste
von Kirschen- bis Apfelgrösse bilden können. Gerade diese winzigen Hernien
sind es, weiche dem Auge und sogar dem tastenden Finger leicht entgehen,
dabei aber zuweilen nicht weniger Schmerzen oder sogar noch mehr Beschwer¬
den machen als die grossen. Wenn sie bei aufmerksamer Betrachtung des Ab¬
domens nicht ohne weiteres sichtbar sind, kann man sie durch verschiedene
Hilfsmittel zu stärkerem Hervortreten bringen. Dazu gehört zunächst die
Wirkung eines willkürlich hervorgerufenen Hustenstosses. Charakteristischer
aber ist das Vorspringen dieser kugeligen Geschwülste bei Lageveränderungen
des Körpers, z. B. beim Vornüberbeugen des Oberkörpers im Stehen oder, nach
meinen Erfahrungen noch besser, beim Hintenüberbeugen des Körpers, ferner
beim Auf- und Niedersetzen des liegenden Patienten. Es ist die Anspannung
der Bauchdecken, welche die Hernie für das Auge deutlicher hervortreten
lässt. Die Hernia lineae albae sind nicht zu verwechseln mit den Bauch¬
brüchen, welche zuweilen (nach wiederholten Entbindungen, Entfernung von
Unterleibsgeschwülsten, Schwinden von Ascites u. a. m.) durch eine Diastase
der Musculi recti zustande kommen. Bei diesen Brüchen, die schon den
Uebergang zum Hängebauch bilden, handelt es sich ja nur um ein mechani¬
sches Vorfällen der Eingeweide. Bei der Hernia lineae albae ist dagegen
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Hernia lineae albae.
179
ein Brach mit allen seinen typischen Eigentümlichkeiten vorhanden, deren
anatomische Verhältnisse wir gerade erst durch die Autopsien in vivo seitens
der Chirurgen kennen gelernt haben: Bruchsack, Bruchpforte u. s. w. Zum
Begriff einer echten Hernia linea albae gehört die Ausstülpung eines Zipfels
des Peritoneums, welches den Bruchsack bildet. Freilich ist ein solches in
manchen Fällen gar nicht oder nur rudimentär vorhanden. Die Bruchpforte
dagegen fehlt nie.
Nach dem Peritoneum durchbohrt die Hernia, in gerader Linie nach
oben austretend, auch die Fascia transversa und die auseinander tretenden
inneren Ränder der Musculi recti, zuweilen gerade an der Stelle einer Inscriptio
tendinea. Den Inhalt des Bruches bildet zumeist ein Stück Netz (Omentum
majus) oder noch häufiger Fett von demselben; viel seltener liegen Darm¬
eingeweide darin. Für die Existenz eines wirklichen Magenbruches dieser Art
ist bisher noch kein einwandsfreier Fall beigebracht worden. Soweit man
nach der Untersuchung am Lebenden urtheilen kann, glaube ich allerdings
einmal eine solche Hernia in der Mittellinie des Bauches gesehen zu haben,
durch welche zeitweilig der Magen aus der Bruchhöhle heraustrat. Die
Hernia bestand bei der 70jährigen Frau schon länger als 12 Jahre und hatte
sich allmählich immer mehr vergrössert. Zur Zeit hatte der Bruchring den
Umfang eines Fünf-Markstückes. Die Patientin hatte eine hochgradige atonische
Gastrektasie mit Gastroptose. Bei starkem copiösen Erbrechen, welches in
Zwischenräumen von 4—6 Wochen aufzutreten pflegte, drängte sich regel¬
mässig ein Theil des Magens durch die Bruchpforte, in welcher sonst nur
einige kleine, untereinander durch derbe Stränge verwachsene Darmschlingen
lagen. Während diese nie vollständig reponibel waren, konnte der Magen
stets wieder in die Bauchhöhle zurückgebracht werden. Durch Aufblähen
des Magens konnte man sich davon überzeugen, dass eben wirklich der
Magen in der Hernia lag. War ein Theil desselben mit dem übrigen Bruch¬
inhalt vorgefallen, dann hatte die Bruchgeschwulst fast die Grösse eines
Kindskopfes.
Indessen sind solche Abnormitäten ausserordentlich selten, wie auch
überhaupt Darminhalt in den Hernien der Bauchmittellinie.
Den Typus bildet die Fetthernie! Man hat von dieser vielfach das
subseröse Lipom abzugrenzen gesucht, welches bei geschlossenem Peritoneum
als eine unmittelbar auf der Fascia transversa aufliegende Fettgeschwulst
unter der Haut zutage tritt. Meines Erachtens nach ist es aber unmöglich,
ein solches Lipom von einer Fetthernie in der Mittellinie des Bauches in vivo
zu unterscheiden, zumal sie selbst anatomisch oft in einander übergehen,
indem das subseröse Lipom meist allmählich das Peritoneum hinter sich
einzieht.
Litten und Lennhof haben ein bemerkenswerthes objectives Symptom
dieser Hernien mitgetheilt: das sogenannte Spritzphänomen, welches man
wahrnimmt, wenn man einen Finger auf die Stelle der Hernie legt und nun
einige kurze Hustenstösse ausführen lässt. In anderen Fällen fühlt man dieses
Spritzphänomen, wenn man die Hernie in die Bauchhöhle zurückzudrücken sucht.
Das Spritzphänomen stellt sich dar wie wenn ein feiner, vielfach getheilter
Wasserstrahl gegen den tastenden Finger gespritzt wird. In anderen Fällen
hat man mehr das Gefühl, als ob man Schrotkörner auseinander drängt,
Wasser aus den Poren eines Schwammes wegdrückt u. d. m. Dieses Phänomen
lässt sich aber keineswegs in allen Fällen von Hernia lineae albae hervor-
rufen. Sein Nachweis hat aber grosse diagnostische Bedeutung.
Hinsichtlich der Ursache der Hernien der Lineae albae wissen wir
wenig Bestimmtes. Sie kommt bei Männern viel häufiger vor als bei Frauen
und hauptsächlich im 3.—5. Lebensjahrzehnt. Ich kann auch die Angaben
vieler Autoren bestätigen, dass man diese Affection vorwiegend bei der
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Hernia lineae albae.
arbeitenden Bevölkerung antrifft. Das weist darauf hin, dass schwere körper¬
liche Arbeiten und Ueberanstrengungen wohl oft die Ursache dieser Brüche
sind. Wenn sie in vielen Fällen nicht selbst angeboren sind, so doch sicher¬
lich oft die Disposition dazu, wie zu anderen Hernien. Auch kann solche
Disposition sicherlich im Laufe des Lebens auch erworben werden, nament¬
lich durch Traumata. Ob starke Abmagerung, wie behauptet worden, die
Entstehung dieser Hernien begünstigt, erscheint mir sehr zweifelhaft, weil
man sie durchaus nicht gerade bei Abgemagerten oder schlecht genährten
Individuen sieht, vielmehr zuweilen sogar geradezu bei Fettleibigen. Der
Umstand, dass zuweilen die Beschwerden, die zur Entdeckung der Hernie
führen, plötzlich auftreten, beweist höchstens den plötzlichen Durchtritt des
Bruches durch eine wahrscheinlich schon vorgebildete Bruchpforte. Meist
vollzieht sich dieses Ereigniss ganz allmählich, wie bei den meisten Brüchen,
ohne von den Patienten besonders bemerkt zu werden.
Die Hernia lineae albae macht ihrem Träger häufig absolut keine Be¬
schwerden. Man beobachtet sie zuweilen als zufälligen Nebenbefund bei Unter¬
suchung eines Patienten aus ganz anderer Ursache. Sie vergrössert sich oft
viele Jahre hindurch gar nicht. Aus diesem Grunde muss man der Meinung
mancher Autoren entgegentreten, jede solche Hernie als eine schwere oder
auch nur als wesentlich pathologische Erscheinung hinzustellen. Da sie er-
fahrungsgemäss oft und lange Zeit völlig symptomlos besteht, hat man erst
dann gewisse Beschwerden der Patienten auf solche Hernien zurückzuführen
ein Recht, wenn andere Krankheitsursachen nicht nachweisbar sind, die schon
allein das Symptomenbild zu erklären imstande sind.
Der Symptomencomplex ist ganz und gar kein einheitlicher, vielmehr
sind die Krankheitserscheinungen, welche wirklich dadurch ausgelöst werden,
in den einzelnen Fällen sehr verschieden und in bunter Weise zusammen¬
gesetzt. Die Patienten klagen über schwankende oder unbestimmte Schmerzen
in der Magengegend oder im Leibe, die sie oft weder gut definiren noch
localisiren können, bald beim Stehen, bald beim Gehen auftreten oder sich
bei Bewegungen verschlimmern, bei Ruhe indess meist nachlassen. Die einen
fühlen die Schmerzen als Wühlen oder Stechen, die anderen als Krampf
u. dergl. Bald besteht das Bild einer Dyspepsie: Gefühl von Druck und
Fülle in der Magengrube geraume Zeit nach der Nahrungsaufnahme, die sich
bis zu lebhaften Schmerzen steigern können, bald besteht das proteusartige
Bild der sensiblen Magenneurose, das sich durch Aufstossen, Uebelkeit, Er¬
brechen, Magendruck u. dergl. m. bunt zusammensetzt und dabei in seinen
Erscheinungen und in seinem Verlauf ganz inconstant ist.
Charakteristisch ist für die Hernien nur das anfallsweise Auftreten von
heftigen Magenkrämpfen (Coliken), die zu Verwechslungen mit Gastralgien
und selbst Cholelithiasisanfällen führen können. Die Schmerzen strahlen von
der Bruchstelle in beide Seiten und den Rücken, ja auch nach der Brust
aus. Es ist deshalb Aufgabe, in allen Fällen von krampfartigen Schmerzen im
Leibe auch nach der Existenz einer solchen Hernie zu forschen. Die Schmerzen
sind von sehr wechselnder Intensität und Dauer.
Seitens des Magens bestehen in der Mehrzahl der Fälle keine Ano¬
malien. Sind solche vorhanden, so sind sie als Complicationen zu betrachten,
die mit der Hernie nichts zu thun haben. Die häufigste dieser Complica¬
tionen ist eine motorische Insufficienz als Ausdruck einer Atonie des Magens.
Es ist freilich nicht ganz die Möglichkeit von der Hand zu weisen, dass eine
solche Schwächung der Magenmusculatur hervorgerufen sein kann durch
die Zerrungen, welche eine solche Hernie am Peritoneum vielleicht öfters
macht, namentlich bei ihrem Aus- und Eintreten in die Bruchpforte infolge
von Husten, starken Bewegungen u. s. w. Bei der Hernia lineae albae tritt
ferner gelegentlich auch eine Saftsecretionsstörung des Magens auf, und zwar
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Hernia lineae albae.
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hauptsächlich Superacidität, welche wohl zweifellos auch hier wie so oft die
Folge allgemeiner Neurasthenie ist, welche man bei Patienten mit solchen
Hernien sehr häufig antrifft.
Die Diagnose der Hernia lineae albae ergiebt sich nach den bisherigen
Auseinandersetzungen von selbst. Sie ist leicht, wenn der untersuchende Arzt
nur daran denkt und das Abdomen aufmerksam inspicirt und palpirt. Ver¬
wechslungen der Herniengeschwülste mit anderen Abdominaltumoren sind ja
eigentlich nur bei grösserem Umfange möglich. Ich sah eine solche Hernie,
die, über der Mitte zwischen Proc. xiph. und Nabel sitzend, für einen Gallen¬
blasentumor gehalten worden war. Die subjectiven Krankheitserscheinungen
geben niemals einen Hinweis für die Diagnose.
Die Prognose ist quoad vitam eine absolut gute, quoad sanationem
aber keineswegs. Solche Hernien können ihren Trägem Jahre lang das Leben
recht qualvoll machen. Die gleich zu besprechende Therapie bringt in vielen,
ja sogar den meisten, aber durchaus nicht in allen Fällen Heilung, und
letztere auch leider zuweilen nicht andauernd.
Eine zufällig entdeckte Hernia lineae albae, die keine Beschwerden
macht, erfordert kein Eingreifen seitens des Arztes. Häufig bleibt sie Jahre-
und Jahrzehnte lang constant, ohne sich zu vergrössern und ohne Krank¬
heitserscheinungen auszulösen. Führen Schmerzen im Bauche oder Verdauungs¬
beschwerden den Kranken zum Arzt, so darf eine aufgefundene Hernia lineae
albae erst dann zum Gegenstand der Behandlung gemacht werden, wenn
man sicher andere Ursachen der Erkrankung ausschliessen kann. Sind solche
vorhanden, so sind erst diese zu beseitigen. Das gilt selbst von den Com-
plicationen der Hernia lineae albae, vor allem der motorischen Insufficienz.
Und zwar deshalb, weil die Therapie der Hernia lineae albae auf internem
Wege aussichtslos ist, der operative Eingriff nicht ohne Noth unternommen
werden soll. Die interne Therapie kann höchstens einige Symptome (z. B.
Schmerzen) mildern. Die Anordnung von Ruhe pflegt den Kranken gut zu
thun. Die nächstliegende Behandlungsmethode ist die Anlegung eines Bruch¬
bandes. Man lässt es nur wenig grösser nehmen, als der Bruch selbst ist«, und
ihre Oberfläche nicht convex (wie bei anderen Brüchen) gestalten, sondern
vollkommen plan, um eine allmähliche Dehnung und Erweiterung der Bruch¬
pforte zu verhüten. Dabei ist es natürlich gleichgiltig, ob diese Platte rund
oder viereckig gemacht wird. Die meisten Bandagisten sind solche Bruch¬
bänder zu machen nicht gewohnt, und man thut deshalb gut, ihnen genaue,
nicht missznverstehende Angaben zu machen. Bei armen Leuten genügt zur
Noth ein breiter flacher Korken oder irgend eine in Flanell oder dergl. ein-
zuwickelnde Metallplatte. Die Pelotte muss aber stets fest anliegen und soll
durch festsitzenden, seidendurchwirkten Gurt (aus elastischem Gummi o. dergl.)
gehalten werden, dessen Verschiebung nach oben eventuell noch durch
Schenkelbänder verhütet werden kann. Der Anlegung der Pelotte muss die
Reposition des Bruches vorangehen, die allerdings in manchen nicht gelingt,
wahrscheinlich infolge vbrhandener Verwachsung des Bruchsackes. Unzweck¬
mässige Bruchbänder schaden mehr als sie nützen. Im Gegensatz zu Kuttner
muss ich nach meinen Erfahrungen die Behandlung mittels Bruchband für
die meisten Fälle als ausreichend erachten. Ich habe sogar in einigen Fällen
einen ganz eclatanten Erfolg gesehen, nämlich das fast momentane Schwinden
aller bisherigen Beschwerden, so dass die Patienten, die zumeist zuvor von
ihrer Hernie gar nichts wussten, von der schnellen Besserung sehr überrascht
waren. Das Bruchband muss dauernd getragen werden. Zuweilen kann man
dann ein spontanes Zurücktreten des Bruches beobachten. In einer Reihe
von Fällen ist dieses Behandlungsverfahren allerdings fruchtlos und dann bleibt
bei Fortdauer heftiger Beschwerden nichts anderes übrig als die Operation.
Diese ist nach der Natur des Bruchinhaltes und der anatomischen Verhäli-
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Hernia lineae albae. — Heroin.
nisse des Bruchsackes verschieden. Fettgeschwülste, auch Netzfett, sind ein¬
fach abzutragen und die Bruchpforte zu vernähen. Darmtheile sind zu re-
poniren, Adhäsionen zu durchtrennen. Die Operation ist fast immer leicht
auszuführen und der Wundverlauf ein glatter. Zweimal habe ich indess
nach einer so kleinen, scheinbar so harmlosen Operation eine Folgeerschei¬
nung eintreten sehen, die fast unangenehmere Beschwerden gemacht hat als
die frühere Hernie: eine Venenthrombose eines Beines, die in beiden Fällen zu
jahrelangen Schmerzen in der betreffenden Extremität geführt hat, bis nach
einer dauernden Verdickung derselben allmählich ein gewisser Stillstand ein¬
trat. Derartige Zufälle, die ja auch nach anderen Operationen im Bereiche
des Abdomens, z. B. wegen Perityphlitis zuweilen eintreten, können indess
nicht als Contraindicationen für die Operation gelten. Die Operation bringt
in der Regel noch sicherer als die Bruchbandbehandlung die Heilung. Nur
in seltenen Fällen kommen Recidive vor, zum Theil infolge neuer Ver¬
wachsungen.
Literatur: Bis zum Jahre 1896 vollständig bei Kuttnrh, Mittheilungen ans den Grenz¬
gebieten d. inneren Medicin u. Chirurgie. I. — Lennhof, Berliner klin. Wochenschr. 1898. —
Rosknheim, Berliner klin. Wochenschr. 1897. Albu (Berlin).
Heroin 9 Diacetylmorphin der Diessigsäureester des Morphins,
weisses, krystallinisches Pulver, vom Schmelzpunkte 171—172° C., wenig lös¬
lich in Wasser, leicht in Weingeist. Er wurde von Dreser zuerst experimentell
geprüft, er fand, dass es auf die Athmung in lOmal kleinerer Dosis als Codein
eine sedative Wirkung ausübt, die Athemzüge werden durch Verlängerung
der Exspirationspause seltener, dagegen wird jeder einzelne Athemzug grösser,
dass es auf Herz und Blutdruck fast gar nicht einwirkt, und dass es dem
Codein in allen diesen Wirkungen bedeutend überlegen ist, ohne dass es
dessen krampferregende Wirkungen zeigt. Die Prüfung des Mittels an Kranken
von Floret, Strube, Weiss, Franz Tauszk, Türmauer, Leo u. a. ergaben,
dass Heroin den Hustenreiz stillt, dass es auch bei Dyspnoe durch Er¬
leichterung und Verlangsamung der Athmung günstig wirkt, was objectiv
durch Herabsetzung der Respirations- und Pulsfrequenz zum Ausdruck kommt.
Die Beobachtungen betreffen meistens Phthisiker, acute und chronische
Bronchitiden, letztere besonders bei Emphysematikern, dann Dyspnoeen jeder
Art; auch über die schmerzstillende Wirkung des Heroins, namentlich bei
Pneumonie und anderen mit Schmerzen verbundenen Erkrankungen, so z. B. bei
Neuralgia nervi trigem., Enteralgie und Hemicranie, auch bei Intercostal-
neuralgie, Ischias, rheumatischen Myalgien und Arthralgien berichten Prof.
Eulenburg und andere Autoren günstig. Eulenburg legt besonderen Werth
dem Gebrauche von salzsaurem Heroin solchen Patienten gegenüber bei, die an
subcutanen Morphingebrauch gewöhnt sind. Tagesdosen von 0,03, respective
0,025 Morphin wurden durch 0,013, respective 0,01 Heroin ersetzt, und
war dabei das subjective Wohlgefühl viel länger anhaltend und von keinen
dyspeptischen Störungen getrübt, während sich gleichzeitig Appetit und Er¬
nährung hoben. Während jedoch von W. Klink erst bei nicht genauer Ein¬
haltung der vorgeschriebenen Dosirung als Nebenwirkungen des Mittels
Schlaflosigkeit, durch Trockenheit und Kratzen im Schlunde verursachtes
Durstgefühl, Stuhlverstopfung, Schweisse, sowie Erschwerung der Expecto-
ration erwähnt werden, beobachtete Rosin selbst bei sorgfältiger Dosirung
häufig Schwindel, Uebelkeit, Kopfschmerzen und Erbrechen als Nebenwirkung.
Spätere pharmakologische Untersuchungen, namentlich die von E. Harnack,
führten zum Resultate, dass das Heroin eine schwächende Wirkung auf die
Athmung ausübe und giftiger sei als Morphin. Zu ähnlichen Ergebnissen
sind auch Santesson, Winternitz und Levandowsky gelangt, und letzterer
Autor bemerkt, dass bei Anwendung des Heroins gegen Husten und Dyspnoe
zwar das subjective Befinden gebessert werde, der objective Zustand sich
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Heroin. — Hornhaut.
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aber verschlechtere, da das Heroin die ausgleichende und heilsame Re-
action des Organismus beseitige. Nach A. Frankel ist die Eigenschaft, eine
Verlangsamung und Vertiefung der Athmung zu erzeugen, allen Vertretern
der Morphingruppe gemeinsam; jedenfalls ist aber das Heroin giftiger als
Codein, und der Umstand, dass schon eine sehr geringe Erhöhung der Dosis
bei Heroin hinreicht, um die Athmungsgrösse stark herabzusetzen, illustrirt
auch die dem Heroin innewohnenden Gefahren.
Dosirung: Wegen der schweren Löslichkeit der Base wird dermalen das
chlorwasserstoffsaure Salz, Heroinum hydrochloricum, angewendet. Als
Sedativum entweder die Basis Heroinum allein in Pulverform, und zwar 0,005
mit Saccharum in der Regel dreimal täglich als einfache Dosis, die übrigens
am Abend verdoppelt werden kann, oder das Heroinum hydrochloricum in
Lösung 0,05 : 15,0 Aqu., von diesen Tropfen 15—20 einmal, höchstens zwei¬
mal in der Nacht. Die Dosis entspricht ungefähr 0,002—0,003 Heroin. Am
raschesten tritt die Wirkung dieses Mittels bei subcutaner Injection ein. Eulen¬
burg empfielt hiezu 2°/ 0 ige Lösung: Heroini muriatici 1,0 solve in Aquae
destillatae sterilisatae 50,0, in Einzeldosen von 0,15—0,25 Ccm. Die Dosis
von 0,01 pro Injection zu überschreiten, dürfte sich nur in Ausnahmsfällen
und bei vorsichtiger allmählicher Steigerung empfehlen; anzurathen ist es,
mit der Anfangsdosis auch bei Erwachsenen mit Mengen unter 0,01 zu be¬
ginnen. Nebenerscheinungen sind bei diesen Dosen nicht zu befürchten. Nach
Fritz Meyer ist die mittlere Dosis des Heroins bei subcutaner Anwendung
o,003—0,005 Grm., was 0,15—0,25 Ccm. obiger Lösung gleichkommen würde.
Literatur: Dreser, Pharmakologisches Uber eiuige Morphindtrivate. Therap. Monats¬
schrift. September 1898. — Floret, Klinische Versuche über die Wirkung und Anwendung
des Heroins. Ebenda. 1898, Nr. 9. — Strubk , Mittheilungen über therapeutische Versuche
mit Heroin. Berliner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 45. — Wkiss, Heroin, ein neues Substituens
des Morphins. Die Heilkunde. 1898, Octoberbeft. — Fr. Tauszk, Orvosi Hetilap. 1898,
Nr. 50. — Rosin, Therapie der Gegenwart. 1899, Nr. 6, pag. 248. — E. Habnack, Münchener
med. Wochenschr. 1899, Nr. 27, pag. 881; Nr. 31, pag. 1019. — A. Frankel, Ebenda. 1899,
Nr. 46, pag. 1528. — B. Turnaueb, Ueber Heroinwirkung aus der medicinischen Abtheilung
des Prim. Dr. Pal in Wien. Wiener med. Presse. 1899, Nr. 12. — Leo, lieber den therapeu¬
tischen Werth des Heroins. Deutsche med. Wochenschr. 1899, Nr. 12. — A. Eulenburg, Er¬
fahrungen mit Heroinum muriaticum bei subcutanen Injectionen. Ibidem. — H, Dreser, Ueber
den experimentellen Nachweis der Vertiefung und Verlangsamung der Athemzüge nach
therapeutischen Heroingaben. Arch. f. d. gesammte Physiol. LXXX, 1900. Loebisch.
Holocaln, s. Augenheilmittel, pag. 40.
Homatropin, s. Augenheilmittel, pag. 39.
Horabaut« Recidivirende Erosionen. Epitheliale Substanzver¬
luste der Hornhaut, wie sie durch Fingernägel der Kinder (»Nagelkeratitis«),
Spitzen steifer Blätter, Baumzweige, Wäsche- und Papierkanten u. dergl. ent¬
stehen, haben starkes Thränen, Lichtscheu, Schmerzen, Ciliarröthe im Ge¬
folge. Die Heilung erfolgt in wenigen Tagen, am besten unter einem Ver¬
bände, aber auch spontan ohne ärztliche Intervention. Nicht selten treten
aber Folgezustände ein, die v. Reuss in zwei Gruppen theilte.
1. Morgens beim Erwachen, respective beim Oeffnen der Augen oder
auch während der Nacht tritt in dem verletzten Auge ein plötzlicher Schmerz
ein, der entweder rasch vorübergeht oder minuten- bis balbstundenlang
(selten länger) andauert. Je plötzlicher das Oeffnen der Augen geschieht,
desto sicherer ist das Eintreten des Schmerzes, desto heftiger ist er; vor¬
sichtiges langsames Oeffnen vermag das Ausbleiben des Schmerzes zu be¬
wirken. Reiben der Augen, besonders beim Waschen, ist gefährlich; bei einem
Nacbmittagsschlafe können dieselben Erscheinungen eintreten. Die Schmerz¬
anfälle können einige Tage auslassen oder sich allnächtlich einstellen durch
Jahre lang.
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Hornhaut.
2. Plötzlich, ohne bekannte Veranlassung oder durch Reiben der Augen
oder beim plötzlichen Erwachen tritt ein heftiger Schmerz ein, der nicht
schwindet, Thränen, Lichtscheu begleiten ihn wie bei der ursprünglichen
Verletzung. Hat der Arzt Gelegenheit bald zu untersuchen, so findet er an der
ursprünglichen Verletzungsstelle oder nicht weit davon entfernt einen frischen
Epithelverlust oder eine grosse Blase oder Residuen einer solchen, später nur
eine unbedeutende epitheliale Trübung. Die neue Attaque, diese recidivirte
Erosion, heilt wie die erste Verletzung und es kann nach Wochen, Monaten
ein neues Recidiv kommen, so lange sich nicht, wie v. Arlt es verlangt,
der Kranke entschliesst, einen gut anliegenden Verband durch 10—14 Tage
zu tragen.
Patienten, die an der 1. Form leiden, können intercurrirend einen An¬
fall der 2. Form acquiriren, es können aber auch die Zwischenzeiten ohne
jegliche Mahnung verlaufen.
Schon v. Arlt hat angenommen, als er bei den recidivirenden Schmerz¬
anfällen die Ursache in der neuerlichen Erosion entdeckte, dass eine abnorme
Epithelbildung an der Stelle der Verletzung die Ursache der Recidive sei.
v. Reuss hat folgende Erklärung gegeben, bei welcher er mit einer von Szili
stammenden im ganzen übereinstimmt. Das Epithel über der ursprünglichen
Verletzung hat sich nicht in gehöriger Weise neugebildet. In der Nacht, in
der Ruhe des Schlafes, haftet die Conjunctiva bulbi an unebenen Stellen des
Comealepithels, wie beim sogenannten Catarrhus siccus (ebenfalls nach der
Annahme von v. Reuss) tarsales und bulbäres Conjunctivalblatt an einander
haften, so dass die Adhäsion durch Reiben mit den Fingern gelöst werden
muss. Beim Versuche, die Augen zu öffnen, wird das abnorme Cornealepithel
in die Höhe gehoben, bis die Adhäsion durch das vollständige Oeffnen gelöst
wird, dabei werden die Nervenendigungen gezerrt und es entsteht ein rasch
vorübergehender Schmerz. Geschieht das Oeffnen in brüsker Weise, zu
rasch, oder wird das Auge zu heftig gerieben, dann bleibt das Epithel in
Form einer Blase, die nachher einreist, abgehoben, oder es wird sofort ab¬
gerissen und die neue Erosion ist fertig.
Für die Richtigkeit dieser Erklärung spricht der Umstand, dass es
v. Reuss geglückt ist, nachzuweisen, dass der Zusammenhang zwischen
Epithel- und Cornealsubstanz auf weite Strecken hinaus ein gelockerter
ist, so dass es gelang, in einem gewissen Bezirke das ganze Cornealepithel
mit grösster Leichtigkeit abzuziehen oder abzureiben, aber nicht über die
Grenzen dieses Bezirkes hinaus, sowie dass die Fälle, bei welchen dieses
Verfahren eingeschlagen wurde, bleibend geheilt blieben. Es findet also hier
dasselbe statt, was Hess bei der sogenannten Fädchenkeratitis beschrieben
hat, wo gleichfalls das Epithel sich fast von der ganzen Cornea leicht ab-
ziehen liess.
Es muss bemerkt werden, dass diese Abrasio cornea nachher von
heftigen Schmerzen gefolgt ist und Bettruhe des Kranken mit Verband
beider Augen und reichlichen Cocaingebrauch erfordert.
Für gewöhnlich kann man folgendes therapeutisches Verfahren em¬
pfehlen :
Für die Fälle der ersten Kategorie ist das Einbringen eines indifferenten
Fettes (z. B. Borlanolin) mittels eines Salbenstäbchens in das Auge un¬
mittelbar vor dem Einschlafen zu rathen. Eventuell halten die Kranken eine
2%ige Cocainlösung etwa in einem Fläschchen mit eingeriebenen Tropfröhrchen
so vorräthig, dass sie dieselbe Nachts, ohne Licht anzuzünden, durch eine
Armbewegung erreichen und einträufeln können. Vorsicht beim Oeffnen der
Augen und das Vermeiden von Reiben erlernen die Kranken von selbst. Ist
eine neue Erosion aufgetreten, dann muss das Auge durch 10—14 Tage
verbunden getragen werden, und zwar muss der Verband ruhig liegen, was
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Hornhaut. — Hydrotherapie.
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im Anfänge nicht immer leicht gelingt; ein schlechter Verband nutzt nichts.
Daneben Cocain wegen der Schmerzen und aseptische Waschwässer behufs
Vermeidung von Infectionen. Als radicales Mittel dürfte die Entfernung des
ganzen erkrankten Epithels zu rathen sein.
Hirsch hat die von Arlt verlassene Ansicht wieder aufgenommen, dass
die recidivirenden Schmerzen neuralgischer Natur seien, und auf die ver¬
schiedenen, mit Bläschenbildung einhergehenden schmerzhaften Cornealpro-
cesse hingedeutet. Er hat Erfolge von internem Chiningebrauche gesehen.
Diese Ansicht wird wohl der früher gegebenen Erklärung nicht standhalten
können.
Literatur: Cam. Hirsch, Ueber die sogenannten »recidivirenden Erosionen der Horn¬
haut« (Arlt) und ihre Behandlung. Wochenschr. t. Therapie u. Hygiene des Auges. 1898, I,
Nr. 21 u. 22. — v. Reuss, Ueber recidivirende traumatische Erosionen der Hornhaut. Prager
med. Wochenschr. 1898, XXIII, Nr. 21. — Hirsch, Ueber die sogenannte »recidivirende Ero¬
sion der Hornhaut« und ihre Behandlung. Ebenda. 1898, XXIII, Nr. 25. — Wichkrkiewicz,
Ueber recidivirende traumatische Homhautneuralgie. Wiener klin. Wochenschr. 1898, Nr. 37. —
v. Arlt, Ueber die Verletzungen deä Auges in gerichtsärztlicher Beziehung. Wiener med.
Wochenschr. 1874. — Szili und Weiss, Bericht über die Wirksamkeit der Abtheilung für
Augenkranke am Spitale der Pester israelitischen Religionsgemeinde. Budapest 1897, pag. 34
bis 40. Reuss.
Hydrargyrol, Hydrargyrum sulfophenylicum wurde von Fr.
Steinmann als Antisepticum versucht, jedoch wegen seiner schweren Löslich¬
keit im Wasser als solches ungeeignet befunden. Durch Combination dieses
Salzes mit Ammoniumtartrat entsteht ein im Wasser leicht lösliches Doppel¬
salz, welches als Asterol (s. d.) zur antiseptischen Wundenbehandlung em¬
pfohlen wurde.
Literatur: S. bei Asterol. Loebisch.
Hydrotherapie. Die Hydrotherapie hat im letzten Jahrzehnt in
allen ihren Theilen derartige Fortschritte aufzuweisen, dass sie mehr als je
in der Reihe der wissenschaftlich begründeten therapeutischen Disciplinen
ihren Platz findet. Eine grosse Reihe von Untersuchungen, an der Spitze
solche von Winternitz und seinen Schülern, die Heranziehung vieler Arbeiten
aus der Physiologie und Pathologie brachten Licht in manche Frage, welche
bezüglich der Wirkungsweise thermischer und mechanischer Eingriffe bisher
nicht oder nicht genügend beantwortet werden konnten. Ich werde mich im
grossen und ganzen an den Artikel Hydrotherapie im Bande X der 2. Auf¬
lage der Real-Encyclopädie anlehnen und hier all’ das hineinzubringen trachten,
was zur Ergänzung dieses Artikels nothwendig ist.
In der Grundlehre der Hydrotherapie und der Wirkungsweise unserer
Proceduren spielte und spielt die Reaction seit jeher eine sehr bedeutende
Rolle, und zwar diejenige Reaction, welche sich in der Circulation zeigt
und welche ganz besonders dadurch charakterisirt wird, dass die Gefässe auf
einen Kältereiz sich nach einer primären Contraction secundär erweitern,
welche Erweiterung, wie Winternitz und seine Schule annimmt, kein
Lähmungsvorgang ist, sondern als active Dilatation angesprochen wird.
Diese Vorstellung entspricht den praktischen Erfahrungen derart, dass man
sie überall acceptirt hat. Nur in neuester Zeit erhob sich von einer Seite
ein Widerspruch, nämlich von Matthes, der die L T ntersuchungen von Winter¬
nitz einer Kritik unterzieht, dessen Anschauungen theilweise bekämpft und
die Anschauung vertritt, dass Dilatation der Gefässe in jedem Falle einen
Lähmungszustand bedeutet, ob sie primär, durch äussere Einflüsse, z. B. durch
Wärme, oder secundär nach einer primären Contraction (wie nach Kältereiz)
erfolgt. Leider liegen die Verhältnisse hier derart verquickt, auch sind die
Beobachtungen, trotzdem die Theorien von Winternitz vielfach gut fundirt,
den Bedürfnissen bisher ausgezeichnet entsprachen, durch ganz einwand-
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186
Hydrotherapie.
freie Untersuchungen thatsächlich nicht so weit gestützt, dass man mit
Zahlen und Curven die Unrichtigkeit der M.xTTHESschen Auffassung be¬
weisen könnte. Es muss wieder darauf verwiesen werden, dass in der
Praxis seine Auffassung kaum aufrecht zu erhalten ist. Denn wer jemals
nach einer kalten Procedur einen ordentlichen ReactionsVorgang an der
äusseren Haut verfolgte, der wird zugeben müssen, dass die Circulation in
der Haut nach einer starken Kälteeinwirkung; die Röthung, die nach einer
Kältewirkung auftritt, absolut nicht dieselbe sein kann, wie die Röthung,
welche z. B. nach localer Wärmeapplication entsteht. Man braucht nur
einen Menschen zu beobachten, der aus dem Dampfkasten hervortritt und
oft nahezu cyanotische Röthung der Haut darbietet, und wie sich diese
Rothe gleich in einen ganz anderen Farbenton umwandelt, sobald eine Be-
giessung, eine Douche oder sonst eine kalte Application die Haut getroffen
hat. Hoffentlich wird es noch gelingen, experimentell Klarheit zu schaffen.
Es ist dabei natürlich gleichgiltig, wer persönlich Recht behält, unbedingt
steht das Sachliche obenan.
Was die Wärmeregulation und die Wärmebildung anbelangt, so hat
sich unsere Auffassung darüber in den letzten Jahrzehnten nicht geändert.
Nach wie vor steht die Sache so, wie es Winternitz damals beschrieben
hat, und die Auffassung beherrscht auch das therapeutische Vorgehen, indem
wir die Bilanz zwischen Wärmebildung und Wärmeabgabe bei unseren Pro-
ceduren unbedingt berücksichtigen. Die Haut mit dem Reiz- und Reactions-
zustand bildet den grossen Factor in der Wärmeabgabe und die thermisch¬
mechanischen Einflüsse auf die Musculatur und drüsigen Organe die grossen
Factoren in der Wärmebildung.
Die neueren Untersuchungsserien erstrecken sich vielmehr auf andere
Gebiete, u. zw. auf den Einfluss der hydrotherapeutischen Proceduren auf
Blut und Blutbewegung, die Muskelkraft und die verschiedenen Ausschei¬
dungen, sowohl den Gas- als Stoffwechsel im allgemeinen betreffend.
Die Veränderungen, die man im Blute gefunden hat, hatten nicht nur
unmittelbar auf die Blutbewegung als solche einen Rückschluss gestattet,
sondern auch solche auf die Gefässe und bilden theilweise einen Ersatz für
den oben erwähnten Mangel directer, die Circulation betreffender Versuche.
Die ersten Resultate stammen aus dem Jahre 1893 von Winternitz und
Rovighi, die gleichzeitig, aber unabhängig von einander fanden, dass nach
Kälteeinwirkungen eine mitunter bedeutende Leukocytose ein-
tritt, welche auch Stunden andauern kann. Die physiologische Deutung
dieses Phänomens wurde damals nicht versucht und nur die Tragweite dieser
Erscheinung in der Therapie hervorgehoben, speciell durch Winternitz im
Sinne der Lehre von der Phagocytose. Es fielen diese Funde gerade in die
Zeit, in welcher die Phagocytose in der Therapie der Infectionskrankheiten
als hochbedeutend erachtet wurde.
Von den einschlägigen Versuchen verdient eine Anzahl von Unter¬
suchungen von Grawitz, Loewy und Zuntz besondere Erwähnung, weiche
die Circulation in verengerten Gefässen, die Circulationsenergie und die
Veränderung des Blutserums betrafen, Fragen, welche mit den Winter-
NiTz'schen Befunden innig verknüpft sind und gewissen Schlussfolgerungen
Berechtigung verleihen. Insbesondere die Untersuchungen von Winternitz
und seinen Schülern Strasser und Wertheimer über das Verhalten der
weissen und rothen Blutkörperchen, des Hämoglobins und des specifischen
Gewichtes begründeten die Lehre auf das Genaueste und fanden durch
vielfache Untersuchungen in der Sache eine Bestätigung, in der theoreti¬
schen Erklärung und therapeutischen Auffassung jedoch manchen Wider¬
spruch. In Kurzem ist das Resultat dieser Untersuchungen, dass: allge¬
meine, den ganzen Körper treffende thermische und mechanische
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Hydrotherapie.
187
Proceduren eine Vermehrung der rothen Blutkörperchen in dem
der Fingerbeere oder dem Ohrläppchen entnommenen Blute er¬
zeugt; eine Zunahme der Leukocyten, des Hämoglobingehaltes
und der Blutdichte. Die_Dauer dieser Wirkung ist sehr verschieden, mit¬
unter geht die Erscheinung rasch vorbei, mitunter nach zwei Stunden, und
selbst noch nach viel längerer Zeit ist der Status quo noch nicht hergestellt.
Ist der Kältereiz nicht von guter Reaction gefolgt, so kann diese Aenderung
im Verhalten des Blutes ausbleiben, sie wird dagegen gesteigert, durch eine
dem thermischen Reize folgende kräftige Muskelarbeit. Bemerkenswerth und
für die theoretische Auffassung von weittragender Bedeutung sind die Re¬
sultate bei localen Proceduren. Kalte Fussbäder, Douchen auf die Füsse und
erregende Umschläge auf die Waden erzeugten nach guter Reaction die
obigen Veränderungen im Blute der Zehen, während gleichzeitig in der
Fingerbeere oder im Ohrläppchen eine Verminderung der corpusculären
Elemente zu constatiren war.
Die Wirkung von warmen und heissen allgemeinen Proceduren ist bisher
sehr wenig studirt, doch ergeben diese Proceduren durchaus eine Verminde¬
rung der corpusculären Elemente des Hämoglobins und des specifischcn
Gewichtes, solange jedoch nur, bis profuse starke Schweisssecretion eine
echte Eindickung des Blutes durch Wassersrerlust verursacht hat, was zur
Vermehrung der genannten Elemente führen muss.
Die Leukocyten verhielten sich nicht immer gleich den
rothen Blutkörperchen, sondern oft gegensätzlich.
Auch locale Wärmeapplicationen in Form von protrahirten Umschlägen
auf die Wade oder auf die Bauchhaut bewirken local eine Abnahme der rothen
Blutzellen etc., dabei aber meist eine Vermehrung der Leukocyten. Von allen
Seiten wurde die Annahme, es handle sich bei den grossen Vermehrungen um
eine Neubildung der rothen Blutzellen, fallen gelassen, da eine solche Annahme
unhaltbar wurde. Winternitz erklärte die Veränderung aus der Aenderung
des Gefässtonus und der ganzen Circulation, u. zw. so, dass die ganze Er¬
scheinung nur eine Aenderung der Blutvertheilung vorstellen sollte und dass
durch die gesteigerte Energie der Circulation aus solchen Körperprovinzen,
aus welchen wegen schwächerer Circulation oder geringeren arteriellen
Druckes die Blutkörperchen schwer in die allgemeine Circulation kommen,
dieselben doch herausgebracht werden und so auch an der extremsten Peri¬
pherie des Körpers erscheinen.
Einen anderen Standpunkt nimmt Grawitz ein. Seine Untersuchungen
über Blutdichte nach kalten und warmen Applicationen sind um einige Jahre
älter als die WiNTERNiTZschen Untersuchungen. Grawitz hat die Theorie
aufgestellt, die Vermehrung der Blutkörperchen, respective der Blutdichte
nach Kälteeinwirkungen sei eine wirkliche Eindickung des Blutes, indem die
Blutgefässe bei der Contraction Serum durch die Wandung in das Gewebe
pressen, während die Verminderung der corpusculären Elemente nach Wärme¬
applicationen eine thatsächliche Verdünnung des Blutes in den Gefässen
wäre, indem die sich erweiternden Gefässe wieder durch die Wandung Ge¬
websflüssigkeit in ihr Lumen eintret en lassen.
Knöpfelmacher, Loewy, Breitenstein haben sich der WiNTERNiTz schen
Auffassung angeschlossen.
Die Ansicht Grawitz’ scheint schon darum nicht gerechtfertigt, weil
wir aus den classischen Versuchen von Cohnstein und Zuntz wissen, dass
die von Grawitz angenommene Filtration ein Process ist, der sehr langsam
vor sich geht, viel langsamer, als die Veränderung nach thermischen Appli¬
cationen erscheint.
Den directen Gegenbeweis erbrachte Loewy, indem er fand, dass nach
Wärmeapplicationen, u. zw. schon nach ganz kurz andauernder Erwärmung
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H y d rot he r apie.
von Thieren das specifische Gewicht des Blutes herabging:, die Serumdichte
jedoch unverändert blieb, während diese nach Grayvitz’ Annahme hätte
sinken müssen. Es wären auch Winternitz' Resultate nach localen Proce-
duren au! die Füsse nach Grawitz' Annahme unerklärlich; denn man könnte
sich nicht erklären, wieso eine Verdichtung des Blutes in den Füssen eine
Verdünnung in der Fingerbeere oder im Ohrläppchen bewirken könnte.
Gegen Grawitz sprechen auch die Untersuchungsserien von Breitex¬
stein. Dieser fand bei 26 Typhösen 25mal nach kalten Bändern starke Erythro-
cytose und Zunahme des Hämoglobins und stellte bei überhitzten Thieren
fest, dass die Verminderung der Blutzellen in der Ohrvene parallel ging mit
einer Stauung derselben in der Leber. Auch dieser Umstand ist eine Stütze
für die WiNTERNiTZsche Auffassung, dass die ganze Erscheinung eine Ver¬
änderung der Blutvertheilung ist.
Das ungleiche Verhalten der weissen Blutkörperchen erklärt sich aus
der chemotaktischen (thermotaktischen) Empfindlichkeit. Die weissen Blut¬
zellen können als amöbenähnliche Körper auf Kälte- wie auf Wärmereiz in
gleicher Weise reagiren. Von Interesse ist es zu erfahren, dass eine De-
struction von rothen Blutkörperchen durch Kälte möglich ist Es erhellt dies
aus den Untersuchungen von Reineboth und Kohlhart bei extremen Ab¬
kühlungen von Thieren.
Die chemischen Eigenschaften des Blutes wurden durch vorläufige Unter¬
suchungen Strasser’s und Kuthy s festzustellen versucht. Die Serie der
Untersuchungen ist eine viel zu kleine und die Methodik in dieser Richtung
eine viel zu wenig ausgebildete, als dass man aus den Resultaten der ge¬
nannten Autoren eine fest verwerthbare Folgerung ziehen könnte. Von In¬
teresse ist jedoch das Resultat, dass heisse, die Körpertemperatur
steigernde Proceduren eine Abnahme der Blutalkalescenz be¬
wirken, während kalte, erregende Proceduren eine Zunahme der¬
selben erzeugten. Diese Resultate der AlkalescenzVeränderung wurden
von Winterxitz und nach ihm von vielen anderen als Andeutung einer
speci fischen Steigerung der Wehr Vorrichtungen angesehen (insbesondere bei
Infectionskrankheiten), die dem Organismus durch thermische Einwirkungen
beigebracht werden können. Natürlich gilt dies als theoretische Erklärung
einer praktischen Erfahrung; sollten sich noch weitere Resultate in dem
Sinne der Strasser und Kl THY schen Untersuchungen ergeben, so liesse sich
wohl thatsächlich in der Alkalescenzsteigerung des Blutes für die Bekämpfung
der Infection eine verwerthbare Vorstellung gewinnen.
Der respiratorische Gaswechsel, die Diurese und der Stoff¬
wechsel sind auch Gegenstand vielfacher Untersuchungen gewesen und
zeigen auch, dass die hydrotherapeutischen Massnahmen eine nachweisbare
Wirkung auf diese Factoren haben. Bezüglich des Gaswechsols bleibt
allerdings die Anschauung, wie sie der allgemeinen Auffassung entspricht^
dass Muskelbewegungen immer den grössten Einfluss auf den Gaswechsel
haben. Soweit also bei hydrotherapeutischen Proceduren ein grösserer Einfluss
auf den Gaswechsel zu constatiren ist, können Muskelbewegungen, seien sie
willkürliche oder unwillkürliche, sei es auch, dass sie sich nur in einer Erhöhung
des Tonus documentiren, einen mehr minder grosen Einfluss haben. Unter¬
suchungen von Loewy, Speck, Winterxitz und Pospischill führten zu diesen
Annahmen. Die Frage, wie weit sich die Diurese durch thermische Ein¬
griffe verändert, ist weitaus noch nicht erklärt. Es zeigt sich wohl durch
neuere französische Arbeiten, dass bei Kälteapplicationen local auf die Bauch¬
haut die Harnsecretion sich vermindert, es kann also auf eine reflectorische
Verengung der Nierengefässe gefolgert werden. Bei allgemeinen hydrothera¬
peutischen Proceduren kann man wohl bei dem Satze verbleiben, dass all
diejenigen Proceduren, welche den Blutdruck erhöhen, die Diurese steigern
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Hydrotherapie.
189
werden und diejenigen, welche den Blutdruck herabsetzen, auch die Diurese
vermindern werden, sofern nicht die reflectorische Veränderung der Nieren-
gefässe dieses Resultat beeinträchtigt.
Was den Stoffwechsel anbelangt, ist durch eine Reihe von neueren
Arbeiten, insbesondere von Formanek festgestellt, dass extreme Abkühlungen
und starke Erhitzungen die Stickstoff- und Harnsäureausscheidungen steigern,
und Strasser's Versuche scheinen die Annahme zu rechtfertigen, dass durch
allgemeine hydrotherapeutische Proceduren der Stoffwechsel im Sinne einer
normalen Steigerung der lebendigen Thätigkeit des Organismus gesteigert
wird. Betreffs anderer Secretionen liegen auch schon Untersuchungen vor,
welche zu erwähnen unbedingt nothwendig ist, so diejenigen über den Ein¬
fluss auf die Magensaftsecretion, welche durch locale Hitzeapplication auf
die Magengegend, wie Puschkin behauptet, gesteigert wird, dagegen durch
allgemeine Hitzeproceduren, wie Dampfbäder, vermindert werden kann, einen
Theil der peptischen Kraft einbüsst und eine wahre Verminderung, respec-
tive Verschwinden der freien Salzsäure auf weist. Die letzteren Resultate
werden von Simon derartig ausgelegt, dass durch die künstliche Schweiss-
secretion so viel Kochsalz verloren geht, dass dies den oben erwähnten Aus¬
druck im Magensafte findet. Auch ist die Schweisssecretion zweifellos von
Einfluss auf andere Functionen und selbst auf den Stoffwechsel. Es ist so¬
gar festgestellt, dass im Schweisse eine ziemlich bedeutende Menge von
Stickstoff ausgeschieden werden kann, die Haut also auch in dieser Bezie¬
hung vicariirend für andere Organe eintreten kann, eine Sache, die nicht
unbekannt war, deren experimentelle Sicherstellung aber jedenfalls freudigst
zu begrüssen ist.
Grosses Gewicht muss weiters gelegt werden auf die Untersuchungen
von Vinaj und Maggiora, welche die Beeinflussung der Muskelkraft, d. i.
der Leistungsfähigkeit der Muskeln unter Einwirkung verschiedener Proce¬
duren behandeln und feststellen, ln welcher Weise kühle und warme Proce¬
duren die Muskelkraft steigern, respective ihre Leistungsfähigkeit vermindern.
In dieser Weise zeigt sich, in kurzem Umrisse geschildert, der weit vorge¬
schrittene Ausbau der physiologischen Grundlagen der Hydrotherapie, und
es ist weiters zu hoffen, dass bei der Tbeilnahme der Unterrichtsbehörden,
wie sie augenblicklich zu wachsen scheint, auf den verschiedenen Univer¬
sitäten und Kliniken diese theoretischen Fragen, die noch vielfach der ge¬
nauesten Ergründung entbehren, geklärt werden.
In der Technik der Hydrotherapie vertreten wir den Standpunkt, dass
bei genauer Kenntniss der physiologischen Vorgänge, der Reizeffecte und der
Reaction, der Ausbau der Technik dem jeweiligen Therapeuten selbst über¬
lassen bleiben darf. Im grossen und ganzen hat sich in den letzten Jahren
auch die Technik in der Form nicht geändert; wohl könnte man bei unge¬
nügender Orientirung und mangelhafter Kenntniss der Literatur, z. B. in
den KNEipp’schen Vorschriften, ein neueres Princip zu entdecken glauben;
diese charakterisiren sich hauptsächlich nur durch energischeste, blitzartige,
thermische und mechanische Eingriffe von grosser Intensität.
In anderer Hinsicht ist die Technik etwas vorgeschritten, vielfache
Vorschriften von allen möglichen Proceduren sind in der Literatur zu finden.
Sie stellen jedenfalls nur unwesentliche Modificationen dar; beschreiben
möchte ich hauptsächlich nur drei Neuerungen in der Technik, nämlich die
Heissluftbehandlung, die Lichtbäder und die neuconstruirte Kohlensäure-
douche von Winternitz und Gärtner. Die Heissluftbehandlung gehört ja —
strenge genommen — eigentlich nicht zur Hydrotherapie, sie ist ein Ab¬
schnitt der Thermotherapie und ist gerade in den letzten Jahren in den
Vordergrund getreten, insbesondere durch Mrndelsohn, der die Effecte der
localen Heissluftbehandlung als besonders günstig hervorhob.
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190
Hydrotherapie.
Der TALLERMANx'sche Apparat, der von Mendelsohn wissenschaftlich pro-
pagirt wurde, ist wohl in der ganzen Literatur bekannt, er besteht aus einem
eisernen Apparate, mit Asbest ausgekleidet und wird mit Gas, respective Kohle
geheizt. Die in Flanell eingehüllte Extremität wird einer immensen Tempe¬
ratur von 80—160° C. ausgesetzt und die Resultate, insbesondere bei alten
Gelenksleiden, sollen ganz ausserordentliche sein. Aehnliche Apparate sind
mehrfach construirt worden, so der Elektrotherm von Lindemann und der
Thermo-Aerophor von Reich, ersterer mit elektrischem Betriebe, indem die
Erhitzung der Luft durch nicht glühende elektrische Rheostaten geschieht.
Die Resultate von Mendelsohx finden allgemeine Bestätigung, und ganz ähn¬
lich sind die Resultate mit den anderen Apparaten.
Die Lichtbäder glaube ich etwas ausführlicher behandeln zu müssen.
Es ist hier nicht der Ort, sich auf die ganze Lichttherapie einzulassen. In
das Gebiet der Hydrotherapie gehören eigentlich strenge genommen nur
die Lichtschwitzbäder. Die chemischen Wirkungen der Lichtstrahlen auf die
Oberfläche der Haut, sowie in die Tiefe der Gewebe ist noch gar nicht
derart festgestellt, dass man weitgehende Folgerungen daraus ziehen könnte,
aber die empirisch-therapeutische Verwerthung ist doch bis zu einer gewissen
Grenze gediehen, und man ist gezwungen, die Lichtschwitzbäder in die
Technik der Thermotherapie aufzunehmen. Es giebt zwei Arten von Licht¬
schwitzbädern: Bogenlichtbäder und Glühlichtbäder, und es ist wahr¬
scheinlich, dass die Bogenlichtbäder eine wesentlich grössere chemische Ein¬
wirkung haben dürften als die Glühlichtbäder, bei welchen die Wärmestrahlen
doch noch die grösste Rolle spielen und die Wirkung der chemischen Strahlen
etwas in den Hintergrund tritt. Die ersten Lichtbäder in Form von Glüh¬
lichtbädern wurden von Kellogg in Amerika eingerichtet, und zwar sofort
in sehr grossem Massstabe, indem er für den ganzen Körper und für Körper-
theile separate Apparate construirte. Die Apparate sind durchwegs so ein¬
gerichtet, dass sie entsprechend geformte Holzkästen darstellen, welche nach
der ursprünglichen Angabe von Kellogg mit Spiegelplatten ausgekleidet
sind. Innen sind die Glühlampen montirt und bilden die Licht- und Wärme¬
quelle. Grössere ausgedehntere Versuche von Winternitz zeigten, dass es
gar nicht nothwendig ist, die Kästen mit Spiegelplatten auszulegen, es ge¬
nügt vielmehr anderes Material, durch welches das Licht ordentlich reflec-
tirt und zerstreut wird, wie z. B. Glanzpapier, Celluloid, weisser Lack u. s. w.,
und es wird ja mit der Zeit die Technik in dieser Richtung noch weitere
Fortschritte machen. Die Temperatur im Kastenraume geht je nach der
Zahl der Lampen und der Intensität des Stromes natürlich in die Höhe, und
die im Kasten sitzenden Individuen zeigen eine Reihe von Erscheinungen,
die sich grösstentheils mit denjenigen decken, welche wir im Heissluftbade
zu beobachten Gelegenheit haben (Fig. 27 und 28).
Von einzelnen Seiten wurde angegeben, dass in den elektrischen Glüh¬
lichtbädern die Herzaction selbst bei starker Erhitzung des Körpers ganz
unverändert oder wenig verändert sei, eine Angabe, die nach unseren Er¬
fahrungen nicht im ganzen Umfange bestätigt werden kann. Dagegen ist
die technische Einrichtung der Bäder derart zu beherrschen, dass es leicht
ist, die Temperatur in gewissen Grenzen zu halten und die Störungen der
höheren und höchsten Temperaturen zu vermeiden. Die Temperatur, bei
welcher die ruhige Herzaction in eine stürmischere umzuschlagen pflegt,
liegt ungefähr bei 50—55° C., und auch die Respiration, die bis zu diesem
Grade meist wenig verändert wird, zeigt bei höheren Temperaturen die¬
selbe Beschleunigung wie bei anderen Schwitzbädern. Feststehend scheint
nach KELLOGG schen Untersuchungen und nach unseren Beobachtungen, dass
die Schweisssecretion ßine ausgiebigere, raschere und leichtere ist wie bei
anderen Schwitzproceduren, und Beobachtungen, dass Personen bei Tempe-
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den Seltenheiten. Kellogg giebt an. dass der Gaswechsel wesentlich mehr
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Hydrotherapie. 1 <♦ 1
raturen von 30° C. schon eine Schweisssecretion zeigten, gehören nicht zu
Fi«. 27.
Hydrotherapie.
192
beeinflusst wurde als bei gewöhnlichen Schwitzbädern, und dass die KohJen-
säureausscheidung und Sauerstoffaufnahme im elektrischen Lichtbade auch
wesentlich mehr gesteigert würde, fm grossen und ganzen stellen die Glüh¬
lichtbäder also eine ausserordentlich gute, verwerthbare, technische Neue¬
rung dar und dürften mit der weiteren Vervollkommnung der Technik viel¬
leicht unentbehrlich werden. Ob, wie erwähnt, insbesondere bei Bogenlicbt-
bädern eine directe intensive Beeinflussung des Chemismus bervortreten
wird, lässt sich nach den bisherigen spärlichen Beobachtungen noch nicht
feststellen, obwohl sicher ist, dass das Licht die Gewebe sehr stark durch¬
dringen kann und auf die organischen Gewebe von einer sehr bedeutenden
Einwirkung ist
Den zweiten wesentlichen Fortschritt in der Technik der Hydrotherapie
bedeutet der von den Prof. Wixtermtz und Gärtner construirte Ombrophor
(eine transportable Douche), der dazu dient, eine kräftige, allgemeine oder
locale Regendouche mit gleichmässigem, bis zum letzten Wassertropfen
gleichen, regulirbaren Drucke, unabhängig von Wasserleitung, appliciren zu
können. In einem Cylinder wird Wasser eingefüllt und dieses unter den
Fig. p
mä&XmBSB^r
durch ein Reductionsveritil beliebig regulirbaren Druck einer mit flüssiger
Kohlensäure gefüllten Flasche gebracht Die beigegebene Zeichnung wird
eine lange Beschreibung dieses transportablen und auch für allgemeinere
Verwendung billig herzustellenden Apparates verständlich machen (Fig. 29
und 30).
Die Kohlensäure liefert nicht bios den Druck, um das Wasser mit der
nöthigen Kraft aus dem Cylinder in das Doucherohr und den Brausekopf
zu treiben, sondern auch um das zur Douche zu benützende Wasser mit
C0 3 zu sättigen. Es bat dies den Nutzen, über die Temperatur des Wassers
hinweggetauscht zu werden, indem die an der Haut sich festsetzenden CO t -
Bläschen ein angenehmes Prickeln hervorrufen, die den Kältereiz des Wassers
nicht zum Bewusstsein kommen lassen.
Bezüglich der Verbreitung der Hydrotherapie und der hydrotherapeu¬
tischen Methodik ist zweifellos ein Fortschritt zu constatireu. Die Verwen¬
dung der Hydrotherapie bei Infectionskrankheiten ist eine ganz allgemeine
und die Hydrotherapie der Nervenkrankheiten wurde zu einem unentbehr¬
lichen Instrumentarium der Aerzte« Magen- und Darmkrankheiten werden
häufiger als früher mit dieser Methode behandelt, und die vielfachen Modi-
ficationen und genaueste Anpassungsfähigkeit der hydrotherapeutischen
Methoden machen es möglich, dass bei solchen Krankheiten, wo früher
Go >gle
Hydrotherapie. — Hyrgol.
Bäderbehandlung, überhaupt eine thermische und mechanische Behandlung
nicht acceptirt war oder gar perhorrescirt wurde, die Hydrotherapie jetzt
angewendet wird, so z. B. bei schweren Herzkrankheiten, bei Erkrankungen
der Gefässe und bei Nierenk rankheiten. Die Stoffwechselkrankheiten und
unter ihnen ganz besonders die Fettleibigkeit sind auch schon vielfach
Gegenstand der erfolgreichen hydrotherapeutischen Behandlung. Die Grenz¬
gebiete der Hydrotherapie erweitern sich und verschlingen sich mit anderen
therapeutischen Methoden, insbesondere häufig mit der Mechanotherapie,
Otrtb» Upbüt- tu I>ouüLtfuug.
und es ist kein Zweifel, dass unter den physikalischen Heilmethoden diese
beiden Zweige stets iin Vordergründe stehen werden • A. Sl rti&St''
Hyoscln, Hyoscyamiu, s. Augenheilmittel, pag. 38.
Hyrgol, Hydrargyrum colloidale. Gleich dem von Cred£ in die
Therapie eingeführten coltoidaien Silber soll auch das von Lottermoskr
zuerst dargestellte colloidale Quecksilber therapeutisch manche Vorzüge
bieten. Das Hydrargyrum colloidale stellt eine metallisch glänzende, braun¬
schwarze, körnige Masse dar, die sich leicht im Wasser auflöst; allerdings
zeigen nach M. Höhnel diese Lösungen infolge von Abscheidung metallischen
Quecksilbers einen wechselnden Quecksilbergehalt. Nach 0. Werler und
A. Schlossmann kann man das Hyrgol sowohl in Lösung, als in Form von
Salben, Pillen, Tabletten und Pflastern verordnen; sie versuchten es zu¬
meist als Salbe für die Inunctionscur bei Syphilis und betonten als Vor-
Encj'eloi>. Jahrbücher. IX.
194
HyrgoL
züge dieses Präparates seine leichte Resorbirbarkeit und prompte Wirksam¬
keit, während Hopf, Wekthkr und Falk hervorhoben, dass dem Präparat?
Verunreinigungen in wechselnder Menge anhaften, welche eine genaue I)o>i-
rung unmöglich machen; dessen Lösungen sind nicht haltbar; weder bei
Einreibungen, noch bei Injection von Hyrgol sahen sie eine energischere
Wirkung wie bei anderen Quecksilberpräparaten.
Dosirung. Zur Inunctionscur 3.0 einer 10%igen Salbe als mittlere
Dosis. Innerlich Pillen, welche 0,01 Hydrargyrum colloidale pro Stück
enthalten, hievon 3mal täglich 3 -5 Stück. Für subcutane Injiectionen be¬
nutzt man eine 1— 2° 0 ige wässerige Lösung.
Literatur: Lottkrmoskr, 131*« r colloidal«*s Quecksilber. Jnurn. f. prakt. Chem. IS' 1 ».
LVII, pag. 484. — Wkklkk, Lieber Anwendungsweisen und Wirkungen des löblichen metal.i-
schen Quecksilbers. Berliner k 1 in. Wochensehr. 1898, pag. 937. — Autih r Schlossmann.
lieber di«* tlu‘rapeutisehe Verwendung colloidaler M«*talle. Therap. Monatsh. 1899, pag. 278. —
Hopf, Dmnat. Zcitschr. V, ]*ag. 77o. — Falk , Deutsche med. Wochenselir. 1899, Nr. 4.
pag. 57; E. Mi rck s Bericht für 1898 und 1899. Loebisi h.
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Ichthoform. Ein von der Hamburger Ichthyol-Gesellschaft herge¬
stelltes Präparat, eine Verbindung von Formaldehyd und Ichthyol, ein
schwarzbraunes, amorphes, in Wasser unlösliches, nahezu geruch- und ge¬
schmackloses Pulver, welches wegen seiner bedeutenden desinficirenden Kraft
als Darmantisepticum empfohlen wird. Nach den Untersuchungen von S. Rabow
und B. Galli-Valfjuo verzögert das Ichthoform nicht nur die Entwicklung
der Mikroorganismen (Bacill. typhös., Staphylococc. pyogen, aur. u. a.), son¬
dern vermindert auch diese, mit alleiniger Ausnahme von Aspergillus niger;
überdies wirkt es stark desodorisirend und übt auf Thiere keine toxische
Wirkung aus. Beim Menschen innerlich verabreicht, fand es Bourget als
Darmantisepticum, welches, zu 2—3 Grm. tagsüber genommen, keine schäd¬
lichen Nebenwirkungen entfaltet, sehr erfolgreich. Rochaz hält dafür, dass
es in der äusseren Wundbehandlung das Jodoform zu ersetzen vermag.
Literatur: S. Rabow und B. Galli-Valebio in Lausanne, Ichthoform. Therap. Monats¬
hefte. 1900, pag. 202. Loebisch .
Ichthyol, Ichthalbin, s. Augenheilmittel, pag. 16, 47.
Igazol , ein von Cervello gegen Lungentuberkulose empfohlenes
Präparat, welches aus einer Verbindung von Formaldehyd mit Trioxymethylen
(also Paraformaldehyd) und einem Jodkörper besteht. Das Präparat wird
durch Verdampfung der Zimmerluft beigemengt und von dem Patienten ein-
geathmet. Zur Verdampfung des Igazols dient ein von Cervello angegebener
Apparat, durch welchen die Temperatur des Tellers, auf dem das Igazol
verdampft, in der Weise regulirt wird, dass die Menge des verdampfenden
Mittels dosirt werden kann. Indem der Teller sich über einem mit senk¬
rechtem Kühlrohr versehenen Kochkessel, unter dem eine Spirituslampe
brennt, befindet, lässt sich die Flamme letzterer in der Weise reguliren,
dass das auf dem Teller befindliche Präparat nicht zu rasch verdampft.
Die Einathmung des Igazols soll namentlich neben einer sorgfältig durch¬
geführten, physikalisch-diätetischen Therapie bei nicht zu weit vorgeschrittener
Lungentuberkulose wirksam sein. Die Igazoldämpfe tödten die Tuberkel¬
bacillen, vermögen aber vorgeschrittene, pathologisch-anatomische Destruc-
tionen nicht zu ersetzen.
Dosirung. Bei einem Rauminhalt von 80 Cbm. soll man mit 2 Grm.
beginnen und allmählich bis 9 Grm. steigen; dabei soll die Einathmungszeit
bei stärkerer Sättigung der Luft mit Dämpfen nicht über 2—4 Stunden
dauern. Cervello, der nach zwei Monaten von 26 Kranken 10 geheilt,
9 fast geheilt, 2 bedeutend gebessert fand, berichtet, dass die Kranken nur
in den ersten Tagen leichte Reizerscheinungen zeigen, die jedoch von der
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Igazol- — Infectionsschutz und Immunität.
Fortführung der Cur nicht abhalten dürfen, dass sie aber dann die Igazol-
dämpfe stundenlang ohne unangenehme Empfindungen vertragen, ja sogar
darin schlafen können, während bei Gesunden unter gleichen Verhältnissen
Reizung der Conjunctiva und der Kehlkopfschleimhaut eintritt. Letzteres
wäre so zu erklären, dass die Empfindungsfähigkeit einer kranken Schleim¬
haut gegenüber dem Formaldehyd herabgesetzt ist.
Literatur: Ceryello’s Igazol. Therap. Monatsh. 1900, pag. 316. Lophisch
Indlcanurie, durch Oxalsäure, s. Harn, pag. 252: Indicanbestim-
mung, pag. 154.
Infectionsschutz und Immunität. Während der zweiten
Hälfte des abgelaufenen Jahrhunderts ist in der Krankheitslehre immer be¬
deutsamer und immer grösser geworden diejenige Krankheitsgruppe, welche
den von Virchow in die medicinische Wissenschaft eingefährten Sammelnamen
»Infectionskrankheiten« fährt.
Unter denselben sind besonders aufzuzählen: Tetanus, Diphtherie.
Cholera, Pest, Typhus abdominalis Pyocyaneusinfection, Milzbrand, Rausch¬
brand, malignes Oedem, Kokkenkrankheiten (Streptococcus longus und bre-
vis, Alb. Fraenkel's Diplococcus, Neisser's Diplococcus, Staphylokokken:
Erysipel, Pyämie, Puerperalfieber, Pneumonien, Endokarditiden, Gelenkent-
zändungen, Pleuritis, Peritonitis, Endokarditis, Osteomyelitis, Gonorrhoe.
Ophthalmien, Anginen, Wundinfectionskrankheiten 11 ); Gelbfieber, Rotz, Tuber¬
kulose, Lepra, Influenza, Recurrensfieber, exanthematische Krankheiten (Ty¬
phus exanthematicus, Masern, Scharlach, Pocken, Syphilis, Maul- und
Klauenseuche), Hundswuth, Schimmelpilzkrankheiten (Aktinomykose), Pro¬
tozoenkrankheiten (Malaria), Entozoenkrankheiten (Trichinosis, Filaria san¬
guinis u. s. w.), Schlangengifterkrankungen und Insectenstiche, Fleischver¬
giftungen (Botulismus), Pilzvergiftungen und Vergiftungen durch giftige Pro¬
teine aus höheren Pflanzen (Rhicin, Abrin u. s. w.).
Bei der Analyse des Zustandekommens jeder einzelnen Infectionskrank-
heit sind immer drei Hauptfactoren zu beräcksichtigen:
1. Der inficirte Organismus,
2. das inficirende Agens,
3. die zufälligen Lebensbedingungen, unter welchen eich der inficirte
Organismus befindet.
Dementsprechend sind zu unterscheiden unter den Infectionsbedingungen
die endogene, die exogene und die accidentelle Infectionsbe-
dingung.
Die endogene Infectionsbedingung ist in der klinischen Krankheitslehre
als individuelle Disposition oder als fehlende oder vorhandene Empfänglich¬
keit von jeher zum Gegenstand ätiologischer Erörterungen gemacht worden.
Ausserdem wurde von den älteren medicinischen Autoren als exogene und
accidentelle Infectionsbedingung ein »Genius epidemicus« fär auffallende
epidemiologische Tbatsachen zur Erklärung herangezogen. In dem Begriff
»Genius epidemicus« ist implicite sowohl die durch die Infectionsstoffe reprä-
sentirte exogene Infectionsbedingung enthalten, als auch die accidentelle
Infectionsbedingung, welche einigermassen dem entspricht, was Pettenkofer,
im Gegensatz zur individuellen Disposition, örtliche und zeitliche Disposition
genannt hat.
Bei der Analyse der Aetiologie von Infectionskrankheiten kamen in
früherer Zeit die Infectionsstoffe zu kurz. In der Krankheitslehre Virchow' s
dominirte beispielsweise die von Morgagni herrührende Neigung, alles ab¬
hängig zu machen vom Sitz der krankhaften Affectionen und von den ana¬
tomisch nachweisbaren Krankheitsproducten derselben; die Kliniker waren
gleichfalls bis zum Bekanntwerden der bahnbrechenden Arbeiten Kochs in
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Infectionsschutz und Immunität.
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dieses Fahrwasser gerathen. Gegenüber der rein symptomatischen Krank¬
heitsbetrachtung, welche die Infectionskrankheiten mit den hitzigen Fie¬
bern in einen Topf warf, bedeutete die anatomische und cellulare Krank¬
heitslehre Virchow s einen sehr grossen Fortschritt. Mit der accidentellen
Infectionsbedingung, insoweit sie durch die PETTENKOFER sche zeitliche und
örtliche Disposition repräsentirt wurde, operirten die Kliniker zwar ziemlich
viel, namentlich beim Herannahen und beim Entstehen grösserer Epidemien;
einen klaren und durchsichtigen Inhalt haben aber diese PETTENKOFER'schen
Begriffe im klinischen Gebrauch kaum bekommen, und der Genius epide-
micus blieb noch mehr ein recht vager Begriff. Da war es eine rettende
That, als Koch die exogene Infectionsbedingung für viele Krankheiten in
Gestalt von Bakterien greifbar demonstrirte, und diejenigen medicinischen
Forscher, welche mit Verständniss den KocHschen Entdeckungen zu folgen
wussten, haben aus denselben in begreiflichem Enthusiasmus und mit ebenso
begreiflicher Einseitigkeit die Consequenzen für die Aetiologie der Infections¬
krankheiten auch in der ärztlichen Praxis gezogen ; das gilt z. B. von der
CoKNETschen Darstellung der Tuberkulose-Aetiologie. Ueber dem Infectionsstoff
wurde jetzt die individuelle und ererbte Disposition vernachlässigt, und die
örtliche und zeitliche Disposition wurde mehr summarisch behandelt. Erst die
sorgfältige experimentelle Analyse der Aetiologie von einzelnen Infections¬
krankheiten im Laufe des letzten Jahrzehnts zwang wieder zu einer ein¬
gehenderen Berücksichtigung der endogenen und accidentellen Infections-
bedingungen. Krankheiten von der Art der croupösen Pneumonie, der
Streptokokken- und Staphylokokkeninfectionen, der Cholera, des Typhus
u. s. w. konnten in ihrer Entstehung und in ihrem Verlaufe nicht richtig
verstanden werden, wenn man von der Voraussetzung ausging, dass überall
da, wo in den menschlichen Organismus der lebende Krankheitserreger ein¬
dringt, auch die in Frage stehende Infectionskrankheit zustande kommen
müsste. So sind denn gegenwärtig die Beschaffenheit des infectionsbedrohten
und inficirten lebenden Organismus und die zeitweilige Beschaffenheit der
äusseren Lebensbedingungen wieder mehr zur Geltung gelangt.
Das von aussen stammende ursächliche Krankheitsmoment stellt eben
nur einen Theil, allerdings einen absolut nothwendigen Theil, der für das
Zustandekommen einer Infectionskrankheit zu berücksichtigenden Erfordernisse
dar. Den anderen Theil der Krankheitsätiologie finden wir gegeben in den
inneren und äusseren Lebensverhältnissen des Substrats für die Infection,
welches repräsentirt wird durch den animalischen Organismus mit den ererbten
und erworbenen Eigenschaften seiner organisirten und nicht organisirten Be-
standtheile und mit den temporären Besonderheiten, wobei Alter, Ernährungs¬
zustand, Aufenthaltsort, vorausgegangene oder noch bestehende krankhafte
Alterationen und viele andere Zufälligkeiten von grosser Bedeutung sind.
Dazu kommt dann noch als ganz besonders wichtiges Moment die Lage und
Beschaffenheit der den Infectionsstoffen eröffneten Eingangspforten, durch
welche sie zu den Prädilectionsstellen für ihren Angriff hingelangen.
Wir können den Infectionsstoff, als exogene specifische Infections¬
bedingung, der endogenen Infectionsbedingung gegenüberstellen, welche
letztere abhängig ist von der Beschaffenheit des inficirten Organismus.
Was die accidentelle Infectionsbedingung angeht, so spielen bei der¬
selben sowohl solche Zufälligkeiten eine Rolle, welche den infectionsbedrohten
und inficirten Organismus angehen, als auch solche, welche von der Aussen-
welt abhängig sind. Beide Arten der accidentellen Infectionsbedingung können
a priori entweder einen prädisponirenden oder einen schützenden (immu¬
nitätverleihenden) Einfluss ausüben.
Am besten kann man sich vielleicht das Zusammenwirkan der drei
Hauptfactoren (endogene, exogene und accidentelle Infectionsbedingung) bei
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Infectioiisschutz und Immunität.
der Analyse des Zustandekommens einer bestimmten Infectionskrankheit
klar machen. Ich will als Beispiel den Tetanus wählen.
Obenan steht uns gegenwärtig die Erkenntniss, dass ein specifischer
Infectionsstoff, nämlich das lebende Tetanusvirus und das Tetanusgift. eine
unerlässliche Vorbedingung der Tetanusentstehung ist. Ausser dieser exo¬
genen specifischen Infectionsbedingung muss die in der besonderen ererbten
Organisation gegebene endogene Infectionsbedingung vorhanden sein, wenn
Tetanus entstehen soll. Ist dieselbe bei einem Individuum vorhanden, so
nennen wir dasselbe empfänglich oder disponirt. Fehlt sie, so hat das Indi¬
viduum eine ererbte oder natürliche Immunität. Schliesslich muss aber auch
ein prädisponirendes Trauma hinzukommen. Möglicherweise spielen im Einzel¬
falle auch Erkältungen, Ueberanstrengungen und andere accidentelle Zustands¬
änderungen eine begünstigende Rolle für die Tetanusentstehung. Das haupt¬
sächlichste prädisponirende Moment ist aber zweifellos gegeben in der Be¬
schaffenheit der durch eine Verwundung geschaffenen Eingangspforte lür den
Tetanusinfectionsstoff, insbesondere dann, wenn derselbe repräsentirt wird durch
das lebende Tetanusvirus. Im Laboratoriumsexperiment ist für eine zum Tetanus
führende Infection die Einbringung des Virus in eine einfache glatte Wunde
nicht genügend. Wir müssen vielmehr entweder vorher die Gewebe zer¬
trümmern oder das Virus zusammen mit einem Fremdkörper, der die schnelle
Verheilung der künstlich geschaffenen Gewebsläsion verhindert, incorporiren,
oder aber durch toxische und parasitäre Agentien localisirte Entzündungs¬
herde schaffen, in welchen die Tetanusbakterien wie in einem geschlossenen
Culturapparat sich vermehren und ihr Gift produciren können. So ist auch
beim Menschen und bei Pferden nicht jede mit Tetanusvirus inficirte Wunde
geeignet, der Ausgangspunkt für die tetanische Erkrankung zu werden.
Glatte und offene Gewebsläsionen disponiren nur wenig zur krankheit¬
erzeugenden Wirkung des lebenden Infectionsstoffes, während enge Wund¬
canäle mit Gewebszertrümmerung in der Tiefe, mit consecutiver Secretverhal-
tung und mit eingedrungenen Fremdkörpern erfahrungsgemäss eine besonders
günstige Vorbedingung für den Tetanus abgeben. Das hängt vornehmlich
zusammen mit der Thatsache, dass die Tetanusbacillen anaerob lebende
Mikroorganismen sind, die nur da günstige Entwicklungsbedingungen vor¬
finden, wo sie dem Luftsauerstoff und Blutsauerstoff entzogen sind. Gewebs-
zertrümmerungen, insbesondere Muskelzerreissungen, prädisponiren nament¬
lich auch noch deswegen für den Tetanus, weil die danach eintretenden
chemischen Zersetzungen und Nekrotisirungen zur Bildung von todten
Räumen die Veranlassung werden, in welchen wie auf künstlichen Nähr¬
böden die Tetanusbacillen sich vermehren und als Giftproducenten be¬
tätigen können.
Nach alledem wird es nicht überraschen, wenn die Anamnese der ein¬
zelnen Tetanusfälle als Entstehungsursache so oft Traumata besonderer Art,
z. B. Maschinen Verletzungen , Schussverletzungen, tief eingedrungene Holz¬
splitter, Glassplitter, Nägel u. s. w. aufweist.
Wenn auf diese Weise die deutsche Bezeichnung »Wundstarrkrampf«
auch nach unseren jetzigen Anschauungen mit Recht an Stelle des Fremd¬
wortes »Tetanus« gesetzt werden kann, so spielt doch in unserer ätiologi¬
schen Auffassung die Wunde und die Verletzung eine ganz andere Rolle
als in dem ätiologischen Denken älterer Autoren. Virchow beispielsweise
dachte sich die Sache so, dass durch den Fremdkörper ein Nerv excessiv
gereizt werde, und dass dadurch der tetanische Zustand ausgelöst werde.
In seinem Archiv (Bd. II, pag. 28) sagt er darüber: »Wenn z. B. jemand sich
einen Glassplitter in den Fuss tritt und Tetanus bekommt, so wird der
letztere durch die Entfernung des Splitters und die Herstellung einer ein¬
fachen Wunde geheilt werden können, solange noch nicht durch die
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Infectionsschutz und Immunität.
191)
ungeheuere Steigerung der Nervenströmungen eine Veränderung
am Nervenapparat gesetzt ist.« Demgegenüber fassen wir jetzt die
besondere Art der Verletzung durch einen Fremdkörper nicht an sich als
tetanuserregend auf, sondern nur als prädisponirend für die Ansiedelung der
Tetanusbacillen, und wir werden deswegen naturgemäss ausser der beson¬
deren Art der Verletzung auch noch die Gegenwart des specifischen Infec-
tionsstoffes verlangen müssen, wenn der Tetanus entstehen soll. Da wir
nun wissen, dass im Erdboden der Infectionsstoff sehr verbreitet ist, so
werden wir nicht verwundert sein, wenn Nägel, Holzsplitter, Glassplitter,
Kleiderfetzen, unreine Instrumente u. s. w. dann vorzugsweise tetanuserzeu¬
gend wirken, falls ihnen Erde anhaftet, oder wenn bei schon bestehenden
Läsionen das verletzte Individuum mit dem Erdboden in anhaltende Be¬
rührung kommt. Ich bringe mit den accidentellen Infectionsbedingungen die
auffallende Thatsache in Zusammenhang, dass Mäuse, Meerschweine und
andere Thierarten, welche in Bezug auf die endogene und die exogene Infec-
tionsbedingung (ererbte Disposition und Vorhandensein des Infectionsstoffes
in der Umgebung) nachgewiesenermassen sich ähnlich verhalten wie Menschen
und Pferde, trotzdem kaum jemals spontan an Tetanus erkranken. Unter
sonst gleichen Bedingungen werden nämlich solche Individuen eher Tetanus
bekommen können, welche den prädisponirenden Verletzungen mehr ausge¬
setzt sind.
Die eben erwähnte auffallende Thatsache, dass Mäuse, Meerschweine
und andere im Experiment mit Leichtigkeit tetanisch zu machende Thierarten
vom epidemiologischen Gesichtspunkt aus geradezu als immun zu betrachten
sind, findet ihr Analogon noch bei vielen anderen Infectionskrankheiten.
Es giebt kaum Thierarten, die so leicht im Experiment mit Milzbrand¬
bacillen krank gemacht werden können, wie Mäuse und Meerschweine. Diese
beiden Thierarten besitzen so wenig Widerstandskräfte gegenüber der Milz-
brandinfection, dass ein einziger virulenter Milzbrandbacillus zur Herbei¬
führung einer tödlich verlaufenden Infection genügen kann, und doch gehört
das spontane Auftreten des Milzbrands bei Mäusen und Meerschweinen so
sehr zu den Ausnahmen, dass ich selbst es noch nie beobachtet habe, trotz¬
dem ich viele Tausende von diesen Thieren eng zusammengepfercht mit
milzbrandkranken und milzbrandverendeten Individuen im Laufe der Jahre
beobachtet habe. Gesunde Mäuse fressen die Cadaver milzbrandverendeter
Mäuse an, ohne zu erkranken. Im Gegensatz dazu würden unter gleichen
Lebensbedingungen Rinder und Schafe zweifellos zu einem grossen Procent¬
satz milzbrandkrank werden, obwohl sie im Experiment viel schwerer zu infi-
ciren sind. Wenn wir nach der Ursache dieser paradoxen Thatsache fragen,
so bleibt kaum etwas anderes übrig, als die Annahme eines grösseren In-
fectionsschutzes der Mäuse und Meerschweine infolge einer geringeren
Vulnerabilität der äusseren und inneren Körperbedeckungsschichten, was
zuletzt wieder auf eine Differenz in den prädisponirenden Läsionen und
damit auf eine Differenz in den accidentellen Infectionsbedingungen hinaus¬
kommt.
Aehnlich wird es sich verhalten in Bezug auf die Infectionen durch den
LöFFLERSchen Diphtheriebacillus. Wir können im Experiment Pferde,
Schafe, Rinder, Kaninchen, Meerschweinchen, Tauben u. s. w. sicher und leicht
diphtheriekrank machen, und wir müssen annehmen, dass unsere Hausthiere
dem Diphtherieinfectionsstoff nicht weniger ausgesetzt sind als Menschen,
so dass die endogene und die exogene Infectionsbedingung auch für diese
als vorhanden betrachtet werden müssen. Wenn trotzdem die Diphtherie
eine im wesentlichen auf den Menschen beschränkt bleibende Infectionskrank-
heit ist, so werden wir auch hier die accidentellen Läsionen als den Haupt¬
grund für die epidemiologische Immunität der Hausthiere vermuthen dürfen.
Original fro-m
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200
Infectionsschutz und Immunität.
Bei den meisten Infectionskrankheiten beobachten wir ferner grosse
Unterschiede, auch bei Individuen derselben Art, je nach dem Lebensalter,
dem Ernährungszustände u. s. w.; ferner bei Constitutionsanomalien, nach
voraufgegangenen Erkältungen, Anstrengungen körperlicher und psychischer
Art, nach Excessen in baccho et venere u. 8. w.
Der FrAnkel’ sehe Diplococcus beispielsweise findet sich bei sehr
vielen Menschen in virulentem Zustande auf der Oberfläche der Schleimhaut
in den oberen Athmungswegen. Er scheint aber einer Alteration der Epithel¬
schicht und der Blutgefässe des Respirationsapparates zu bedürfen, wenn
er als Erreger einer croupösen Pneumonie functioniren soll, und wenn nun
die Pneumonie zu allen Zeiten als eine Erkältungskrankheit angesehen worden
ist, so mag insofern darin etwas sehr Wahres gefunden werden, als der
durch jähen Temperaturwechsel, heftige Luftströmungen und Durchnässung
veränderte Zustand der Capillargefässe eine Prädisposition für den Angriff
der Pneumokokken schafft.
Ich erinnere auch noch daran, dass für die verderbliche Thätigkeit
der Typhusbacillen und Choleravibrionen accidentelle Infections-
bedingungen von Wichtigkeit sind. Auch hier ist ein Zusammenhang mit
Erkältungen sehr leicht zu construiren. Ein prädisponirender Zustand der
Intestinalschleimhaut wird beim Typhus und bei der Cholera, besonders
aber auch durch eine unzuträgliche Beschaffenheit der Ingesta bedingt
werden können.
Man kann aus alledem entnehmen, dass die Analyse des Zustande¬
kommens der spontan entstehenden Infectionskrankheiten durch die Benutzung
von Schlagworten, wie Immunität, Disposition, Genius epidemicus,
geschwächter und widerstandsfähiger Organismus u. s. w. nicht
gefördert wird. Alle diese Schlagworte sind nur Umschreibungen für die
beobachteten epidemiologischen Thatsachen: wenn wir aber den epidemio¬
logischen Thatsachen betreffend das Verschontbleiben und Ergriffen werden von
einer Seuche zum Zwecke eines intimeren Verständnisses näher treten, dann
versagen sie. Eine Maus und ein Meerschweinchen können wir beispiels¬
weise nach Belieben entweder milzbrand- und tetanusimmun oder milzbrand-
und tetanusempfänglich nennen, je nachdem wir die auf statistischem Wege
zu eruirenden epidemiologischen Thatsachen oder die auf experimentellem
Wege zu eruirenden Laboratoriumsthatsachen für unser Urtheil entscheidend
sein lassen. Und den Menschen können wir gleichfalls nach Belieben für
immun gegenüber den FRÄNKEi/schen Pneumoniekokken oder für empfäng¬
lich erklären, je nachdem wir ausgehen von dem Normalzustände des mensch¬
lichen Individuums oder von einem krankhaft veränderten Zustande, welcher
die accidentelle Infectionsbedingung für die Pneumokokken günstiger und
für den Menschen ungünstiger gestaltet.
Auf die entscheidende Rolle, welche die accidentellen Infectionsbedin-
gungen für die sensu strictiori sogenannten Wundinfectionskrankheiten
spielen, brauche ich an dieser Stelle blos hinzudeuten.
Besonders betonen aber muss ich noch den Fall, wo die krankmachende
Wirkung der Infectionsstoffe, bei ererbter Disposition eines Individuums zur
Erkrankung, verhütet und beseitigt wird durch willkürliche Massnahmen.
Alle unsere Immunisirungsmethoden, welche zu diesem Ziel führen, thun im
letzten Grunde nichts anderes, als dass sie einen accidentellen Infections¬
schutz willkürlich herstellen.
Der Ausdruck Infectionsschutz deckt sich begrifflich nicht vollständig
mit dem, was unter Immunität verstanden wird.
Wir nennen ein Individuum gegenwärtig zwar im allgemeinen dann
immun, wenn es gegenüber der krankmachenden Wirkung solcher Dosen von
einem Infectionsstoff geschützt ist, welche für andere Individuen bei gleicher
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Infectionsschutz und Immunität.
201
Applic&tionsweise verderblich sind, und in diesem Sinne bedeutet der Aus¬
druck Infectionsschutz annähernd dasselbe wie der Ausdruck Immunität.
Aber schon die oben citirten Beispiele des Verhaltens von Mäusen und Meer¬
schweinchen gegenüber dem Milzbrand und dem Tetanus deuten darauf hin,
dass im Einzelfalle der Sprachgebrauch den einen Ausdruck gestattet, wo
der andere nicht zulässig ist. Mäuse und Meerschweinchen besitzen zwar
gegenüber dem Milzbrand und dem Tetanus einen Infectionsschutz, und unter
der Voraussetzung, dass sie den prädisponirenden accidentellen Läsionen
weniger ausgesetzt sind als solche Thierarten, welche spontan an Milzbrand
und Tetanus erkranken, dürfen wir diesen Infectionsschutz mit Recht als
einen accidentellen Infectionsschutz ansprechen; das Sprachgefühl sträubt sich
aber dagegen, Mäuse und Meerschweinchen als milzbrand- und tetanusimmun
zu bezeichnen. In der übergrossen Mehrzahl der Fälle werden sich aber beide
Ausdrücke promiscue anwenden lassen, ohne dass damit eine Begriffsver¬
wirrung angerichtet wird. Nur in dem Falle, dass ein epidemiologisch fest¬
gestellter Infectionsschutz einhergeht mit ausgesprochener Infectionsempfäng-
lichkeit im Laboratoriumsexperiment, werden wir zwischen Infectionsschutz
und Immunität scharf unterscheiden müssen.
Bei der Eintheilung der verschiedenen Arten der Immunität, welche
wir im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts unterscheiden gelernt haben,
stelle ich gegenwärtig als Eintheilungsprincip obenan den Mechanismus ihres
Z ustandekommens.
Darnach kann im concreten Fall die Immunität gegenüber einer In-
fectionskrankheit bedingt sein durch einen besonderen Zustand oder eine
besondere Thätigkeit vitaler Körperelemente, also der Zellen, Organe und
Gewebe; oder durch einen besonderen Zustand der Körpersäfte; und wir
kommen so zur Unterscheidung einer cellularen und einer humoralen Im¬
munität.
Die cellulare Immunität, insoferne als sie auf einer Unempfindlichkeit
der belebten Körperelemente gegenüber den Infectionsgiften oder unbelebten
Infectionsstoffen beruht, ist auf einen passiven Zustand zurückzuführen; ich
habe sie als histogene Giftimmunität in meinen früheren Publicationen auf¬
geführt. Demgegenüber können wir uns auch eine active cellulare Immunität
vorstellen, und innerhalb derselben wiederum verschiedene Unterarten.
Die im Sinne Metschnikoff's durch die intracelluläre Verdauung von
infectiösen Parasiten bedingte Immunität wird als phagocytäre Immunität
zu bezeichnen sein; wenn dagegen der Infectionsschutz so zustande kommt,
wie Ehrlich ihn sich für die Diphtherie vorsteilt, nämlich durch Abstossung
antitoxisch wirksamer Körper aus den diphtheriegiftempfindlichen Zellen, so
haben wir es mit einer secretorischen cellulären Immunität zu thun. Die
Zellen können aber nicht blos antitoxische, sondern auch antibakterielle Pro-
ducte liefern und durch dieselben den Infectionsschutz vermitteln. Je nach
der besonderen Wirkungsweise der antibakteriellen Zellproducte haben wir
auf Grund unserer gegenwärtigen Kenntnisse bakterientödtende, entwick¬
lungshemmende, agglutinirende, virulenzabschwächende Stoffe zu unterschei¬
den. Die Forschungen der letzten Jahre haben als besonders bedeutsame
Entdeckung die bakteriolytisch wirksamen Antikörper R. Pfeiffer s aufzu¬
weisen, welche höchst wahrscheinlich ihren Ursprung einer Zellthätigkeit
verdanken, und daher an dieser Stelle zu nennen sind. Im Gegensatz zu
denjenigen bakterientödtenden Antikörpern, welche bakteriolytisch (plasmo¬
lytisch, chromatolytisch, stromatolytisch) wirksam sind, kennen wir andere
Antikörper, die den Tod von Bakterien mit Erhaltung ihrer Form herbei¬
führen, und die wir als nekrotisirend wirksam bezeichnen können. Zu diesen
sind vielleicht zu rechnen die von Emmerich entdeckten Antikörper, welche
Schweinerothlaufbacillen abzutödten imstande sind.
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202
Infectionsschutz und Immunität.
Ob die von Büchner unter dem Namen »Alexine« beschriebenen Anti¬
körper — falls sie überhaupt an dieser Stelle unter den immunitätverleihen¬
den antibakteriellen Stoffen zu nennen sind — als Zellproducte aufzufassen
sind, ist mit Sicherheit nicht zu sagen. Sollte die weitere Forschung ihre
Bedeutung für das Zustandekommen eines Infectionsschutzes einwandsfrei
beweisen, so wäre der richtigere Platz für eine solche Alexinimmunität
auch dann bei der humoral bedingten Immunität zu suchen, wenn diese Art
von antibakteriellen Körpern auf die Tbätigkeit der Zellen zurückgeführt
werden könnte. Denn wir finden sie bei der Untersuchung gelöst in der Blut¬
flüssigkeit vor. Mit einigem Recht wird man die relative Milzbrandimmunität
der Ratten im Sinne der Büchner sehen Alexinimmunität deuten dürfen. Die
Milzbrandbacillen gehen im Rattenserum in vitro zugrunde, und wenn die
Impfung von Ratten mit Milzbrandvirus für dieselben nicht verderblich wird,
so liegt die Erklärung zum mindesten sehr nahe, dass auch innerhalb des
lebenden Rattenkörpers die Blutflüssigkeit vermöge ihrer milzbrandfeindlichen
Eigenschaft den Infectionsschutz vermittelt. Ein solches Zustandekommen
der Immunität ohne Intervention cellulärer Thätigkeit muss aber zweifellos
die Immunität zu einer humoralen stempeln.
Humoral zu interpretiren ist auch die Milzbrandimmunität von Fröschen,
welche in einem Medium mit niedrig gehaltener Aussentemperatur gehalten
werden, und ebenso die Tuberkuloseimmunität von Fröschen mit niedrig
bleibender Körpertemperatur. Die Aufnahme der Milzbrandbacillen und
Tuberkelbacillen in Phagocyten hat nicht die Abtödtung dieser Bakterien
zur Folge, und kann daher als Ursache des Infectionsschutzes nicht
betrachtet werden, vielmehr muss der antibakteriellen Eigenschaft der
Blutflüssigkeit und der übrigen Körpersäfte von Fröschen mit niedriger
Körpertemperatur der wesentlichste Antheil an dem Infectionsschutz zu¬
geschrieben werden
Eine humorale Immunitätsstheorie war auch die Interpretation Pasteur s
betreffend die Milzbrandimmunität von willkürlich immun gemachten Schafen,
wenn dieser Forscher annahm, dass die Blutilüssigkeit und die Gewebssäfte
zu einem an Nährstoffen für die Milzbrandbacillen erschöpften Medium ge¬
worden seien. Wir wissen letzt freilich, dass diese Pasteur sehe Erschöpfungs¬
theorie nicht haltbar ist, und ich selbst neige dazu, die Milzbrandimmunität
immunisirter Schafe im Sinne Metschxikoff's als phagocytäre und damit als
celluläre Immunität aufzufassen.
Humoral sind aber vor allem diejenigen Arten der Immunität, welche
durch Incorporation von fertigen antitoxischen und anti bakteriellen Anti¬
körpern willkürlich hergestellt werden, also die serumtherapeutisch her¬
gestellte Diphtherie-, Tetanus-, Cholera-, Typhusimmunität u. s. w. Bei den
isopathisch erzeugten Immunitätsarterii für die genannten Krankheiten
haben wir es mit verschiedenen Phasen zu thun. In der secretorischen Phase,
während welcher vitale Körperelemente auf die Zufuhr von Infectionsstoffen
mit der Production von antitoxischen, beziehungsweise von antibakteriellen
Antikörpern reagiren, steht die cellulare Thätigkeit im Vordergründe; in
der postsecretorischen Phase aber sind die Antikörper in den Körperflüssig¬
keiten gelöst, und wenn wir dann bei erneuter Zufuhr von Infectionsstoffen
einen immunen Zustand constatiren, dann ist die Immunität genau ebenso
aufzufassen, wie wenn wir serumtherapeutisch die Immunität hergestellt
haben. Im ersteren Fall, während der secretorischen Phase ist die Immunität
eine cellulare oder, wie Ehrlich sich ausdrückt, eine active; im letzteren
Falle eine humorale oder passive.
Auf Grund der voraufgegangenen Erörterungen kann folgendes Schema
für die verschiedenen Arten der Immunität aufgestellt werden:
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Infectionsschutz und Immunität.
1>U3
Eintheilung der verschiedenen Immunitätsarten.
I. Cellular
I. 1. Passive cellulare (histogene)
Immunität.
A. Beruhend auf Unempfindlichkeit orgaüi-
sirter lebender Körperbestandtheile gegen¬
über einem Infectionsgift.
B. Beruhend auf einer von der anatomischen
Beschaffenheit der äusseren und inneren
Bedeekungsschichten abhängigen Undurch¬
gängigkeit derselben für Infeetionsstoffe
bei vorhandener Giftempfindlichkeit.
Immunität.
I. 2. Active cellulare Immunität.
A. Phagocytär.
a) Ererbt:
b) isotherapeutisch oder serumtherapeutiseh
erworben.
B. Sec re torisch und zwar bedingt durch:
a) Antitoxische Secretionen (i m m e r s p e c i-
fisch);
b) specifisch antibakterielle Secretionen:
ol) baktericid (nekrotisirend und bakterio-
lytisch):
')) entwicklungshemmend;
Y) agglutinirend;
o) virulenzabschwächend;
c) nicht specifisch antibakterielle Secretionen.
II. Humorale Immunität.
II. 1. Antibakterielle humorale Immunität.
Beruhend auf:
A. Ungeeignetheit der Korperfliissigkeiten als Nährboden für die Krankheitserreger.
B einer bakterienfeindlichen Eigenschaft nicht specifischer Art im Sinne Büchners:
Büchhek’s A1 e x i n i m m u n i t ii t.
C. einem Gehalt der Körperflüssigkeiten an specifisch antibakteriellen, isopathisch entstandenen
Antikörpern, und zwar an:
a) baktericiden Antikörpern;
ol) Bakteriolysine;
nekrotisirende Antikörper:
b) entwicklungshemmenden Antikörpern;
c> agglutinirenden Antikörpern;
dj virulenzabschwächenden Antikörpern.
II. 2. Antitoxische humorale Immunität.
Die passive cellulare (histogene) Immunität ist immer ererbt; sie bildet
einen Bestandtheil der sogenannten natürlichen Immunität; zur natürlichen
Immunität würden auch die BrCHXKii'sche Alexinimmunität und diejenige
phagocytäre Immunität Mktschnikoffs zu rechnen sein, welche ohne iso-
therapeutische und serumtherapeutische Eingriffe zur Beobachtung gelangt.
Auch die nicht specifisch antibakteriellen Secretionen beispielsweise der
drüsigen Organe, insoweit sie immunitätbedingend sind, gehören dahin.
Dagegen gehören der erworbenen Immunität an alle Arten der Im¬
munität, welche nach dem Ueberstehen einer Infection durch eine specifische
cellulare Thätigkeit oder durch specifische Antikörper Zustandekommen, und
diejenigen Immunitätsarten, welche wir durch eine antibakterielle oder eine
antitoxische Serumtherapie hervorrufen können.
Es scheint eine feststehende Thatsache zu sein, dass die durch fertige
Antikörper bedingte humorale Immunität nicht vererbbar ist. Nur insoweit,
als von einer humoral-immunen Mutter die Antikörper in den Kreislauf des
Fötus übergehen, können die Descendenten temporär durch Antikörper
immun werden. Ob die erworbene cellulare Immunität vererbbar im eigent¬
lichen Sinne des Wortes ist, darüber liegen noch keine Erfahrungen vor.
E. IUhrih'j.
Inflltrationsanästliesie. Wie schon in Bd. VIII der Encyelo-
pädischen Jahrbücher in dem Artikel Localanästhesie mitgetheilt wurde,
verwendet Heinze *) statt der von Schleich 2 ) eingeführten Cocainlösungen
zur Erzeugung von Infiltrationsanästhesie eine l%ige Eucain B-Lösung in
0,8%iger Kochsalzlösung. Inzwischen ist noch ein weiteres locales Anüsthe-
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204
Infectionsschutz und Immunität. — Infiltrationsanästhesie.
ticum zur Infiltrationsanästhesie empfohlen worden: das Nirvanin. Dieses,
der salzsaure Diäthylglykokoll-p-Amidooxybenzoesäuremethylester, steht che¬
misch dem schon seit ein paar Jahren als Localanästheticum eingeführten
Orthoform, dem Amidooxybenzoesäuremethylester, sehr nahe. Letzteres
konnte ja wegen seiner Unlöslichkeit keine Verwendung zur subcutanen
oder intracutanen Injection finden. Man suchte nun die Vorzüge des Ortho-
forms in der Weise bei der Infiltrationsanästhesie praktisch zu verwerthen,
dass man nach dem Vorschläge von Dreyfuss 3 ) nach Beendigung der unter
S< hleich scher Anästhesie ausgeführten Operation die gesammten Wund¬
flächen mit einem Pulver von Orthoform und Borsäure aa. bestreute und
so die durch die Operation blossgelegten und verletzten Nervenendigungen
auch noch für eine Zeit nach Aufhören der Infiltrationsanästhesie unem¬
pfindlich machte. Auf diese Weise kann der oft sehr unangenehme Nach¬
schmerz ganz beseitigt werden, und dieses Verfahren findet daher auch
ziemlich viel Anwendung.
Das Orthoform bildet mit Salzsäure ein gut krystallisirendes Salz, das
sich auch in Wasser leicht löst und ebenso gut, wie die freie Orthoform-
base anästhesirt. Indessen ist es zur therapeutischen Anwendung nicht ge¬
eignet, da es stark sauer reagirt und heftige Reizerscheinungen verursacht.
Die Erfinder des Orthoforms, Einhorn und Heinz 4 ), bemühten sich daher,
stärkere basische Verbindungen des Orthoforms herzustellen, welche mit
Mineralsäuren nicht mehr saure, sondern neutral reagirende Salze bildeten.
Das Gesuchte fanden sie in den Diäthylglykokollverbindungen der aromati¬
schen Amido- und Oxyamidoester. Die Salze dieser stark basischen Sub¬
stanzen reagirten wirklich neutral und vermochten dabei auch mehr oder
weniger intensiv und andauernd zu anästhesiren.
Als die geeignetste Verbindung aus dieser Gruppe erschien das Nir¬
vanin. Es stellt schöne, weisse Prismen dar, schmilzt bei 185° und giebt
mit Eisenchlorid eine violette Farbenreaction. In Wasser ist das Präparat
sehr leicht löslich. Die Lösungen reagiren neutral. Man kann es daher so¬
wohl zur Ausführung der Schleich's chen Infiltrationsanästhesie, wie der
OßERST-BRAUNschen regionären Anästhesie verwenden. Zur ersteren
Form der localen Anästhesie benützt man schwächere Lösungen: bei nicht
entzündeter Musculatur Vio%ig®> sonst im allgemeinen l / 6 — 1 / 4 %ige, bei
entzündlich verändertem Gewebe zweckmässig *4—VsVoige Lösungen. Die
Dauer der Analgesie nimmt mit der Concentration zu. Auf diese Weise sind,
namentlich von Luxenbcrger *), schon zahlreiche Operationen unter localer
Anästhesie ausgeführt worden.
Um regionäre Anästhesie mittels Nirvanin zu erzeugen, empfiehlt
es sich, eine 2° 0 ige Lösung zu verwenden. Die Dauer der Analgesie richtet
sich hierbei nach der Abnahme der Umschnürung: bleibt letztere bestehen,
so hält die Analgesie in der Regel 3 / 4 —1 Stunde an. Im Mittel braucht
man zur Anästhesirung eines Fingers oder einer Zehe 4 Ccm. der 2%igen
Lösung, d. h. 0,08 Grm. Nirvanin. Die maximale Wirkung ist nach durch¬
schnittlich 9 Minuten — wie mit der sonst üblichen l%igen Cocainlösung
— erzielt.
Das Nirvanin besitzt aber noch einige Eigenschaften, die es den an¬
deren derartigen Mitteln, namentlich auch dem Cocain, bei weitem überlegen
erscheinen lassen.
Schon dem Orthoform kommen bis zu einem bestimmten Grade anti¬
septische Eigenschaften zu; dies ist in noch viel höherem Masse beim
Nirvanin der Fall. Eine l%ige Lösung hebt jedes Bakterienwachsthum,
Gährung und Fäulniss vollständig auf. Es lässt sich also eine solche Lösung
ohne besondere strenge Vorsichtsmassregeln im täglichen Gebrauch steril er¬
halten. Doch kann man — und das ist ein weiterer Vorzug den Cocain-
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Infiltrationsanästhesie.
205
lösungen gegenüber — eine Nirvaninlösnng auch sterilisiren, ohne dass sie
dabei an anästhesirender Kraft Ginbusse erleidet.
Mit dem Orthoform theilt das Nirvanin noch eine weitere höchst
schätzenswerthe Eigenschaft: die geringe Giftigkeit. Nach Einhorn und
Heinz ist das Nirvanin etwa lOmal weniger giftig als Cocain. Von letzterem
beträgt die Maximaldosis für den Erwachsenen 0,05 Grm.; vom Nirvanin sind
0,5 Grm. und mehr ohne Schaden injicirt worden. Luxenburger zeigt den
Vorzug, den diese Eigenschaft dem Mittel gegenüber den cocainhaltigen
Lösungen verleiht, recht deutlich an dem Beispiel der Radicaloperation
einer Hernie: »Zur Ausführung derselben sind circa 80—100 Ccm. Infiltra¬
tionsflüssigkeit erforderlich; nimmt man nun Schleich II, so wird die Maxi¬
maldosis von Cocain fast um das Doppelte überschritten; mit 100 Ccm. einer
1 / 4 °/ 0 igen Nirvaninlösung dagegen (die ungefähr Schleich II entspricht) ist man
erst auf 0,25 Grm., d. i. der halben Maximaldosis des Nirvanins angelangt.«
Man muss daher die Einführung des Nirvanins zur Infiltrationsanästhesie
wohl als einen wesentlichen Fortschritt bezeichnen.
In der Technik der Infiltrationsanästhesie haben die letzten Jahre
keine nennenswerthen Veränderungen gebracht.
Wohl aber ist das theoretische Wissen über das Zustandekommen
dieser Art von Localanästhesie wesentlich gefördert worden. Schon durch
die Arbeiten von Gradenwitz 6 ) und Heinze '), die bereits im letzten Bande
der Jahrbücher unter Localanästhesie ausführlich besprochen sind, ist
uns Kenntniss über den Begriff der »specifisch localanästhesirenden Kraft«
geschaffen worden. Man muss bei den einzelnen local anästhesirenden Mitteln
unterscheiden, wie Viel davon specifische Wirkung ist und wie viel auf
Kosten anderer physikalischer Vorgänge (der Wasserentziehung oder Wasser¬
abgabe) zu setzen ist. Nur diejenigen Concentrationen von Lösungen verhalten
sich dem thierischen Gewebe gegenüber indifferent, welche letzterem iso¬
tonisch sind. Lösungen niederer Concentration wirken wasserabgebend,
d. h. quellend auf die Gewebe. Der Vorgang der Quellung wirkt jedoch
seinerseits zuerst — wie die Wasserentziehung — schmerzerregend, dann
aber direct anästhesirend, so dass man durch solch niedrig concentrirte
Lösungen und auch durch Aqua destillata, wie bekanntlich Liebreich schon
gefunden hatte, eine Anaesthesia dolorosa erzeugen kann. Die reine, spe¬
cifisch anästhesirende Wirkung eines Mittels tritt also nur dann in Er¬
scheinung, wenn man die Substanz gerade in einer den Körpergeweben iso¬
tonischen Lösung anwendet Die entsprechende Concentration kann man aus
dem isotonischen Coefficienten unter Zuhilfenahme des Moleculargewichtes
der betreffenden Substanz berechnen. Aus dieser Ueberlegung heraus stellte
Heinze seine anästhesirenden Lösungen für die Infiltrationsanästhesie her.
Verwendet man aber, wie es meist geschieht nicht eine den Körpergeweben
gerade isotonische Lösung, sondern eine weniger concentrirte, so kommt zu
der pharmakodynaraischen Wirkung des Mittels noch eine »Quellungsan¬
ästhesie«, der aber eine schmerzhafte Reizung vorausgeht wenn diese nicht
durch die specifische Wirkung des Mittels übercompensirt wird.
Stets aber kommt als drittes Moment bei der ScHLEicB’schen An¬
ästhesie noch der Infiltraitionsdruck hinzu. Dass Compression schon
allein Anästhesie erzeugen kann, ist aus den Erfahrungen mit den Esmarch-
schen Umschnürungen und aus den Versuchen früherer Autoren, nament¬
lich Moore's bekannt der ein eigenes Compressorium construirte. Um nun
eine Vorstellung zu gewinnen, wie hoch man diesen Factor beim Zustande¬
kommen der Infiltrationsanästhesie schätzen dürfte, stellte Bibbrfeld 7 ) durch
directe Messungen mittels eines Wassermanometers fest, ein wie hoher
Druck in einer Schleich' sehen Quaddel herrscht Und zwar prüfte er die
Höhe des Druckes, der zur Erzeugung einer Quaddel nothwendig war, und
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liifiltratioiisuiiästhesie.
2<»6
beobachtete dann an einem FiCK’schen Federmanometer das allmähliche Ab¬
klingen des Druckes mit dem Verschwinden der Quaddel. Die meisten Ver¬
suche wurden an Kaninchen vorgenommen an verschiedenen Hautstellen.
Dabei ergab sich, dass der zur Erzeugung einer Quaddel nöthige Druck am
geringsten an der Bauchbaut , am grössten an der Wirbelsäule war. Und
zwar stieg er von circa 15 Cm. (Wasser-) Höhe in der Mitte des Bauches
auf circa 40 Cm. dicht neben der Wirbelsäule. An den dazwischen liegenden
Stellen war der nöthige Druck umso höher, je näher an der Wirbelsäule,
und umso kleiner, je näher zur Medianlinie des Bauches die Quaddel lag.
Aehnlich verhielt es sich bei den Extremitäten: an der inneren Seite ent¬
stand schon bei circa 10 Cm. Druck eine Quaddel, an der Aussenseite erst
bei circa 20 Cm. — Bei einer zweiten Versuchsreihe mit 0,7° 0 iger Koch¬
salzlösung zeigten sich ähnliche Druckverhältnisse: am Bauche 12».9—29.5.
im Durchschnitt 18,24 Cm.; am Rücken 25,0—42,3 Cm., im Durchschnitt
:*»3.25 Cm.
Das dem Vergehen der Quaddel entsprechende Absinken des Druckes
gestaltete sich — in Procenten des ursprünglichen Druckes dargestellt —
in den ersten 10 Minuten folgendermassen:
Am Rücken Abnahme des Druckes bei Aqua destillata um 79° 0 , bei
0.7%iger Kochsalzlösung um 100%.
Am Bauche Abnahme des Druckes hei Aqua destillata um 7ö° 0 . bei
o.7° „iger NaCl-Lösung um 88° 0 .
Man sieht also, dass die den Körpersäften adäquatere Flüssigkeit aus
der Quaddel schneller verschwindet und der Druck schneller sinkt, als dies
bei destillirtem Wasser der Fall ist.
Auffallend ist auch, dass bei beiden Versuchsreihen die Resorption, das
Vergehen der Quaddel, am Rücken, also in strafferem Gewebe, schneller
erfolgte, als an der lockeren Bauchhaut; ganz besonders stark ist dieser
Unterschied bei der physiologischen Kochsalzlösung.
Beide Thatsachen erscheinen von grosser Bedeutung für das Ver¬
ständnis der Vorgänge im Gewebe bei der ScHLEH H schen Anästhesie.
Bei diesen Versuchsreihen an der Haut von Thieren konnte Biberfeld
natürlich keine Feststellung der Anästhesie vornehmen; Sensibilitätsprüfungen
sind bekanntlich am allgemeinen Integument bei Thieren misslich, und
nur an der Cornea, Nasen- und Kehlkopfschleimhaut sind die bei Reizung
eintretenden Reflexe verwerthbar. Diese Lücke in seinen Ergebnissen suchte
Bibkrfeld durch Versuche mit Infiltration von Nervenstämmen aus¬
zufüllen. Er wählte dazu einen gemischten Nerven, den N. ischiadicus, resp.
peroneus des Kaninchens. Der Nerv wurde in grosser Ausdehnung ohne
Verletzung der Nervenscheide freigelegt. Dann wurde nach Anlegung von
Elektroden der secundären Spirale eines Du Boisschen Schlittens geprüft,
bei welchem Rollenabstande das Thier eben schon Schmerz zu erkennen gab,
beziehungsweise Muskelcontractionen in dem geprüften Gebiete auftreten.
Hierauf wurde die Caniile zwischen Nerv und Nervenscheide eingeführt und
der Flüssigkeitsdruck allmählich gesteigert. Jedoch liess sich eine Wirkung
erst erzielen, als nicht mehr blos unter die Nervenscheide, sondern direct
zwischen die Faserbündel des Nerven selbst injicirt wurde.
Diese Versuche ergaben nun. dass erst ausserordentlich hohe Drucke
imstande sind, eine Anästhesie im Nervenstamme zu erzeugen. Wenn man
nach den Versuchen an der Haut des Kaninchens und einigen weiteren an der
Haut des Hundes schliessen darf, dass beim Menschen ein Druck von circa
50 Cm. ausreichend sei, um eine Quaddel zu erzeugen, so sehen wir hier, am
Kaninchennerven, selbst bei 150 Cm. Druck nur eine — wenn auch erheb¬
liche— Verminderung der Sensibilität, aber noch keine Anästhesie hervor¬
bringen.
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Infiltrationsanästhesie. — Jodipin.
207
Anders liegen die Verhältnisse, wenn man nicht 0,7%ige Kochsalz¬
lösung, sondern Wasser oder Cocainlösungen nimmt. Aqua destillata erzeugt
schon bei ganz schwachem Druck (15—20 Cm.) eine Anästhesie; diese be¬
deutet aber selbstverständlich eine Schädigung des Nerven. Ohne den
Nerven zu schädigen, erzeugt Cocain, in 0,7%iger Kochsalzlösung gelöst,
erst oberhalb der Concentration von 0,01% eine Verminderung der Sensi¬
bilität und bei 0,05% und unter mässiger Drucksteigerung (24 Cm.) voll¬
kommene Anästhesie.
Es ergiebt sich also aus diesen Versuchen von Biberfeld eine Be¬
stätigung der oben schon erwähnten, aus den Resultaten von Heikze zu
schliessenden Thatsache, dass zur Erzeugung von Infiltrationsanästhesie
einerseits eine adäquate (physiologische) Kochsalzlösung zu benutzen ist,
andererseits die specifisch-anästhesirende Kraft des Cocains oder eines an¬
deren »echten« Localanästheticums nicht zu entbehren ist.
Literatur: *) Heinze, Virchow’s Archiv. CLXIII. — 3 ) Schleich, Schmerzlose Ope¬
rationen. Berlin 1899, 3. Aufl. — 3 ) Dreyfuss, Münchener med. Wochenschr. 1898, Nr. 17. —
4 > Einhorn u. Heinz, Ebenda. 1897, Nr. 34; 1898, Nr. 49. — 5 ) Luxemburger, Ebenda. 1898,
Nr. 1 und 2. — 6 ) Gradenwitz, Berliner klin. Wochenschr. 1899, Nr. 11. — 7 ) Bibkrfkld,
Archive» internationales de Pharmakodynamie et de Therapie. 1899, V, pag. 385. Kionkn.
Jodide, Nachweis im Harn, pag. 164.
Jodipin, eines der von Hugo Winternitz dargestellten Halogenfette
(s. bei Bromipin), und zwar ist das Jodipin ein Additionsproduct von Jod
und Sesamöl, welches 10% Jod enthält. Es ist eine sehr stabile chemische
Verbindung, welche durch den Magensaft nicht zerlegt wird, hingegen aller¬
dings durch den alkalischen Darmsaft und durch das Secret des Pankreas,
welche aus der Verbindung Jod abspalten. Von Interesse ist auch die That¬
sache, dass bei Einfuhr per os und subcutaner Einverleibung von Jodipin
und anderen Jodfetten diese zum Theil als Körperfette mit einem aller¬
dings bedeutend geringeren Jodgehalte als das ursprünglich eingeführte
Fett zum Ansatz kommen. Das Jodipin unterscheidet sich von dem ur¬
sprünglichen Sesamöl weder durch Geruch und Geschmack, noch durch seine
Consistenz. In neuerer Zeit wurde auch ein 25% Jod haltiges Präparat dar¬
gestellt, eine dickliche, zähe, röthlich bis violett gefärbte, ölige Flüssigkeit,
die bei kalter Jahreszeit Honigconsistenz annimmt und dann vor dem Ge¬
brauch erwärmt werden muss. Innerlich eingenommen, kann das Jodipin,
da es erst im Darm zerlegt wird, zum Nachweis der Magenmotilität, be¬
ziehungsweise der Wirksamkeit der alkalischen Darmsecrete benützt werden.
Nach Winkler und Stein ist das Jod schon %—% Stunden nach Einnahme
von Jodipin im Mundspeichel nachweisbar. Eine Verzögerung des Auftretens
von Jod über eine Stunde hinaus deutet auf eine Störung der Magenfunction.
Die Anwendung des Jodipins wird nun für alle Fälle empfohlen, in
denen man bisher die Jodalkalien anwandte. Vor diesen soll das Jodipin
besonders durch die Nachhaltigkeit der Wirkung, indem es langsamer als
die Jodalkalien durch den Körper geht, namentlich bei der Behandlung des
Asthmas (0. Frese) und der tertiären Lues vortheilhafter sein. Eine gün¬
stige Eigenschaft ist auch dessen Brauchbarkeit für die äusserliche Ver¬
wendung in Form von Einreibungen und selbst von subcutanen Injectionen.
Radestock räth, das Jodipin wie bei einer regulären Schmiercur auf der
Haut zu verreiben. Man kann es daher bei Syphilis gleichzeitig innerlich
lind äusserlich anwenden.
Dosirung. Innerlich vom 10% jodhaltigen Jodipin täglich 4, später
6 Kaffeelöffel (ä 5 Grm. Jodipin = 0,5 Grm. Jod = 0,65 Jodkalium). Für
Patienten, denen der ölige Geschmack des Mittels unangenehm ist, kann
man dieses mit einigen Tropfen Pfefferminzöl (3 — 5 Tropfen auf 100 Grm.)
versetzen oder man lässt einige Pfefferminzplätzchen hinterher nehmen oder
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208
Jodipin. — Itrol.
zum Verdecken des öligen Geschmackes trockene Cakes kauen. Aeusser¬
lich zum Einreiben der betroffenen Hautstellen 3—5 Grm. Jodipin : zur
subcutanen Injection zwischen Haut und Muskeln nach Klingmüller und
Kindler täglich 10—12 Grm. des vorher leicht angewärmten Jodipins zwischen
Haut und Muskel der Glutealgegend zu injiciren. Man benützt hierfür am
besten Canulen mit möglichst weitem Lumen und schiebt diese langsam
vor, um etwaigen Venen Gelegenheit zum Ausweichen zu geben. Vor der
Injection wird der Einstichbezirk durch Chloräthylspray anästhetisch gemacht.
Literatur: Hugo Winternitz, Ueber Jodfette und ihr Verhalten im Organismus,
nebst Untersuchungen über das Verhalten von Jodalkalien in den Geweben des Körpers.
Zeitschr. f. phyBiol. Chem. 1898, XXIV, pag. 425. — Otto Frese, Ueber die therapeutische
Anwendung des Jodipins bei Asthma bronchiale und bei Emphysem. Aus der med. Poli¬
klinik in Halle. Münchener med. Wochenschr. 1899, Nr. 7. — Radbstock (Dresden), Ueber
Jodpräparate und deren Dosirung. Therap. Monatsh. 1899, pag. 551 ; E. Merck's Jahresb. für
1898 und für 1899. Loebisch.
Jodoformin, s. Augenheilmittel, pag. 46.
Jodquecksilberhämol, Haemolum hydrargyro-jodatum. Unter
den von Robert dargestellten Hämoien (s. Encyclop. Jahrb., Bd. IV, pag. 260;.
welche ausser Eisen noch andere Metalle organisch gebunden enthalten,
soll das Jodqueck8ilberbämol, mit welchem Quecksilber, Jod und Eisen zu
gleicher Zeit dem Organismus einverleibt werden, ein für die Behandlung
der Syphilis vorzüglich geeignetes Präparat darstellen. Robert empfahl, das
Präparat, um Verdauungsstörungen zu vermeiden, mit Opium zu verabreichen.
Nach Jordan macht es aber bei Leuten mit gutem Verdauungsapparat nur wenig
Nebenerscheinungen, ist jedoch, trotzdem es den Allgemeinzustand sehr rasch
bessert, nur für leichte Fälle von Syphilis geeignet. Neuere Autoren (L. Rohax.
P. J. Ermakow und J. Selenbw) heben die rasche Resorbirbarkeit des Mittels,
dessen langsame Ausscheidung und specifische antisyphilitische Wirkung hervor,
finden es aber nicht nöthig, die hohen Dosen zu geben, welche Rille empfohlen
hat, 4—6 Pillen zu 0,03—0,06 Haemol. hydrargyro-jodatum pro die. Ermakow
empfiehlt das Jodquecksilberhämol in Form intramusculärer Injectionen tief
in die Qlutäen einzuführen, nur selten erscheinen Infiltrate, die überdies bald
vollkommen resorbirt werden; zu Ende der Behandlung wurde eine Vermehrung
der Erytbrocyten, des Hämoglobingehaltes und des Körpergewichtes constatirt.
Dosirung. Innerlich: Haemoli hydrargyr. jodati 5,0—10,0. Pulv. et
Extr. liquir. q. s. ut f. pill. Nr. 150. Consp. S. 3mal tägl. 2 Pillen; zur intra-
musculären Injection: Haemoli hydrargyri jodati 0,6—1,0 mit 10,0 steri-
lisirtem Vaselinöl sehr sorgfältig verrührt; täglich 1 Ccm. der gut geschüttelten
Mischung zu injiciren. Für die subcntane Injection wird eine Suspension
von Jodquecksilberhämol in einer 1—2°/ 0 igen mit 0,6% Kochsalzlösung nach
folgender Verordnung empfohlen: Natrii chlorat. 0,06, Sol. Gelat. medicinalis
(1—2%) 10,0, Haemoli hydrargyri jodati 0,6—1,0 Miscetur. Vor dem Gebrauch
zu erwärmen und nach kräftigem Umschütteln 1 Ccm. zu injiciren.
Literatur: A. Jordan, St. Petersburger med. Wochenschr. 1898, Nr. 20, pag. 186. —
L. Kohan, Deutsche Praxis. 1899, Nr. 17 und 18. — Ermakow, Wratsch 1899, Nr. 33. —
Selenbw, Arch. ross, de Patholog. de Medecine cliniqne etc. 1899, III, pag. 623. — E. Mkhck's
Berichte. Sämmtliche Jahrgänge von 1894 — 1899 inclusive. Loebisch.
Isometropglas, s. Brillen, pag. 70.
Itroly s. Augenheilmittel, pag. 43.
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K.
Kalkausscheidung bei Diabetes, s. Harn, pag. 166, 167.
Kardioptose« Während das Herz normaler Weise schon imstande
ist, gewisse mässige Verschiebungen vorzunehmen durch Lage und Volums¬
veränderungen benachbarter Organe oder durch Veränderungen der Körper¬
lage, kann man mit dem Namen »Kardioptose« die höheren Grade der
Herzbeweglichkeit nach allen Seiten bezeichnen, welche eine abnorme Locker¬
heit der Herzbefestigungen (grosse Gefässe, besonders die Ansätze der Vena
cava sup. und inf. am Perikard) voraussetzen lassen. Die Kardioptose
zeigt in Bezug auf Entstehungsart und Symptome eine gewisse Analogie zur
Enteroptose, und deshalb scheint mir dieser Ausdruck besser den in Frage
stehenden Zustand des Herzens zu charakterisiren als die Bezeichnungen
»cor mobile« und »Wanderherz«, wenn auch die »Ptose« ursprünglich nur
das »Fallen« des Herzens bedeuten würde. Die Bezeichnung »Kardioptose«
darf allerdings nur gewählt werden, wenn das Herz bei Lageveränderungen
des Körpers so weit nach allen Seiten sinkt, dass sich der Spitzenstoss um
bedeutende Masse, um 5—6—7 Cm. und mehr aus seiner ursprünglichen Lage
entfernt. Dass diese Verschiebung des Herzens nach den Seiten eine wirk¬
liche und keine scheinbare ist (etwa durch Compression des Thorax in linker
Seitenlage vorgetäuscht), wird durch Röntgenphotographien in Seitenlage und
Thierversuche (Einstechen von Nadeln) erwiesen.
Das Bild der Kardioptose scheint zu entstehen einerseits durch ver¬
minderten Gegendruck benachbarter Organe (Zwerchfell, Lungen), wodurch
die grossen Gefässe gezerrt und schliesslich gedehnt, ausgeweitet werden,
andererseits durch eine angeborene oder erworbene Schwäche des Herzbe¬
festigungsapparates, welche ihrerseits auf einer mangelhaften Beschaffenheit
des elastischen und Bindegewebes, auf einer »Dystrophie« desselben be¬
ruhen mag. Man muss also die Ursachen der Kardioptose im Habitus und
Ernährungszustand des Individuums suchen. Bei schlaffen, schlecht genährten
Menschen, die wenig körperliche Bewegung haben, scheint dieselbe häufig
vorzukommen, besonders oft mit dem Bilde der Enteroptose vereinigt. Auch
zu schnelle Entfettung hat einen begünstigenden Einfluss für das Zustande¬
kommen derselben. Kinder und Greise haben im ganzen eine geringere Herz¬
beweglichkeit als Erwachsene; Frauen eine grössere wie Männer. Ganz be¬
sonders ausgeprägt ist häufig das Bild der Kardioptose gleich nach der
Geburt, wenn plötzlich fast jeder Gegendruck gegen das Herz von unten
fehlt.* Krankheiten scheinen besonders dann die Herzbeweglichkeit zu ver¬
mehren, wenn sie sowohl eine Abnahme der Gewebe, besonders des Fettes
bewirken, als auch qualitativ die Gewebe lange Zeit hindurch schädigen, so
Encyclop, Jahrbücher IX.
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210
Kardioptose.
besonders das Carcinom, die Tuberkulose etc. Die höchsten Grade von
Kardioptose sah ich bei der Chlorose, bei der wohl die ungenügende Stärke
und Elasticität der Wandungen der grossen Gefässe anzuschuldigen ist.
Ebenso wie die Enteroptose oft keine Beschwerden macht, braucht
auch die Kardioptose gar keine subjectiven Symptome zu verursachen. Viele
Leute mit ganz hochgradiger Herzbeweglichkeit klagen keineswegs über
Herzbeschwerden. In vielen Fällen jedoch ist die »Kardioptose« nicht gleichgiltig
für das Befinden. Es ist bekannt, dass viele Menschen nicht auf der linken,
seltener auf der rechten Seite schlafen können; sehr häufig findet man bei
ihnen ein abnorm bewegliches Herz. Oft spielt die auf das Herz gerichtete Auf¬
merksamkeit eine Rolle dabei, oft jedoch auch nicht. Es treten fernerhin zuweilen
in Seitenlage Angstzustände, Herzklopfen, Druck oder Stiche in der Herzgegend
auf, besonders beim Liegen auf der Seite. Auch ist hie und da objectiv eine
Steigerung der Pulsfrequenz, Unregelmässigkeiten der Herzaction, Athem-
noth etc. nachzuweisen. Diese letzteren Symptome kommen auch vor, wenn
das Herz im übrigen gänzlich gesund erscheint. In einem Falle von paroxys¬
maler Tachykardie sah ich zweimal in (zufällig eingenommener) linker Seiten¬
lage einen typischen Anfall auftreten, der wie sonst auch circa 20 Minuten
dauerte. Bei diesem Kranken war das Herz sehr beweglich.
Wenn somit in vielen Fällen die Kardioptose nicht gleichgiltig für Be¬
finden und objectiven Befund ist, so sind doch auch Fälle vorhanden, in
denen sie keine Erscheinungen macht, und es fragt sich, woher kommen
diese grossen Verschiedenheiten im Grade der Folgezustände ? Wahrschein¬
lich spielt die Hauptrolle dabei die bei den Menschen so ungemein ver¬
schieden ausgeprägte »Organempfindlichkeit« in der Art, dass Leute
mit wenig empfindlichem Nervensystem alle diese übertriebenen Bewegungen,
Zerrungen etc. an ihren Organen (Herz, Magen, Darm, Nieren, Uterus etc.)
nicht fühlen, während diese bei anderen Menschen, welche schon die nor¬
malen Functionen hie und da empfinden (Druck im Magen nach Tisch), den
Ausgangspunkt von allerhand lästigen Beschwerden und reflectorisch ent¬
standenen Functionsanomalien bilden. Auf diese Weise ist es zu verstehen,
dass bei Neurasthenikern eine erhebliche Kardioptose gelegentlich einmal
das Bild einer Herzneurose hervorrufen kann, besonders wenn andere be¬
günstigende Momente hinzukommen.
Ueber die Entstehung der Symptome lassen sich nur Hypothesen auf¬
stellen. Man könnte sie sich so erklären, dass durch die ausgiebigen Be¬
wegungen des Herzens gewisse Lichte Volumsveränderungen der grossen
Gefässe, besonders der grossen Venen eintreten, welche die Circulation in
irgend einer Weise ungünstig beeinflussen, ferner ist daran zu denken, dass
vielleicht durch die Zerrung an der Aorta eine Irritation der vor und hinter
dem Aortenbogen liegenden Nervenplexus verursacht wird, endlich daran,
dass am Ansätze der Vena cava sup. und inf. an den Vorhöfen, also da,
wo die Hauptzerrung bei Bewegung des Herzens (besonders nach links) statt¬
findet, diejenigen Muskelzellen des Herzens liegen, welche bei der automati¬
schen Herzcontraction zuerst in Thätigkeit treten.
Die Therapie muss eine causale sein und sie kann dann einen be¬
deutenden Erfolg erzielen. Hebung des Allgemeinzustandes, Besserung der
Ernährung, allgemeine Kräftigung durch klimatische Curen, Hydrotherapie,
Bäder, Arsen, Eisen etc. sind von grosser Wichtigkeit. Besonders segens¬
reich kann bei Neigung zu hypochondrischer Verwerthung der Symptome,
die psychische Beeinflussung sein. Ferner kommt Beruhigung der lästigen
Empfindungen durch Brom, Baldrian, Umschläge, Herzmassage, galvanischen
Strom etc. in Betracht.
Literatur: *) Cherchavsky, La mobilite du coeur et sa valear diagnostiqne. Wratsch.
1888, Nr. 37. — ') Kcmff, Ueber das Wanderherz. Congress für innere Medicin. 1888. —
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Kardioptose. — Kleinhirnerkrankungen. 211
*> Pick, Ueber das bewegliche Herz. Wiener klin. Wochenschr. 1889. — 4 ) A. Hoffmann,
Congress für innere Med. 1896. — 6 ) A. Hoffmann, Die paroxysmale Tachycardie. 1900. —
6 ) Frreanini, Anomalien des Körperbaues bei Kardioptose. Centralbl. !. innere Med. 1900. —
T ) Dktermann , Die Beweglichkeit des Herzens bei Lageveränderungen des Körpers (Kar¬
dioptose). Deutsche med. Wochenschr. 1900; Zeitschr. f. klin. Med. 1900; Congress f. innere
Medicin. 1899. Determann .
Kleinhirnerkratikmigen. Die Lehre von den Functionen des
Kleinhirns und ihren Störungen bei Erkrankungen dieses Organes ist bis
in die neueste Zeit eine der umstrittensten im ganzen Gebiete der Physio¬
logie und Pathologie gewesen, und noch heute können wir uns nicht rühmen,
dass das, was wir davon wissen, viel und absolut. Sicheres ist. Nicht zum
wenigsten hat zu dieser Verwirrung die Differenz in den Lehrmeinungen
der Vertreter der experimentellen Physiologie beigetragen, eine Differenz,
die w’ir auch unter den neuesten und erfahrensten Experimentatoren noch
bestehen sehen. So nimmt, um nur einige zu nennen, Luciani *) z. B. an, dass
jede Kleinhirnhemisphäre im wesentlichen auf die gleichseitige Körperhälfte
wirke, und dass bei ihrer Entfernung zunächst eine Parese und Atonie, dann
auch ein Zittern und eine Unruhe in den Muskeln dieser Körperhälfte auf¬
träte. Diejenigen Erscheinungen, die in der menschlichen Pathologie bei
den Erkrankungen des Kleinhirns die Hauptrolle spielen — die man unter
dem Namen der cerebellaren Ataxie zusammenfasst und die auch Luciani
bei seinen operirten Thieren beobachtete —, sind nach ihm nicht einfach
Folge der Kleinhirnläsion selbst, sondern zum grössten Theile ein Ausdruck
der dann manchmal über das ,Ziel hinausschiessenden Bemühungen des
Grosshirns, die Folgen des Kleinbirndefectes zu compensiren. Daneben kommen
noch Reizerscheinungen als Folgen des experimentellen Eingriffes in Betracht.
Ein Coordinationscentrum zur Aufrechterhaltung des Körper¬
gleichgewichtes ist nach Luciani das Kleinhirn nicht; im allge¬
meinen haben Wurm und Hemisphären dieselbe Bedeutung, nur wirken
Läsionen des Wurmes schwerer, weil in ihm sich der grösste Theil der ins
Kleinhirn eindringenden oder von ihm ausgehenden Bahnen kreuzt oder doch
nahe bei ihm entspringt, respective endigt. Ferrier 2 ), der in manchen
Dingen, z. B. in Bezug auf die Gleichwerthigkeit von Wurm und Hemi¬
sphären, ganz auf Lucianus Seite steht, bestreitet wieder ganz entschieden,
dass jede Kleinhirnhemisphäre einen stärkenden Einfluss auf Kraft und
Tonus der gleichseitigen Extremitäten habe; dass letzteres nicht der Fall sei,
könne man schon daraus sehen, dass nach Exstirpation einer Kleinhirnhemi¬
sphäre meist nach einiger Zeit eine Erhöhung der Sehnenreflexe auf dieser
Seite einträte. Nach seiner Ansicht wirkt das Kleiohirn auf die Erhaltung
des Gleichgewichtes im Raume und ruft zu diesem Zwecke im wesent¬
lichen continuirliche tonische Muskelcontractionen hervor; fällt der Einfluss
des Kleinhirns weg, so treten discontinuirliche Contractionen und infolge
dessen Schwanken, Zittern, Unsicherheit der Bewegungen ein. Am nächsten
der Anschauung der meisten Kliniker steht schliesslich nach seinen Experi¬
menten Bechterew. 3 ) Er hält das Kleinhirn für ein reflectorisch wirken¬
des Coordinationscentrum, dem centripetal sensible Reize Zuströmen
und das diesen entsprechend in centrifugaler Richtung auf die Coordination
der Muskeln einwirkt; treten Störungen im Reflexcentrum oder in einem
Theil des Reflexbogens ein, so kommt es zu Incoordination der Bewegungen,
zur Ataxie. Man sieht, die Differenz der Meinungen zwischen den drei ge¬
nannten Physiologen ist eine recht grosse; freilich muss zugegeben
werden, dass die Differenzen in den von ihnen beigebrachten
Thatsachen nicht so grosse sind; geben sie doch alle zu, dass
bei Kleinhirnläsionen Störungen des Gleichgewichtes beim Stehen
und Gehen beobachtet werden. Erschwerend für die Zurückführung
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212
Kleinhirnerkrankungen*
aller dieser von den Autoren bei Verletzungen des Kleinhirns beobachteten
Störungen auf diese Kleinhirnläsion selbst, wirkt aber noch, dass nach
den genauen Experimenten von Ewald 4 ), Bogumil Lange ß ) und Loeb ( ) nach
Zerstörung der Bogengänge der Kleinhirnataxie sehr ähnliche Symptome auf-
treten; da der Nervus vestibularis in sehr nahen Beziehungen zum Kleinhirn
eteht, kann man es verstehen, wenn Loeb 6 ) sogar annimmt, dass alle soge¬
nannten specifischen Kleinhirnsymptome eigentlich Bogengangssymptome seien.
Schliesslich muss noch mit Nachdruck hervorgehoben werden,
dass die Physiologen, die meist an Hunden und Katzen, nur selten
an Affen operirt haben, in ihren Schlüssen viel zu wenig Gewicht
auf die doch jetzt gesicherte Thatsache legen, dass in Bezug auf
die Function der einzelnen Hirntheile und ihre gegenseitige Be¬
einflussung zwischen dem Menschen und den höchsten Thieren
noch die allergrössten Differenzen bestehen, selbst in scheinbar
elementaren Dingen; ein Umstand, auf den ich hier aber nicht
weiter eingehen kann.
Unter diesen Umständen lag es gewiss nahe, sieh einmal auf den rein
klinischen Standpunkt zu stellen, nachzusehen, welche Symptome bei Er¬
krankungen des menschlichen Kleinhirns und ihrer verschiedenen Localisation
constante waren, und zu versuchen, aus ihnen wieder auf die Function dieser
Hirntheile Schlüsse zu machen. Diesen Versuch habe ich 7 ) vor einigen Jahren
gemacht. Aber ich muss, wie damals, auch noch heute bekennen, dass auch
dieser Weg die mannigfachsten Schwierigkeiten bietet und weit entfernt ist,
uns nach jeder Richtung gesicherte Resultate zu liefern. Wir sind in der
Hirnpathologie mit Recht gewöhnt, sichere Schlüsse für die Function eines
Hirntheiles — sogenannte Localisationslehren — vor allem nur aus solchen
Ausfallsherden zu ziehen, die erstens so alt sind, dass sie nicht mehr all¬
gemeine Herdsymptome machen, und deren Wirkungen zweitens nur wenig
weit über den von ihnen direct zerstörten Bezirk hinausreichen. Diesen
Forderungen entsprechen eigentlich nur alte Blutungs- und vasculäre Er¬
weichungsherde. Nur sind Blutungen, wie auch ganz neuerdings v. Monakow
noch angiebt, im Kleinhirn an sich schon sehr selten (Durand Fardel fand
unter 153 Apoplexien nur 13 im Kleinhirn) und sie führen, wenn sie einiger-
massen gross sind, durch Druck auf die Medulla oder durch Durchbruch in
den 4. Ventrikel meist rasch zum Tode. Selbst bei längerem Bestehen ist
die Localdiagnose kaum jemals mit Sicherheit zu machen. Erweichungen
wieder, namentlich die häufigeren arteriothrombotischen, treffen selten das
Kleinhirn allein, meist zugleich auch Theile des Hirnstammes, die von den¬
selben Arterien wie das Kleinhirn versorgt werden; dadurch ist ihre Ver-
werthung für die Localdiagnose sehr beeinträchtigt. Angeborene oder früh¬
erworbene, ein- und doppelseitige Kleinhirndefecte müssten, so sollte man
a priori glauben, einen besonderen Werth für die Feststellung der Klein¬
hirnfunctionen haben. Das ist aber keineswegs der Fall. Erstens sind diese
Fälle fast niemals uncomplicirt, sondern es bestehen gleichzeitig Entwick¬
lungsstörungen in anderen Theilen des Gehirns, wie der häufige Idiotismus
in diesen Fällen erkennen lässt, besonders oft des Grosshirns. Dann haben
sie nicht selten im Leben keine besonderen, namentlich auf das Kleinhirn
hindeutenden Symptome geboten, und deshalb ist ihre klinische Beobachtung
manchmal eine recht unvollkommene gewesen (doch 8. u.). Das alles hat
dazu geführt, dass es sich bei diesen Kleinhirndefecten oft um einen ganz
unerwarteten Sectionsbefund gehandelt hat. Bei den seltenen, auf Athero-
matose der Gefässe beruhenden Schrumpfungen des Kleinhirns ist,
wie Arndt 8 ) nachgewiesen hat, meist auch der Hirnstamm betheiligt, und
ebenso beruht die Heredrotaxie cerebellaire Maries, bei der Nonne 9 ) und
Menzel 10 ) Kleinheit des Kleinhirns nachgewiesen haben, nicht auf einer in-
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Kleinhirnerkrankungen.
213
complicirten Erkrankung dieses Organes. Bleiben die Abscesse und die
Tumoren? Die Kleinhirnabscesse sind selten, sie sind so gut wie
immer abhängig von Ohreiterungen und neben ihnen bestehen Rnochener-
krankungen, subdurale Abscesse, Sinusthrombosen, also eine grosse Anzahl
von mit fieberhaften Allgemeinerscheinungen einhergehenden Krankheiten,
die sehr geeignet sind, die Kleinhirnsymptome zu verdecken. Ausserdem
sind sie klein und sitzen fast immer in den äusseren Theilen der Kleinhirn¬
hemisphäre und wir werden sehen, dass gerade Läsionen dieses Ortes sym-
ptomenlos verlaufen können. Die Tumoren des Kleinhirns dagegen sind
nicht nur die bei weitem häufigste Erkrankung dieses Organes, sondern über¬
haupt eine nicht so sehr seltene Erkrankung. Sie können ferner jeden Sitz
im Kleinhirn einnehmen. Nur müssen wir uns ja allerdings, wenn wir die
durch Geschwülste bedingten Störungen für die Erkenntniss der Function
eines Hirntheiles benutzen wollen, stets bewusst sein, dass der Tumor nicht
einfache Ausfallserscheinungen von Seiten der von ihm direct occupirten
Hirntheile macht; wir haben stets bei ihm — und ganz besonders gerade
beim Kleinhirntumor — auch die Allgemein- und Nachbarschaftssymptome zu
berücksichtigen und müssen uns hüten, diese auf die Kleinhirnerkrankung
an sich zu beziehen. Doch ist diese Schwierigkeit, zunächst für die Allge¬
meinsymptome, heute nicht mehr gross, weil wir diese jetzt recht genau
kennen und wissen, dass sie bei jedem Sitze des Tumors in mehr weniger
grosser Intensität Vorkommen können. Die Nachbarschaftssymptome eines
Kleinhirntumors werden ausgelöst durch eine Betheiligung des Hirnstammes;
da wir nun gerade die Functionen dieses Hirntheiles ganz besonders gut
kennen, kommen wir auch hier selten in die Lage, diese Erscheinungen für
directe Kleinhirnsymptome zu halten ; immerhin giebt es einige Erscheinungen,
bei denen vrir, wie wir sehen werden und wie ich es auch schon früher
ausgeführt habe, eine sichere Entscheidung, ob Herd- oder Nachbarschafts¬
symptome, nicht treffen können. Jedenfalls lehrt aber die klinische
Erfahrung die Thatsache, dass wir häufig in der Lage sind, die
Diagnose eines Kleinhirntumors und manchmal sogar die Seite
seines Sitzen mit Sicherheit zu machen, dass es also vollkommen
berechtigt ist, auch die Geschwülste dieses Organes — allerdings mit Vor¬
sicht — für die Erforschung seiner Function zu benützen. Aber auch bei
dieser vorsichtigen Benutzung stossen wir gerade bei den Kleinhirntumoren
noch auf einige Schwierigkeiten, die von manchen Seiten für genügend er¬
achtet wurden, auch unsere bestimmtesten und begründetsten Anschauungen
über die Kleinhirnfunction in Zweifel zu ziehen. Unter Umständen näm¬
lich kommt es vor, dass auch grosse Tumoren des Kleinhirns
ohne Symptome, die auf den Sitz der Geschwulst hinweisen, ver¬
laufen. Wir wissen seit langem, um das hier vorweg zu nehmen, dass sich
das besonders bei Geschwülsten der Hemisphären ereignet, und dass im all¬
gemeinen Tumoren des Wurmes nicht ohne charakteristische Symptome
bleiben. Aber auch hier giebt es Ausnahmen. Gewisse Gliomformen können
die Gehirnsubstanz durchsetzen, ohne ihre Fasern und Zellen zu zerstören,
so dass die Function der Theile auch im Tumorgebiete selbst lange erhalten
bleiben kann; auch nicht infiltrirende, aber sehr langsam wachsende Ge¬
schwülste können unter Umständen die Hirnsubstanz nur verdrängen, eben¬
falls unter Erhaltung ihrer Function. Auch ist es möglich, dass nicht alle
Theile des Wurmes für seine Function von gleicher Bedeutung sind. Klinische
und pathologisch-anatomische Erfahrungen weisen darauf hin, dass möglicher¬
weise bei Geschwülsten der vorderen Theile des Wurmes, auch wenn sie zerstö¬
rend wirken, die Kleinhirnfunction erhalten bleiben kann; während allerdings
bisher keine Fälle publicirt sind, wo sie auch gefehlt haben bei zerstörenden
Tumoren in den hinteren und unteren Theilen dieses Kleinhirngebietes. Doch
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214
Kleinhirnerkrankungen.
will ich diese letzteren Angaben nur mit aller Vorsicht machen.
Füge ich noch hinzu, dass gerade das am meisten specifische Symptom der
Kleinhirnerkrankungen, die Ataxie, aus, wie wir sehen werden, selbstver¬
ständlichen Gründen in gleicher oder ganz ähnlicher Form auch bei Affec-
tionen einer ganzen Anzahl anderer Theile des Hirns und Rückenmarks
vorkommt, so ergiebt sich aus allen diesen Umständen, dass auch die kri¬
tische und unvoreingenommene Benutzung des zu Gebote stehenden klini¬
schen Materials uns noch manches Räthsel in der Symptomatologie der
Kleinhirnerkrankungen ungelöst lässt.
Bleibt uns nun nicht noch ein anderer Weg offen? Thomas 9 )
macht in seiner ganz ausgezeichneten anatomisch-physiologischen Monographie
über das Kleinhirn auch den neuesten Physiologen noch den Vorwurf, dass
sie ihre Experimente ganz ohne Rücksicht auf den anatomischen Bäu dieses
Organes angestellt und aus ihren Folgen auch ihre Schlüsse auf die
Function dieses Organes ohne diese Rücksicht gezogen hätten; gerade
aber eine vergleichende Betrachtung des vorliegenden anatomi¬
schen und physiologischen, respective klinischen Materiales
würde nach seiner Ansicht hier die werthvollsten Aufschlüsse
liefern. Man kann ihm in dieser Beziehung nur Recht geben; von den
oben citirten Physiologen macht in dieser Hinsicht eine glänzende Ausnahme
nur Bechterew 8 ), den wir ja, was bedeutungsvoll ist, auch als hervor¬
ragenden Hirnanatomen und erfahrenen Neurologen kennen. Frühere Physio¬
logen trifft natürlich dieser Vorwurf kaum, da eine einigermassen sichere
Kenntniss von der feineren Anatomie des Kleinhirns und seiner Verbindungen
mit anderen Hirn- und Rückenmarkstheilen uns erst die neueste Zeit ge¬
bracht hat. Auch ich 7 ) habe in meinem oben citirten Vortrage mir Mühe
gegeben, auf Grundlage unserer Kenntnisse von den anatomischen Verbin¬
dungen des Kleinhirns zu einer klaren Erkenntniss der Symptomatologie
seiner Erkrankungen zu kommen, damals mich wesentlich auf Bechterew s
Angaben stützend; heute haben sich unsere Anschauungen über diese Ver¬
hältnisse vielfach geändert und unsere Kenntnisse sind gesicherter geworden,
so dass es sich, wie ich Vorhersagen kann, lohnt, das hier Gesicherte noch
einmal zusammenzufassen. Ich werde mich dabei, namentlich was die Ver¬
bindungen des Kleinhirns mit Rückenmark und Hirnstamm anbetrifft, vor
allem an Thomas 9 ) und an eine vor kurzem erschienene kleine Arbeit von
Bruce 10 ) halten und auch die Schemata des letzteren zur Erklärung ver¬
wenden.
Mit dem Rückenmarke und zum Theile auch mit dem Hirnstamme
steht das Kleinhirn in der Weise in Verbindung, dass es den Gipfel eines
Reflexbogens bildet, zu dem centripetale Bahnen von diesen Hirntheilen auf¬
steigen und von dem centrifugale auch dorthin ausgehen. Ich führe zunächst
die centripetalen Bahnen an, die länger und genauer bekannt sind als die
centrifugalen (s. Schema 31). Es sind 1. die Kleinhirnseitenstrangsbahn,
2. die GowERSsche Bahn. Im Schema 1 ist von diesen Bahnen nur die
Kleinhirnseitenstrangsbabn gezeichnet, die das Kleinhirn durch das Corpus
restiforme erreicht, während die GowERS sche Bahn dahin auf einem weiten
Umwege durch den vorderen Kleinhirnschenkel gelangt. 3. Theile der
Hinterstränge durch Vermittlung der Hinterstrangskerne, die eben¬
falls im Schema 1 beiderseits nur als einfache Kerne gezeichnet sind; die
betreffenden Fasern erreichen das Kleinhirn durch Vermittlung der Fibrae
arciformes und der Strickkörper, und zwar wie das Schema 31 zeigt, theil-
weise des gleichseitigen, theilweise des gekreuzten Strickkörpers. Alle die
bisher erwähnten Bahnen endigen in der Rinde des Wurmes, meist auf
derselben Seite, theilweise aber nach Kreuzung auch auf der anderen; keine
gelangt in die Hemisphären, wie überhaupt nach Bruce keine Bahn im
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Kleinhirnerkrankungen. 2l&
Rückenmarke in directer Verbindung mit den Kleinhirnhemisphären steht
Die angeführten Rahnen leiten, wie gesagt, vom Rückenmark, respective
vom Hirnstamme zur Kleinhirnrinde und degeneriren bei Läsionen in aufsteigen¬
der Richtung. Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach zur Leitung von
Muskel-, Gelenk- etc. Gefühlen dienen, Dinge, die man auch als Lagegeföhl
zusammenfasst: es scheint mir aber im Gegensätze zu Bruce nicht unmög¬
lich, dass wenigstens die aus den Hintersträngen stammenden Fasern auch
Tast- und Druckgefühle, wenn nicht aus der Haut, so doch von subcutanen
Geweben vermitteln. Wichtig ist noch, dass die Fasern der GowEKs'schen
IV VENTR
Die tum Kleinhirn nufateigenrfen Mahnen, apectell dfie vom Ruckenmn rke. (Nach Bitte*;.)
KS.B Klei'nhirtt*«it€vnf<ti-ang1»:jbn ; // ly trtmgsi. '>»♦ ; PK Pv*vh*r K-rii : .V T Nt>cletia
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Bahn hauptsächlich aus Zellen im Sacral- und Lendenmarke stammen, also
zu den unteren Extremitäten in Beziehung stehen, die der Kleinhirnseiten
strangsbahn aus den Zellen der Clarke sehen Säulen, die vor allem mx
Rumpfe-, respective Dorsaltheile des Rückenmarks sich finden, während für
die von den oberen Extremitäten stammenden centripetalen Fasern Vertun*
düngen mit dem Kleinhirn im wesentlichen nur durch die Hirnstränge möglich
sind. Bahnen, in die sie sich mit gleichen Fasern aus dem Rumpfe und den
unteren Extremitäten theilen müssen. Auch hebe ich hier schon hervor,
dass alle die angeführten Bahnen einen Theil ihres Verlaufes zum Kleinhirn
216
Kleinhirnerkrankungen,
Im Hirnstamme haben, zum Theil, wie die GowERSsche Bahn, einen recht
erheblichen. In Schema 1 findet sich dann 4. noch eine Verbindung des Klein¬
hirns mit dem Hirnstamme, die von den unteren Oliven ausgeht, das ge¬
kreuzte Corpus restiforme erreicht und nach Bechterew im Corpus dentatum
der gekreuzten Kleinhirnhälfte endigt (diese letzte Verbindung ist nicht sicher).
Centralwärts stehen die Oliven nach Bechterew durch Vermittlung der
centralen Haubenbahn mit dem Boden des 3. Ventrikels in Verbindung, in dem
sich nach diesem Autor ein Centrum für Erhaltung des Körpergleichgewichtes
befindet Uebrigens hält Bechterew neuerdings wie Kölliker die Klein¬
hirnolivenbahn für eine motorische, vom Kleinhirn absteigende Bahn; durch
Vermittlung der Oliven soll diese Bahn wieder mit centrifugalen Bahnen im
Rückenmarke in Verbindung stehen. Wir können diese in Verlaufsrichtung,
Endigung und Verbindungen noch recht unsichere Bahn für unsere Zwecke
ausseracht lassen. Dagegen sehen wir im Schema 2 schliesslich 5. noch
eine sehr wichtige centripetale Bahn, durch die das Kleinhirn mit den Bogen¬
gängen, einem sicheren peripheren Gleichgewichtsorgane, in Verbindung steht;
die Bahn wird durch den Nervus vestibularis gebildet und erreicht zunächst
den DEiTERs'schen Kern.
Erst in allerneuester Zeit haben wir sichere Anhaltspunkte für eine
centrifugale Verbindung des Kleinhirns mit dem Rückenmarke und dem Hirn¬
stamme gefunden; lange Zeit sind diese von Marchi z. B. theilweise schon
vor Jahren behaupteten Bahnen immer wieder bestritten worden. Wie
Bruce 10 ) des genaueren ausführt, steht es jetzt aber sicher fest, dass solche
motorische Fasern von den beiden Dachkernen ausgehen und von da zu¬
nächst zu den DEiTERs'schen Kernen gelangen. (In Schema 31, 32 und 33 sind
nur gekreuzte derartige Verbindungen gezeichnet, es bestehen aber auch
ungekreuzte.) Diese Bahn wurde früher von Edinger als sensorische auf¬
gefasst und als directe sensorische Kleinhirnbahn bezeichnet. Vom
DEiTERs'schen Kerne gehen dann wieder zwei motorische Bahnen aus (Fig. 32),
die eine (Tractus cerebellospinalis) gelangt durch das Corpus restiforme in
den Hirnstamm und das Rückenmark; hier theilt sie sich in zwei, je im
Vorder- und Vorderseitenstrange verlaufende Züge, die schliesslich beide
Verbindungen mit den Vorderhornganglien eingehen. Risien Rüssel hat diese
Bahn bis in den unteren Theil des Dorsalmarkes verfolgt. Die zweite Bahn
(Fig. 32) gelangt unter den Boden des 4. Ventrikels und endigt theilweise im
gleichseitigen Abducenskerne, dann erreicht sie die beiderseitigen hinteren
Längsbündel, in denen sie hirn- und rückenmarkswärts verläuft; die
aufsteigenden Fasern endigen in den beiderseitigen Oculomotoriuskernen,
die absteigenden liegen im Rückenmarke im Randgebiete beider Vorder¬
stränge und endigen um die Vorderhornganglien., Auf diese Weise kann also
jede Kleinhirnhälfte, wie Schema 32 klar zeigt, motorisch auf die Augen¬
muskelkerne, und zwar den gleichseitigen Abducens- und beide Oculomo-
toriuskerne wirken, und ebenso auf die Vorderhornzellen des Rücken¬
marks, hier vor allem auf die gleiche, aber erheblich auch auf die ge¬
kreuzte Seite.
Haben wir damit die vom Kleinhirn ausgehenden und zum Hirnstamm
und Rückenmark gelangenden und die umgekehrt von dort zum Kleinhirn
aufsteigenden Bahnen kennen gelernt, — alle diese Bahnen endigen oder
beginnen im mittleren Theile des Kleinhirns — im Wurme —, so fehlt nur
noch die Verbindung zwischen beiden, um einen spinobulbärcerebellaren
Reflexbogen vollständig zu machen. Diese Verbindung wird durch sagit-
tale Fasern gebildet, die von der Rinde des Wurmes zu beiden Dach¬
kernen gelangen. Damit haben wir dann also einen Reflexbogen vollständig,
auf dessen einem Schenkel centripetale Impulse zur Rinde des Kleinhirn
gelangen, auf dessen anderen von dort ausgehende motorische Einflüsse
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Kleinhirnerkrankungen.
217
centrifugal speciell za den Augenmuskelkernen und den motorischen Gan-
glien für die Musculatur von Rumpf und Extremitäten übergehen.
::Viel weniger genau bekannt als die bisher beschriebenen Bahnen, die,
.<?. wie man sieht, einen spinobulbärcerebellaren Reflexbogen bilden,
iti sind nun die Verbindungen des Kleinhirns mit dem Grosshirn. Sicherge-
:;j :; stellt ist zunächst eine cerebralwärts leitende Bahn, die vom Corpus den-
i[«: tatum, einem sicheren Gleichgewichtsorgane (Bruce 10 ), das nach Edinger 11 )
-_,r noch zum Wurme gehört, nach fast totaler Kreuzung im Bindearme zum
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Fig. 32.
Die absteigenden — motorischen — Bahnen des Kleinhirns. (Nach Bruce.)
FS Fibrao sagittales; NT Nucleus tegmenti; CR Corpus restiforme; TCV Tractus cerebello-
vestibularis; III Oculomotoriuskern; VI Abducenskern; VIII N. acusticus ; HL Hinteres Litngs-
bilndel: DK DKlTERS’scher Kern; TVS Tractus vestibulo-spinalis ; B G Bogengänge. Der Tractus
cerebello-vestibularis ist als doppelsinnig leitend angesehen; vom DElTERS’schen Kern zum Klein¬
hirn (Nervus vestibularis) und umgekehrt.
u Hi f '‘ gekreuzten rothen Kerne gelangt; ziemlich sicher sind von da auch Bahnen
jin zu gewissen Antheilen des Thalamus opticus. Ob von da noch Neurone
dritter Ordnung in die Rinde der sogenannten motorischen Region gelangen,
ist zwar nicht sicher, aber sehr wohl möglich. Sichergestellt sind ferner
, r eb«‘ ! cerebrofugal leitende Bahnen, die von der temporooccipitalen und der fron-
durch taten Rinde stammen und durch den äusseren und inneren Antheil des
Hirnschenkelfusses hauptsächlich die gleichseitigen Brückenganglien erreichen;
i vom* von hier aus gelangen dann wieder namentlich aus den oberen Theilen der
leg Brücke Querfasern (die sogenannte cerebrale Kleinhirnbrückenbahn Bechte-
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218
Kleinhirnerkrankungen.
rew’s) nach Ueberschreitung der Mittellinie in den gekreuzten mittleren Klein¬
hirnschenkel und von da zur Rinde der gekreuzten Kleinhirnhemisphäre.
Von diesen letzteren Bahnen interessirt uns hier besonders die vom Stirn¬
hirn kommende Bahn, die die Brücke durch die innere Abtheilung des Hirn-
schenkelfusses erreicht. Nehmen wir, was jedenfalls nicht unmöglich ist. eine
corticale Verbindung zwischen den aus dem Corpus dentatum stammenden
cerebropetalen und der frontalen Grosshirnrindenbrückenbahn an, die ja
theilweise aus »motorischen« Theilen der Hirnrinde stammt, so haben wir
damit wieder einen cerebellocerebralen Reflexbogen, der vom Kleinhirn zur
anderseitigen Grosshirnrinde aufsteigt und von da wieder zur gekreuzten Klein¬
hirnhälfte zurückkehrt. Um eine für das physiologische Verständniss noth-
wendige Verbindung zwischen dem cerebellocerebralen und dem spinobul-
bärcerebellaren Reflexbogen brauchen wir bei der grossen Anzahl von Ver¬
bindungen zwischen den Zellen der Rinde des Wurms und der Hemisphären
und zwischen den grauen Kernen des Kleinhirns und der Rinde nicht ver¬
legen zu sein; ich will hier nur erwähnen, dass Bechterew s ) Verbindungen
zwischen dem Corpus dentatum und der Kleinhirnhemisphärenrinde und
zwischen dem centripetalen zum Wurm aufsteigenden Fasern des Strick¬
körpers und dem Corpus dentatum anführt.
Ich habe oben gesagt, dass uns die centrifugale Verbindung des Stirn¬
hirns mit der gekreuzten Kleinhirnhemisphäre besonders interessirt. Dieses
Interesse liegt darin begründet, dass, wie neuere Erfahrungen,
speciell meine eigenen 12 ) gelehrt haben, auch das Stirnhirn bei
der Erhaltung des Körpergleichgewichts eine erhebliche Rolle
spielt; dass also durch diese Bahn zwei Hirntheile von functioneli
sehr ähnlicher Bedeutung eng mit einander verknüpft werden.
Ich will dabei hier dahingestellt sein lassen, ob die Gleichgewichtsstörungen
bei Stirnhirnaffectionen auf einer Schwächung beruhen, speciell der Rumpf¬
muskeln, deren corticale Centren im Stirnhirn liegen und die ja jedenfalls
eine grosse Bedeutung für die Erhaltung des Körpergleichgewichts haben
oder auf der Störung der Verbindung zwischen Stirnhirn und Kleinhirn;
oder ob, was mir das wahrscheinlichste ist, beide Momente hier eine Rolle
spielen.
Damit haben wir die anatomischen Beziehungen des Kleinhirns zu
anderen Hirntheilen und das Nothwendigste von der Faserung und den Kernen
des Kleinhirns selber für unser Vorhaben genügend erörtert. Fassen wir
das Gesagte noch einmal kurz zusammen. Die Rinde speciell des Klein¬
hirn wurms bildet den Scheitelpunkt eines Reflexbogens, dem
vom Rückenmarke und Hirnstamme durch die Hinterstränge.
GowERs'sche und Kleinhirnseitenstränge und schliesslich be¬
sonders auch durch den Vestibularnerven sensible Erregungen
zugehen, die ihn über die augenblickliche Stellung der Glied¬
massen, des Rumpfes und Kopfes, über die Spannung der Muskeln
und Gelenke und überhaupt über die Lage des gesammten Kör¬
pers im Raume unterrichten. Auf Grund dieser Nachrichten re-
gulirt dann, wenn nöthig, das Kleinhirn Stellung und Bewegung
der Glieder, des Rumpfes, des Kopfes, der Augen etc. auf dem
Wege centrifugaler Leitungsbahnen, die die motorischen Vorder¬
hornganglien und vor allem auch die Augenmuskelkerne auf dem
Wege — Fibrae sagittales zum Dachkern; Fasern vom Dachkern
zum DKiTERsschen Kern, Fasern von dort durch das Corpus resti-
forme und zum Vorder- und Vorderseitenstrange des Rücken¬
marks; ferner zum gleichseitigen Abducens- und via hinteres
Längsbündel zu beiden Oculomotoriuskernen und zu den Rücken¬
marksvordersträngen erreichen, wie das oben genau ausgeführt
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Kleinhirnerkrankungen.
219
und durch die BRUCEschen Schemata 1 und 2 erläutert ist. Dieser
spinobulbärcerebellare Reflexbogen, von dem ich hier nochmals
hervorheben will, dass er jedenfalls den Rumpf und die unteren
Extremitäten inniger mit dem Kleinhirn verbindet als die Arme,
ist ein mehr automatisch, unter der Schwelle des Bewusstseins
für die Erhaltung des Körpergleichgewichts wirkender Mecha¬
nismus. Nun steht aber dieser spinobulbärcerebellare Reflex¬
bogen in Verbindung mit einem ihm übergeordneten cerebello-
cerebralen; vom Kleinhirn werden speciell durch die vorderen
Kleinhirnschenkel die dort gesammelten Eindrücke über die
Lage des Körpers im Raume dem Grosshirn übermittelt und
dort wohl zu bewussten Vorstellungen umgearbeitet und das
Grosshirn, speciell das Stirnhirn kann diesen Vorstellungen
entsprechend wieder auf das anatomische Gleichgewichtscen¬
trum im Kleinhirn auf dem Wege der Grossbirnrindenbrücken-
bahn einwirken, es, wenn nöthig, controlirend und regulirend
beeinflussen. Da nun aber die zur Erhaltung des Körpergleich¬
gewichts nöthigen Muskeln, wie man sich ausdrückt, auch direct
vom Willen aus in Thätigkeit gesetzt werden können und Gross¬
und Kleinhirn sich jedenfalls bei dieser Function gegenseitig
bis zu einem gewissen Grade vertreten und aushelfen können,
so müssen natürlich auch directe Bahnen von der sogenannten
motorischen Zone der Hirnrinde zu den entsprechenden Muskeln
gehen; für die Rumpfmuskeln verlaufen diese vom Gyrus mar-
ginalis durch innere Kapsel und Pyramidenbahnen.
Wenn wir uns nach diesen anatomischen Auseinandersetzungen wieder
der Klinik zuwenden, so werden wir sofort sehen, dass uns die klinischen
Erscheinungen bei Erkrankungen des Kleinhirns auch in allen Varietäten
und scheinbaren Widersprüchen bei Rücksicht auf die anatomischen Ver¬
hältnisse sofort klarer und verständlicher werden. Ich habe in meinem schon
oben erwähnten Vortrage 7 ) im Jahre 1896 als sichere sogenannte Herd¬
erscheinungen der Kleinhirnerkrankungen — speciell der Tumoren, auf die
vor allem sich auch die nachfolgenden Ausführungen beziehen, die Ataxie
und den Schwindel bezeichnet; als möglicher Weise noch direct von der
Kleinhirnläsion abhängig: Nystagmus, Intentionstremor und scan-
dirende Sprache, und eine mit dem Krankheitsherde gleichseitige
Parese einer Körperhälfte. Wenden wir uns nun der Analyse dieser
einzelnen Krankheitserscheinungen zu.
Die sogenannte cerebellare Ataxie, nach Duchennes Bezeichnung
der dömarche de llvresse, ist in ihrer ausgesprochenen Form ein so eigen¬
artiges und dabei so oft beschriebenes Symptom, dass ich mich mit der
Darstellung seiner Charakteristica hier kurz fassen kann. Nur halte ich es
für nothwendig hervorzuheben, was auch Nothnagel 13 ) schon gethan hat,
was aber später nicht immer scharf genug betont ist, dass es bei der cere-
bellaren Ataxie zwei verschiedene Formen giebt, die insbesondere in schweren
Fällen sich übrigens mit einander mischen. Die erste ist die häufigste Form,
auf sie passt vor allem der Vergleich mit der Trunkenheit. Hier geräth der
Kranke, wenn er überhaupt noch imstande ist zu stehen, dabei in starkes
Schwanken und Taumeln, und zwar nehmen an diesem Schwanken Rumpf,
Kopf und Beine theil. Nicht selten besteht die Gefahr, nach einer Seite,
nach hinten oder nach vorn zu fallen; doch ist es selten, dass das immer
in derselben Richtung geschieht. Versucht der Kranke zu gehen, so nimmt
das Schwanken zu und der Gang gleicht ganz dem der Betrunkenen; der
Kranke macht Bogen- und Zickzackwege. Der Rumpf ist in solchen Fällen
besonders stark am Schwanken betheiligt, meist besteht auch Lordose. In
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UNIVEftSITY ÖF MICHIGAN
220
Kleinhirnerkrankungen.
reinen Fällen dieser Art sieht inan, dass die Incoordination in den Beinen
überhaupt nur beim Stehen und Gehen — also soweit Bewegungen zur
Erhaltung des Körpergleichgewichts in Betracht kommen — auftritt; im
Liegen und auch mit geschlossenen Augen, z. B. beim Kniehackenversuch
geschehen dann alle Bewegungen, abgesehen von etwaigen Paresen, ganz
sicher. Die Arme sind in diesen Fällen überhaupt nicht betheiligt. In der
zweiten, viel selteneren Form ähneln dagegen die Bewegungsstörungen der
Kleinhirnkranken viel mehr denen der Tabiker. Es kann dann deutliches
RoMBERG'sches Symptom vorhanden sein; der Gang geschieht mit ausge¬
sprochenem Hahnentritte; auch im Liegen, besonders mit geschlossenen
Augen, sind die Bewegungen der Beine ataktisch, schiessen über das Ziel
hinaus und an demselben vorbei. Eine deutliche Störung des Muskel- und
Bewegungsgefühls ist auch in diesen Fällen noch nicht beobachtet; auch
muss man sich hüten, eine durch Parese bedingte Unsicherheit für Ataxie
zu halten. Manchmal ergreift in diesen Fällen die Ataxie auch die Arme,
doch ist das jedenfalls sehr selten, meistens zeigt sich eine etwa vorhandene
Bewegungsstörung der Arme in der Form des Intentionstremors. In einer
dritten Reihe von Fällen ist, wie gesagt, die Kleinhirnataxie aus den beiden
Formen gemischt.
Unsere anatomischen Auseinandersetzungen erklären uns nun leicht
die cerebellare Ataxie an sich und alle ihre Besonderheiten. Wir haben, um
hier zunächst einmal nur den spinobulbärcerebellaren Reflexbogen in Betracht
zu ziehen, gesehen, dass das Kleinhirn und speciell der Kleinhirnwurm den
Scheitelpunkt eines Reflexbogens bildet, dem von der Peripherie sensible
Reize Zuströmen, die es veranlassen, auf centrifugalem Wege auf die zur
Erhaltung des Körpergleichgewichtes dienenden Muskeln controlirend und
regulirend einzuwirken. Damit ist ohneweiters klar, dass eine Läsion der
betreffenden Kleinhirngebiete zu Störungen des Körpergleichgewichtes führen
muss. Es ist aber ebenfalls durchaus klar, dass, wenn der Krankheitsherd
im Kleinhirn mehr die Fortsetzungen der hinteren Wurzeln, die in den
Hintersträngen und in der Kleinhirnseitenstrangbahn zu ihm aufsteigen,
trifft, die cerebellare Ataxie eine der tabischen sehr ähnliche sein kann;
während, wenn er mehr die vom Kleinhirn absteigenden Bahnen zu den zur
Erhaltung des Körpergleichgewichts besonders wichtigen Muskeln am Rumpf
und Extremitäten ergreift, das Schwanken, Taumeln, der Zickzackgang, kurz
der demarche de 1‘ivresse ohne Romberg und ohne Ataxie beim Kniehacken-
versuch eintritt. Da aber im Kleinhirn und besonders im und in der Nähe
des Wurmes beide Bahnen — die auf und absteigende — sich nahe be¬
rühren (s. Schema 3), so wird es sich in vielen Fällen wohl nicht um scharf
abgegrenzte Krankheitsbilder der einen oder der anderen erwähnten Art
handeln, sondern um Mischformen, die Züge der tabischen und der specifi-
schen cerebellaren Ataxie gemeinsam an sich tragen.
Nicht unverständlich erscheint es auch, dass an der Ataxie der Klein¬
hirnkranken, dem Schwanken und Taumeln vor allen Dingen der Rumpf und
dann die Beine, die letzteren vor allem wieder beim Stehen und Gehen,
soweit sie also zur Erhaltung des Körpergleichgewichts im allgemeinen bei¬
tragen, theilnehmen, weniger die Arme, die an dieser Function am wenig¬
sten betheiligt, wenn auch nicht ganz unbetheiligt sind. Wir wissen aller¬
dings bisher nicht, ob die vom Kleinhirn absteigenden Bahnen vor allem
zu den Vorderhornganglien in der Rumpf- und Beinregion gelangen, dagegen
wissen wir, dass im centripetalen Theile des spinobulbärcerebellaren Reflex¬
bogens zwei besondere Bahnen — die GowERS’sche und Kleinhirnseitenstrang¬
bahn — aus der Bein- und Rumpfregion der Medulla spinalis stammen;
dass diese beiden Gebiete also viel inniger mit dom Kleinhirn verbunden
sind als die Arme, für die solche gesonderte Bahnen nicht oder nur in sehr
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Kleinhirnerkrankungen.
221
geringem Masse existiren. Die Betheiligung des Kopfes am Schwanken er¬
klärt sich wohl ohneweiters aus der Läsion des Vestibularnerven und seiner
Fortsetzung ins Kleinhirn. Das häufige Fallen nach einer Seite kann erklärt
werden durch eine Affection der motorischen Bahnen, die vom DEiTKRS schen
Kerne hauptsächlich in die gleichseitigen Vorder- und Vorderseitenstränge
gelangen; es würde dann meist nach der Seite der Kleinhirnerkrankung ge¬
schehen. Doch wäre es möglich, dass eine Reizung der betreffenden Bahnen
und Centren, speciell des Deiters’ sehen Kernes auch ein Fallen nach der
anderen Seite bedingen könnte. Das Fallen nach vorn oder hinten wird man
sich durch eine besondere Schwächung entweder der vorderen oder hinteren
Wirbelsäulenmusculatur verständlich machen können; doch könnten sich auch
hier Lähmungs- und Reizsymptome combiniren.
Schliesslich ist es natürlich selbstverständlich, dass die cerebellare
Ataxie sich sehr verstärken wird, wenn, wie in den meisten Fällen gröberer
Erkrankungen, neben dem spinobulbärcerebellaren Reflexbogen auch noch
der cerebellocerebrale in seinem aufsteigenden (Fasern vom Corpus den-
tatum zum Bindearm) oder in seinem absteigenden Aste (Fasern vom Stirn¬
hirn durch Pons und Brückenarm zur Rinde der gekreuzten Kleinhirnhemi¬
sphäre) oder in beiden zugleich betroffen wird. Denn dann erhält das Grosshirn
keine Nachrichten mehr von den unter pathologischen Bedingungen stehenden
Verhältnissen im Kleinhirn und kann auf dieses nicht mehr regulirend ein¬
wirken; ausserdem ist, wie leicht ersichtlich, dem Grosshirn damit auch die
ihm sonst bis zu einem gewissen Grade innewohnende Macht, die Kleinhirn¬
störungen auf dem Wege der sogenannten Willensbahnen zu compensiren,
natürlich erheblich beschnitten.
Grosse Schwierigkeiten hat, wie schon hervorgehoben, der
allgemeinen Anerkennung der sogenannten cerebellaren Ataxie
immer wiederderUmstand bereitet, dass diese Ataxie in nicht so
seltenen Fällen, auch von Kleinhirngeschwülsten, vermisst wurde.
Nothnagel 13 ) war der erste, der erkannte, dass dies Fehlen besonders
häufig war bei Geschwülsten der Kleinhirnhemisphären, die auch indirect,
durch Druck, den Wurm nicht betheiligten, während bei Erkrankung des
Wurms selbst die Ataxie fast regelmässig vorhanden war. Aber er hat selber
schon zugegeben, dass hier Ausnahmen Vorkommen; er hat das gelegentliche
Fehlen von Gleichgewichtsstörungen bei Wurmtumoren auf das ganz lang¬
same Wachsthum dieser Geschwülste, die den nicht lädirten Kleinhirntheilen
Zeit zu einer Functionsübernahme der erkrankten lassen, sowie auf eine in-
filtrirende, nicht zerstörende Wirkung einzelner Geschwülste geschoben. Von
anderer Seite wurde, wie schon erwähnt, darauf hingewiesen, dass bisher
zwar Fälle von Tumoren vorderer Theile des Wurmes, aber nicht solche
hinterer Theile desselben ohne Ataxie beobachtet seien. Sei dem wie ihm
wolle, jedenfalls giebt uns unsere anatomische Betrachtung auch für die
scheinbaren Willkürlichkeiten im Auftreten der Ataxie bei Kleinhirnerkran¬
kungen eine genügende Erklärung. Man braucht nur das Schema 33 anzu¬
sehen, um 1. zu erkennen, dass ein Tumor der äusseren Theile der Hemi¬
sphären des Kleinhirns, der den spinobulbärcerebellaren Reflexbogen ganz
und auch den ansteigenden Theil des cerebellocerebralen freilässt, keine
oder nur sehr geringe Ataxie hervorzurufen braucht. Dagegen ist es 2. leicht
ersichtlich, dass ein zerstörender Tumor des Wurms sehr bald sowohl
sämmtliche vom Rückenmark und Hirnstamm zur Wurmrinde aufsteigende
Bahnen, wie die Bahnen vom Wurm zum Dachkern, von da zum Deiters-
schen Kern, also den gesammten spinobulbärcerebellaren Reflexbogen zer¬
stören kann; aber auch das Corpus dentatum und seine Fasern zum oberen
Kleinhirn Schenkel liegen nicht weit davon entfernt und mit ihrer Läsion wird
auch der cerebellocerebrale Reflexbogen erheblich in Mitleidenschaft gezogen.
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222
Kleinhirnerkrankungen.
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Dennoch kann 3. ein comprimirender Tumor des Wurms, wenn er genau in
der Mittellinie sitzt und weniger zerstört als comprimirt, lange Zeit ohne
Gleichgewichtsstörungen verlaufen; er wird von den vom Rückenmark auf-
steigenden Bahnen nur die wenigen, sich kreuzenden zerstören; die grosse
Zahl der sich nicht kreuzenden Bahnen des aufsteigenden und ebenso des
absteigenden Astes des spinobulbärcerebellaren Reflexbogens kann er ein¬
fach zur Seite drängen, ohne sie zu lädiren und in ihrer Function zu stören
und noch mehr natürlich auch das Corpus dentatum und die von ihm aus¬
gehenden Fasern zum oberen Kleinhirnschenkel. Auf der anderen Seite braucht
ein Tumor der Hemisphäre nur bis an das Corpus dentatum heranzureichen.,
so wird er neben diesem, wie Fig. 33 zeigt, noch den grössten Theil der
Bahnen zerstören, die das Rückenmark mit dem Kleinhirn verbinden, be¬
sonders die cerebellopetaien; es werden schwere Gleichgewichtsstörungen ein-
treten; ja nach Bruce 12 ) müssen diese ataktischen Symptome bei einseitigen
Tumoren, die diese Gegend erreichen, noch stärker sein als bei genau median
gelegenen, da dann die Einwirkung des cerebellaren Gleichgewichtscentrums
V\g.
Oberwurm
Schematischer Querschnitt durch das Kleinhirn zur Darstellung der Verbindungen des
Wurmes. »Nach KRICK.)
FS Fibrae «aginales; CR Corpm» n*sti forme: CD Corpus dentatum; PCS Pedunculus cerebelli
su]>«*rior ; XT Nucleus tegincnti ; TC V Tractus rerebello vetmbularis ; VIV 4 Ventrikel; DK
JJKlTKHS'scker Kern; VIII Nervus acusticua.
auf einer Seite noch fortbestehe, auf der anderen fehle, die Resultate
also asymmetrischer und damit auffälliger würden, während bei Affectionen
der Mittellinie unter Umständen nur eine ganz symmetrische und wenig auf¬
fällige Schwächung aller Kleinhirnfunctionen einträte.
Schliesslich will ich noch erwähnen, dass es selbstverständlich ist, dass
die Läsionen der einzelnen Kleinhirnschenkel dieselben Symptome hervor-
rufen müssen als die Zerstörung der von .ihnen ausgehenden Bahnen im
Kleinhirn selbst; es handelt sich hier namentlich um Gleichgewichtsstörungen,
die ihren Ausdruck in Rotationsbewegungen des Körpers um die Längsachse
finden. Nach Bruce 10 ) sollen diese Erscheinungen besonders bei Affectionen
der unteren und oberen Kleinhirnschenkel eintreten, was ja ganz verständ¬
lich wäre, weil diese Schenkel die für das Körpergleichgewicht, wie wir
sahen, wesentlichen Bahnen aus und zum Rückenmark, respective den
centripetalen Antheil des cerebellocerebellaren Reflexbogens aus dem Corpus
dentatum enthalten; früher hat man gerade ein besonders häufiges Vor¬
kommen der Rotationsbewegungen bei Läsion der Brückenschenkel be¬
hauptet; doch sind die dafür angeführten Fälle aus der menschlichen Patho¬
logie alle wenig beweisend.
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Kleinhirnerkrankungen.
223
Ein zweites sicheres und oft sehr früh eintretendes Localsymptom des
Kleinhirns ist der Schwindel. Es handelt sich um einen echten Dreh¬
schwindel. Der Kranke hat entweder das Gefühl, dass die Gegenstände im
Raume, z. B. Bilder an der Wand, sich um ihn drehen, oder dass er selber
gedreht wird. Der Schwindel kann dauernd bestehen und anfallsweise sich
so verstärken, dass der Kranke zu Boden stürzt, dann wird er natürlich
die Ataxie sehr verschlimmern, oder kommt nur anfallsweise vor, besonders
bei Lageveränderungen des Kopfes, wie Aufrichten und Niederlegen. Der
Kleinhirnschwindel entspricht in seiner Art ganz dem bei Erkrankungen des
Ohrlabyrinths, besonders der Bogengänge beobachteten, den man als Meniüre-
schen Schwindel bezeichnet. Da nun der Vestibularnerv direct in den Deitbrs-
schen Kern gelangt und von da Fasern zum Dachkern des Wurmes ge¬
langen — Bruce 10 ) hält diese Fasern allerdings für rein motorisch, während
Bechterew 3 ) in ihnen sicher Octavusfasern annimmt — so wird man wohl
nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass der Schwindel der Kleinhirn¬
kranken auf einer Läsion der intracerebellaren Fortsetzungen des Vestibular-
nerven beruht. Auch er kann dann, wie Fig. 33 zeigt, bei Wurmerkrankungen
besonders stark sein; wie dieselbe Fig. 33 aber zeigt, können wenigstens
den DEiTERs'schen Kern und den 8 Hirnnerven an der Basis selbst auch Tu¬
moren der Hemisphären, besonders ihrer unteren Fläche, leicht treffen; da¬
mit würde stimmen, dass der Schwindel bei Kleinhirnerkrankung ein noch
constanteres Symptom ist wie die Ataxie und auch bei Hemisphärenerkran¬
kungen kaum fehlt. Wenn der Schwindel durch Druck des Tumors auf den
Acusticus an der Basis hervorgerufen wird, wird neben ihm einseitige Schwer¬
hörigkeit, respective Taubheit bestehen.
Wir kommen jetzt zu den drei Symptomen, die ich früher als zweifel¬
hafte Localerscheinungen des Kleinhirns bezeichnet habe, den Nystagmus,
die scandirende Sprache und den Intentionstremor und eine
Parese der der Kleinhirnläsion gleichseitigen Körperhälfte. Was
den ersteren anbetrifft, so habe ich damals besonders hervorgehoben, dass
Nystagmus bei Kleinhirnerkrankungen oft beobachtet wird, dass er auch bei
den physiologischen Experimenten eine grosse Rolle spielt und dass auch
Hitzig die beim Galvanisiren des Kopfes eintretenden nystagmischen
Zuckungen auf das Kleinhirn bezogen hat. Dennoch neigte ich mich damals
der Ansicht zu, dass wenigstens in den meisten Fällen von Kleinhirntumoren
die nystagmischen Zuckungen durch Druck auf die Kernregion der Augen¬
muskeln bedingt sei; es sei ein paretischer Nystagmus, ein Vorläufer der
schliesslich bei Tumoren des Kleinhirns sehr häufigen Ophthalmoplegie. Ich
nehme für viele Fälle auch jetzt noch diese Pathogenese an, aber ich kann
doch nicht umhin, gerade in Rücksicht auf die genaueren Kenntnisse, die
uns die neueste Zeit über die Verbindungen des Kleinhirns mit den Kernen
der Augenmuskelnerven gebracht hat, zuzugesteben, dass wenigstens Augen¬
muskelparesen und nystagmische Zuckungen auch directe Folge einer Klein¬
hirnläsion selbst sein können. Ein Blick auf Fig. 32 lehrt, dass der Wurm
des Kleinhirns mit dem ÜEiTERS’schen Kern und dieser mit dem gleich¬
seitigen Abducens- und durch Vermittlung der hinteren Längsbündel mit
beiden Oculomotoriuskernen in Verbindung steht. (Damit sind übrigens auch
die physiologisch und praktisch sehr wichtigen Verbindungen der Augen¬
muskelnerven mit dem Hörnerven oder wenigstens mit den Bogengängen
festgestellt — Nystagmus bei Ohrleiden.) Auf diesen Bahnen können z. B.
bei Reizung eines Deiters sehen Kernes die verschiedenartigsten nystagmi¬
schen Zuckungen entstehen; ist die Bahn vom ÜEiTERSschen Kern nach dem
gleichseitigen Abducenskern unterbrochen, von dem ja auch Verbindungen
zum gekreuzten Kernantheil des Rectus internus bestehen, so kann der
Blick nach der Seite der Läsion erschwert sein; es können bei Versuchen,
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224
Kleinhirnerkrankuugen.
den Blick nach dieser Richtung zu lenken, nystagmische Zuckungen auf-
treten und schliesslich die Augen dauernd nach der anderen Seite deviiren.
Vom Intentionstremor, der bei Kleinhirnerkrankungen be¬
sonders an den Armen vorkommt, und von der scandirenden Sprache mochte
ich auch jetzt noch behaupten, dass sie beide speciell bei den Tumoren eine
Folge der Nachbarschaftswirkung auf Hirnstamm und Pyramidenbahnen sind.
Sie sind zwar* noch bei vasculären Erkrankungen des Kleinhirns beobachtet,
aber in diesen Fällen war auch der Hirnstamm nicht ganz frei von Krank¬
heitsherden. Wenn Ferrier 2 ) Recht hat, dass das Kleinhirn besonders für
tonische Muskelcontractionen in Anspruch genommen wird, so wäre es ja
leicht erklärlich, dass bei seinem Ausfall clonische Muskelactionen, resp.
Tremor eintreten.
Ganz besondere Schwierigkeiten hat immer die Frage bereitet, ob bei
alleinigen Läsionen des Kleinhirns, respective einer Kleinhirnh&lfte auch
Lähmungserscheinungen an Rumpf und Extremitäten Vorkommen, und auf
welcher Seite im Verhältniss zur Kleinhirnerkrankung diese sitzen. Noch
die letzte grosse Debatte über Hirntumoren in der Londoner neurologischen
Gesellschaft (Brain, 1898, pag. 291) zeigt, wie wechselnd die Verhältnisse
hier sein können — gleichseitige oder gekreuzte Lähmung, schlaffe oder
spastische, mit Fohlen oder Steigerung der Sehnenreflexe. Die Schwierig¬
keiten sind deshalb so gross, weil wenigstens jeder grosse Kleinhirntumor
auch durch Druck auf den Hirnstamm Lähmungen der Extremitäten her-
vorrufen kann; da ein Tumor sowohl den Hirnstamm der gleichen wie durch
Drücken gegen den Knochen auch den der anderen Seite oberhalb der
Pyramidenbahnkreuzung comprimiren kann, so können diese Lähmungen ge¬
kreuzt mit der Kleinhirnläsion oder auf derselben Seite sitzen; sie sind
meist spastische, können später aber auch schlaffe werden und es können
auch die Patellarreflexe bei ihnen fehlen. Sicher scheint zu sein, dass voll¬
kommene Lähmungen kaum jemals von einer Kleinhirnläsion allein abhängen
werden. Dagegen legen es unsere jetzt gesicherten Kenntnisse von den motori¬
schen Verbindungen des Kleinbirnwurms mit den Vorder- und Vorderseiten¬
strängen des Markes (s. Fig. 32) doch nahe, dass wenigstens eine Parese,
vor allem der gleichseitigen Körperhälfte, auch von der Kleinhirnläsion allein
abhängen konnte. Auch giebt es aus der menschlichen Pathologie einzelne
einwandsfreie Fälle, die diese Annahme beweisen. So waren in einem Falle
Rüssei/s von einseitigem Kleinhirnabscess die Extremitäten auf der Seite
der Läsion — also ungekreuzt — paretisch, während die Augen nach der
anderen Seite abwichen. Diese Deviation der Augen war durch eine Läsion
des Pons auf der Seite des Abscesses bedingt, die Extremitätenlähmung
konnte aber nicht durch eine Affection der Pyramide an derselben Stelle
bedingt sein, da sie sonst gekreuzt hätte sein müssen. Sie konnte also nur
vom Kleinhirn direct abhängen. In diesen Fällen würde dann auch ein
Schwanken und Fallen der Kranken nach der Seite des Tumors sich leicht
erklären. Ist die Bahn vom Kleinhirn zum Deiters sehen Kern ganz zerstört
so kann die Lähmung eine schlaffe sein; Bruce 10 ) nimmt aber auch an.
dass bei Reizung eines Deiters sehen Kernes auch Spasmen der Extremitäten
und erhöhte Sehnenreflexe eintreten könnten und dann vielleicht durch ein
über das Ziel Hinausschiessen der Bewegungen der gleichseitigen Extremi¬
täten ein Fallen nach der gekreuzten Seite. Irgendwelche Sensibilitäts¬
störungen finden sich an den paretischen Gliedern nicht, wenn die Läh¬
mung allein von der Kleinhirnläsion abhängt.
Risiex Rüssel und Hüghlixgs Jackson 14 ) nehmen an, dass bei Klein-
hirnaffectionen eine besondere Schwäche der Rumpfmuskeln eintritt, und sie
wollen die cerebellare Ataxie in der Hauptsache auf diese Rumpfmuskel¬
schwäche zurückführen. Für diese Ansicht spricht 1. dass bei Stirnhirn-
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Kleinhirnerkrankungen.
225
tumoren eine der Kleinhirnataxie ganz ähnliche Störung des Gleichge¬
wichts eintritt, und dass im Stirnhirn die corticalen Centren für die Rumpf-
musculatur liegen; 2. dass, wie wir sehen, besonders enge anatomische
Beziehungen zwischen Stirnhirn und Kleinhirn vorhanden sind; 3. dass die
wichtigste cerebellopetale Bahn aus dem Rückenmark — die Kleinhirnseiten¬
strangbahn besondere Beziehungen zur Rumpfregion hat. Jackson will auch
bei Kleinhirnerkrankungen besondere Schwäche der Rumpfmusculatur selber
constatirt haben, das ist mir nie gelungen. Selbstverständlich wird aber
an der Schwächung der Musculatur, die durch die Kleinhirnläsion allein
eintritt, auch die Rumpfmusculatur theilnehmen. Dass ich nicht der An¬
sicht bin, dass bei Kleinhirnerkrankungen die Schwäche der
Rumpfmusculatur die alleinige Ursache der cerebellaren Ataxie
sei, brauche ich nach meinen obigen Ausführungen kaum noch
zu sagen; ich verweise namentlich auf die von mir angenommenen
zwei Arten der cerebellaren Ataxie; wohl aber glaube ich, dass
sie in vielen Fällen ihren Theil zu der Entstehung dieser Er¬
scheinung beitragen wird.
Damit hätten wir alle mit Sicherheit oder doch mit grosser Wahr¬
scheinlichkeit bei alleiniger Erkrankung des Kleinhirnes vorkommenden Sym¬
ptome angeführt, ihre anatomisch-physiologische Grundlage erörtert und die
Varietäten und scheinbaren Willkürlichkeiten ihres Auftretens erklärt. Die
wichtigsten und specifischsten Kleinhirnsymptome sind die cerebellare
Ataxie und der Schwindel. Aber auch diese Symptome sind nicht so
specifisch, dass man aus ihrem Vorhandensein allein ohne weiteres auf eine
Kleinhirnerkrankung schliessen könnte. Bleiben wir zunächst einmal bei der
Ataxie und erinnern wir uns daran, was wir oben über ihre Entstehung
und über den Verlauf derjenigen Bahnen ausgeführt haben, die die der Er¬
haltung des Körpergleichgewichts dienenden Reflexbogen zusammensetzen, so
ergiebt sich dieser Umstand übrigens schon ohne weiteres aus diesen anatomi¬
schen Auseinandersetzungen. Denn die Symptome müssen dieselben
sein, ob eine das Kleinhirn mit einem anderen Theile des Central¬
nervensystems verbindende Bahn im Kleinhirn oder auf dem Wege
dahin oder daher lädirt wird. Da nun sowohl im Rückenmarke wie im
Hirnstamme Bahnen zum Kleinhirn aufsteigen und von dort dahin wieder
zurückkehren, da das Kleinhirn ausserdem auch mit dem Grosshirn in innigster
Verbindung steht, Verbindungen, die wieder ihren Weg durch den Hirnstamm
und die vorderen und mittleren Kleinhirnschenkel nehmen, so können wir
a priori schliessen, dass auch bei Läsion aller dieser Hirngebiete der cerebellaren
Ataxie gleiche oder sehr ähnliche Symptome entstehen können. Dieser Vor¬
aussetzung entsprechen auch die Thatsachen vollkommen. Ich habe oben
ausgeführt, dass die cerebellare Ataxie ausser dem für sie typischen Schwanken,
der Titubation der Franzosen, manchmal auch Züge der tabischen Ataxie
trägt: Unsicherheit beim Kniehackenversuche, Hahnentritt, RoMBERGsches
Symptom. Beide Formen der Ataxie kommen nun auch bei Rückenmarks¬
erkrankungen vor, die letztere bei der echten Tabes, die erstere bei der
hereditären Ataxie Friedreichs, deren Rückenmarksbefund übrigens nach
Senator von einer primären Kleinhirnerkrankung abhängen soll. Im Bulbus
kommt, wie das neuerdings besonders Reinhold 1ö ) hervorgehoben hat, die
der Tabischen gleichende Ataxie durch die Erkrankung der Hinterstrangs¬
schleifenbahn, die »cerebellare« durch eine solche der Kleinhirnseitenstrangs¬
und vielleicht der Kleinhirnolivenbahn zustande. Eine der Kleinhirnataxie be¬
sonders ähnliche Störung des Gleichgewichtes, die sich meist aus beiden er¬
wähnten Arten der cerebellaren Ataxie zusammensetzt, kommt ferner bei
Erkrankungen der Vierhügel vor, und ich selbst lft ) habe durch Mittheilung
Encyclop. Jahrbücher. IX. 15
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226
Klcinhirnerkrankungen«
zweier Krankheitsfälle bewiesen, dass dadurch und oft auch durch Sym¬
ptome von Seiten der Nachbarschaft Vierhügel- und Kleinhirntumoren sich
so ähnlich sehen können, dass eine Unterscheidung unmöglich ist. Schliess¬
lich habe ich 12 ) im Jahre 1891 auf der Naturforscherversammlung in Halle
im Anschluss an eigene und fremde Erfahrungen gezeigt, dass auch bei
Tumoren des Stirnhirnes eine Gleichgewichtsstörung vorkommt, die für sich
allein betrachtet von cerebellarer Ataxie, deren erste, häufigere Unterart sie
copirt, nicht zu unterscheiden ist. Ich habe lange Zeit geschwankt, wie diese
sogenannte frontale Ataxie zu erklären sei, deren Vorkommen jetzt allgemein
anerkannt ist, ob mehr durch eine Lähmung der Rumpfmuskeln, deren corticale
Centren an der medianen Seite des Stirnhirns liegen — ein Tumor speciell —
der eines dieser Centren lädirt, kann natürlich leicht auch das andere treffen;
oder durch eine Unterbrechung derjenigen Verbindungen, die, wie wir sehen,
gerade zwischen Stirnhirn und gekreuzter Kleinhirnhemisphäre bestehen. Ich
glaube jetzt, dass beide Umstände eine Rolle spielen; für die Bedeutung der
Rumpfmuskelparese, für die Entstehung der frontalen Ataxie sprechen auch Be¬
obachtungen Oppenheim s 17 ) und anatomische Untersuchungen FlechskVs. 1v )
Was dann den Schwindel angeht, das zweite specifische Kleinhirn¬
symptom, so sind Schwindelgefühle an und für sich ein sehr vages Sym¬
ptom, ganz abgesehen von dem Missbrauche, der mit diesem Ausdrucke von
den Patienten getrieben wird. Aber auch der für Kleinhirnerkrankungen
charakteristische echte Drehschwindel ist keineswegs ein specifisches Zeichen
für diese Erkrankung. Ich brauche hier nur an den MENifcRE’schen Sym-
ptomencomplex zu erinnern. Wie nämlich sicher feststeht, kommt ganz die¬
selbe Form des Schwindels bei Ohrleiden, speciell solchen des inneren Ohres
vor, dann bei Erkrankung des achten Hirnnerven an der Hirnbasis und
während seines intramedullären Verlaufes. Der Schwindel kann bei der M£niere-
schen Erkrankung anfallsweise auftreten und sich mit Bewusstlosigkeit ein¬
fachem Niederstürzen ohne Bewusstseinspause und Erbrechen verbinden —
ein Symptomencomplex, der ganz besonders den Verdacht eines Kleinhirn¬
tumors hervorrufen würde; oder er besteht continuirlich. Dann findet sich
meist auch Taumeln und Schwanken beim Stehen und Gehen, ganz wie bei
Kleinhirnkranken. Auch bei Taubstummen findet man manchmal diesen
taumelnden, an den der Betrunkenen erinnernden Gang.
Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Thatsache, dass gerade die
bei alleiniger Erkrankung des Kleinhirns constantesten und daher wichtigsten
Symptome auch bei der Erkrankung einer grossen Anzahl anderer Theüe
des Centralnervensystems Vorkommen können, nur zu sehr geeignet ist, die
Diagnose einer Kleinhirnerkrankung zu erschweren, wenn auch gewiss zu¬
gegeben werden soll, dass bei dem Zusammentreffen aller der von
mir besprochenen Bahnen im Kleinhirne bei Affectionen dieses
Ortes, speciell die Ataxie, besonders leicht, früh und intensiv ein-
treten wird. Ich kann hier nicht auf die differentielle Diagnose zwischen
den Kleinhirnerkrankungen und denen der anderen oben angeführten Hirn-
theile eingehen, bei denen namentlich eine der cerebellaren Ataxie gleiche
Störung des Körpergleichgewichtes vorkommt; es genüge darauf hinzuweisen,
dass für einzelne Erkrankungen, z. B. für die Tabes, die Differentialdiagnose
fast nie Schwierigkeiten bietet; dass die Unterscheidung zwischen Stirnhirn-
und Kleinhirnataxie bei Berücksichtigung aller Nebenumstande ebenfalls meist
gelingt; dass dagegen, wie ich selbst erlebt habe 16 ), die Begleitsymptome
einer Vierhügel- und einer Kleinhirnataxie sich so ähnlich sehen können,
dass eine differentielle Diagnose fast unmöglich ist. Im übrigen verweise ich
auf die oben angeführten und einige andere frühere Publicationen von mir,
in denen diese Fragen genau erörtert sind. 7 > 12 > 16> 19 * 20 )
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Kleinhirnerkrankungen.
227
Dagegen wird die vorliegende Arbeit, die die Symptome der Kleinhirn¬
erkrankungen mit besonderer Rücksicht au! anatomisch-physiologische Ver¬
hältnisse schildern soll, eine sehr unvollkommene sein, wenn ich hier, wie
bisher, nur die eigentlichen Localsymptome der Kleinhirnerkrankungen be¬
rücksichtigen wollte. Gerade bei der häufigsten und deshalb wichtigsten Art
der Kleinhirnerkrankungen, bei den Tumoren, spielen neben den Localsym¬
ptomen für die Diagnose auch noch andere Erscheinungen eine Rolle, die
wir als Allgemein- und als Nachbarschaftssymptome bezeichnen; ja manchmal
kann ihr Vorhandensein sogar die Diagnose sicherer machen als die eigent¬
lichen Localsymptome. Ich will deshalb jetzt auf ihre Darstellung eingehen
und habe damit dann ein vollständiges Bild der Symptomatologie der Klein¬
hirngeschwülste gegeben; zum Schlüsse will ich dann noch ein paar
Worte über die anderen Kleinhirnerkrankungen: Abscesse, Blutungen,
Erweichungen, Sklerosen und Defecte sagen.
Die Allgemeinerscheinungen sind beim Tumor cerebelli in ihrer
Art dieselben wie bei allen Hirngeschwülsten, nur zeichnen sie sich fast
alle durch frühes Eintreten und grosse Intensität aus, das liegt daran, dass
gerade beim Kleinhirntumor meist sehr frühzeitig ein starker Hy drocephalus
internus mit Erweiterung der Ventrikel eintritt, dass dieser Hydrocephalus
wesentlich zur Vermehrung des sogenannten Hirndruckes beiträgt und dass
die hauptsächlich in Betracht kommenden allgemeinen Symptome des Hirn¬
tumors: die Kopfschmerzen, das Erbrechen, die Stauungspapille im wesent¬
lichen Folgen dieses vermehrten Hirndruckes sind. Der Kopfschmerz ist
meist ein ganz enormer. Meist sitzt er im Hinterkopfe und verbindet sich
dann manchmal mit Nackensteifigkeit; nicht selten aber auch in der Stirn,
und zwar nach Angabe englischer Autoren (Brain, 1898, 1. c.) in der mit der
erkrankten Kleinhirnhemisphäre gekreuzten Hirnseite, was wieder auf die
anatomischen Verbindungen des Kleinhirnes mit dem Stirnhirne hinweisen
soll. Es ist häufig besonders intensiv, wenn der Patient einige Stunden ge¬
schlafen hat; so wachen diese Kranken oft in den frühen Morgenstunden
mit den heftigsten Kopfschmerzen auf. Manchmal wird seine Intensität auch
beeinflusst durch eine gewisse Haltung des Kopfes; so sah ich einen Patienten,
der den Kopf deshalb auch im Sitzen immer nach der vom Tumor afficirten
Seite geneigt hielt; ein anderer (Kleinhirntumordiagnose ohne Autopsie) hielt
während des heftigsten Kopfschmerzes stets das Kinn auf die Brust gesenkt.
R. Schmidt 21 ) hat vor kurzem einige Fälle veröffentlicht, wo die Kranken
sofort die heftigsten Kopfschmerzen, ferner Schwindel, Erbrechen etc. be¬
kamen, wenn sie sich auf die dem Kleinhirnhemisphärentumor entgegen¬
gesetzte Seite legten, so dass sie instinctiv, wie in einer Art Zwangslage,
immer auf der Seite des Tumors lagen; er führt das darauf zurück, dass
ein Tumor der Kleinhirnhemisphären den Aquaeductus Sylvii und die übrigen
die Ventrikel mit dem Subarachnoidealraum des Schädel- und Rückenmarks¬
canals verbindenden Oeffnungen besonders leicht verschliessen und so zur Ver¬
mehrung des Schädelinnendruckes führen kann, wenn er beim Liegen des
Patienten auf der von ihm abgewandten Seite von oben auf die Medulla
oblongata drückt; dagegen fehle dieser Druck, wenn beim Liegen des Kranken
auf der Seite des Tumors dieser unterhalb der Medulla liegt. Ich habe
ähnliches gesehen; kann mir aber vorstellen, dass ein Tumor in dieser
Gegend auch durch Zug am Hirnstamme zum Verschlüsse der die Hirn¬
flüssigkeit abführenden Wege führen kann; dann werden die obenerwähnten
Symptome eines vermehrten Hirndruckes gerade schlimmer werden, wenn
der Kranke auf der Seite des Tumors liegt. Dass das nicht rein
theoretische Ueberlegungen sind, geht aus einer Beobachtung Mitchell
Clarkes (Brain, 1898) hervor, wo der Kleinhirnkranke in der That eine
15*
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Kleinhirnerkrankungcn.
- > o s
Zwangslage auf der dem Tumor abgekehrten Seite einnahm, und sich stets,
fast automatisch wieder nach dieser Seite herumdrehte, wenn er auf die
andere gelegt war.
Die Stauungspapille tritt beim Kleinhirntumor früh ein und wird
früh sehr stark. Blutungen und Verfettungen in der Retina sind häufig,
rasch tritt Amblyopie und Erblindung mit Atrophie des Sehnerven ein.
Das Erbrechen ist meist von quälender Hartnäckigkeit, es ist viel¬
leicht eher als ein Nachbarschaftssymptom von Seiten der Medulla oblongata
aufzufassen; es tritt, wie der Kopfschmerz, oft früh, bei nüchternem Magen
ein . dann auch oft wenn der Kranke seine Lage wechselt, sich aufrichtet
oder niederlegt.
Von Convulsionen kommen oft tonische Spannungen der gesammten
Körpermusculatur mit Opisthotonus und Are de cercle-Bildung vor. die
mit convulsivischem Zittern der Muskeln einsetzen oder schliessen; echte
epileptische Anfälle sind selten, noch seltener partielle Epilepsie.
Bei Kindern tritt — ebenfalls wohl infolge des starken Hydrokephalus —
der zu einem Auseinanderweichen der Schädelnähte und einer messbaren Zu¬
nahme des Kopfumfanges führen kann, häufig ausgesprochene Tympanie und
Bruit de pot feie bei Beklopfen des Schädels ein; ja man muss sagen,
dass die allgemeine Tympanie bei keinem anderen Tumorsitze so häufig und
so deutlich ist wie bei Kleinhirntumoren im kindlichen Alter. Ganz beson¬
ders deutlich pflegt diese Anomalie des Percussionstones in der Nähe der
auseinandergewichenen Nähte, speciell der Coronarnaht, zu sein.
Nachbarschaftssymptome, d. h. solche Erscheinungen, die eine Ge¬
schwulst durch Druck auf die ihr benachbarten Hirntheile auslost, kommen
beim Kleinhirne vor durch Druck auf verschiedene Theile des Hirnstammes
und auf die Nerven an der Basis des Schädels. Einen intensiveren Druck
einer Kleinhirngeschwulst auf die hinteren Theile des Grosshirnes verhindert
meist das sehr widerstandsfähige Tentorium cerebelli.
In der hinteren Schädelgrube kann ein Kleinhirntumor zunächst nach
vorn hin die Vierhügel betheiligen. Es kommt dann zu sogenannten nu-
clearen Augenmuskellähmungen, Lähmungen, die meist die beiderseitigen
Augenmuskeln, wenn auch nicht in ganz symmetrischer Weise ergreifen und
die inneren Augenmuskel oft freilassen. Sie sind bei Kleinhirntumoren sehr
häufig. Solange eine Parese der einzelnen Augenmuskeln besteht — Paralyse
tritt meist erst im Endstadium auf — treten bei Blickrichtung im Sinne der
Function dieser Muskeln nystagmische Zuckungen ein, die also eine
Schwächeerscheinung sind. Ich habe oben ausführlich erörtert und anato¬
misch erläutert, dass Nystagmus auch ein rein locales Kleinhirnsymptom
sein kann; ich glaube aber, dass ein ausgeprägter Nystagmus häufiger ein
Nachbarschaftssymptom von Seiten der Vierhügel ist, namentlich dann, wenn
er sich mit Augenmuskelparesen verbindet; er ist dann ein Vorläufer der voll¬
kommenen Ophthalmoplegie. Vollständige Lähmung einzelner Augenmuskeln,
z. B. des Rectus externus durch Läsion eines Abducens, kommt als reine
Localerscheinung des Kleinhirns überhaupt nicht vor.
Von Nachbarschaftssymptomen von Seite der Brücke und des ver¬
längerten Markes erwähne ich zunächst eine Läsion der langen Leitungs¬
bahnen für den Rumpf und die Extremitäten. Wir haben diese Dinge oben
schon gestreift, als wir die Frage erörterten, ob eine Kleinhirnläsion allein
imstande sei, eine Lähmung der Extremitäten hervorzurufen. Ein Tumor
einer Kleinhirnhemisphäre kann durch Druck auf die Pyramidenbahn ober¬
halb der Kreuzung eine contralaterale Extremitätenlähmung bedingen; er
kann aber auch, wie ich das selbst zweimal erlebt habe, die contra¬
laterale Brückenseite gegen die Knochen andrücken und dadurch eine Läh-
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Kleinhirnerkrankungen. ‘
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muüg der Extremitäten auf seiner Seite bewirken. In späteren Stadien be¬
steht meist Paraplegie. Die Lähmung der Extremitäten ist bei diesen Nachbar¬
schaftslähmungen fast immer eine spastische, die Sehnenreflexe sind erhöht;
der Plantarreflex zeigt Extension der Zehen; mehrmals sah ich. dass die
der zuerst lädirten Pyramide zugehörige untere Extremität sich in Beuge-,
die der später ergriffenen in Streckcontractur befand. Schliesslich kann
aber auch hier entweder durch complicirende Processe an den hintern Wurzeln
(siehe unten) oder durch vollständige Unterbrechung aller zum und vom
Rückenmarke führenden Bahnen eine schlaffe Lähmung eintreten. Da nun,
wie wir sehen, auch die von der Kleinhirnerkrankung direct abhängige, mit
der Erkrankung gleichseitige Extremitätenparese eine schlaffe und eine spasti¬
sche sein kann, so ist leicht einzusehen, wie schwer gerade die Extremi¬
tätenlähmungen bei Kleinhirntumoren pathogenetisch zu deuten sind und
wohl erklärlich, dass sie allein für die Diagnose, auf welcher Seite ein Klein¬
hirntumor sitzt, nicht zu gebrauchen sind. Erwähnen will ich noch, dass nach
Oppenheim 18 ) auch die Rückensteifigkeit bei Kleinhirntumoren auf einer
spastischen Parese der Rückenmuskeln beruhen kann; im anderen Falle sei
sie aber reflectorisch bedingt durch Schmerzen, die bei Bewegungen des
Kopfes auftreten.
Sensibilitätsstörungen an den Extremitäten und am Rumpfe durch
Läsion der langen sensiblen Leitungsbahnen am Hirnstamme kommen bei
Kleinhirntumoren nur im Endstadium vor, wo die Benommenheit ihren Nach¬
weis erschwert. In ihrer Anordnung, speciell gegenüber der Seite der Klein¬
hirnläsion, unterliegen sie wohl denselben Gesetzen wie die Nachbarschafts¬
lähmungen; bei alleiniger Affection des Kleinhirns fehlen Sensibilitätsstörungen.
In Pons und Medulla oblongata kann ein Kloinhirntumor natürlich auch
die Kerne der hier entspringenden Hirnnerven angreifen, etwa vom 5. bis
12. Hirnnerven inclusive. Wir werden, da die Symptome in diesem Falle die¬
selben sein werden, wie wenn ein Tumor des Kleinhirns die betreffenden
Nervenstämme an der Basis nach ihrem Austritte aus dem Hirnstamme
comprimirt, diese Erscheinungen weiter unten bei den Nachbarschaftswir¬
kungen des Kleinhirntumors auf die Basis der hinteren Schädelgrube be¬
sprechen. Es ist selbstverständlich, dass die Kernläsionen der betreffenden
Nerven leichter doppelseitig werden können als basale; auch werden sie
sich besonders leicht mit Extremitätslähmungen zu alternirenden Hemiplegien
verbinden, z. B. Facialis, Abducens, Trigeminuslähmung auf Seite der Läsion,
Extremitätenlähmung auf der anderen Seite. Doch kann diese Combination
natürlich auch ein von der Basis aus wirkender Tumor hervorrufen. Ein
sicheres Nachbarschaftssymptom des Kleinhirntumors von Seiten des Hirn¬
stammes ist aber die nicht seltene Blicklähmung nach der Seite des Tumors
hin; wohlverstanden eine Blicklähmung, denn eine Schwäche des Blickes
nach derselben Richtung, kann wie Fig. 32 zeigt und wie wir erörtert haben,
auch bei reinen Kleinhirnläsionen entstehen. Die Blicklähmung beider ßulbi
nach einer Seite, bei erhaltener Convergenz, entsteht durch Läsion eines
besonders für die seitliche Blickrichtung dienenden Mechanismus in der Gegend
der Abducenskerne. Noch sicherer ist es natürlich, dass die Blicklähmung ein
Nachbarschaftssymptom ist, wenn sie sich mit gekreuzter Extremitäten¬
lähmung verbindet, was ich zweimal gesehen habe.
Dass scandirende Sprache und Intentionstremor, wenn sie bei
Kleinhirntumoren Vorkommen, wenigstens in den meisten Fällen Nachbar¬
schaftssymptome sind, habe ich schon oben erwähnt.
Im Endstadium der Kleinhirntumoren kommen besonders auch Druck¬
wirkungen auf die Medulla oblongata vor. Die Folgen sind: Schlingstö¬
rungen, häufiges Gähnen, Singultus, sehr beschleunigte Herz-
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Kleinhirnerkrankungen.
230
thätigkeit, Chkyxk-Stokes scher Athemtypus. Auch der bei Kleinhirn-
tumoren nicht seltene plötzliche Tod wird auf plötzlich starken Druck
auf die Medulla oblongata zurückgeführt.
Von den Hirnnerven kann der Kleinhirntumor alle von 3—12 lädiren:
besonders häufig ergriffen werden der 5., 7. und 8. und dann der i>., 10.
und 11.; die einzelnen Nerven beider Gruppen nicht selten gemeinsam. Zu
einer solchen Läsion neigen besonders Kleinhirntumoren, die von der Basis
der Hemisphären ausgehen; ganz dieselben Symptome, wie ein hier entstehen¬
der Tumor, nämlich Ataxie, Erscheinungen von Seiten des Hirnstammes und
der Nerven von der Basis, kann natürlich auch ein direct an der Basis
zwischen Kleinhirn und Hirnstamm entstehender Tumor hervorrufen. Hier
kann zur Unterscheidung manchmal zwar die Aufeinanderfolge der Symptome
herangezogen werden, in ihrer vollen Ausbildung sind aber beide Symptomen¬
gruppen nicht zu unterscheiden. Die durch Läsion der basalen Hirnnerven
bedingten Symptome sind meist einseitig und sitzen auf der Seite des
Tumors. Man kann Reiz- und Lähmungssymptome unterscheiden; erstere
gehen den letzteren meist voran. Von Reizerscheinungen zeigen sich im
Trigeminusgebiete Schmerzen, manchmal sehr umschriebene; in einem meiner
Fälle waren sie lange auf eine Zungenhälfte beschränkt; im Facialisgebiete
klonische Zuckungen; im Acusticusgebiete Anfälle von Ohrensausen und
MfixiKRE’schem Schwindel; im Vagusgebiete hat Oppenheim 18 ) klonische
Zuckungen am Gaumen. Pharynx und Stimmband gesehen. Als Lähmungs¬
erscheinungen im Trigeminusgebiete treten ebenfalls anfangs oft sehr um¬
schriebene, z. B. auf eine Hornhaut und Conjunctiva beschränkte Anästhesien
auf: dann Keratitis neuroparalytica; auch Kaumuskellähmungen; ferner wird
periphere Facialislähmung beobachtet; dann einseitige Taubheit. Ein Beginn
des Leidens mit Reiz- und Lähmungserscheinungen von Seiten des Acusticus.
denen solche von Seiten des Facialis, des Hirnstammes und Kleinhirnes folgen,
ist auch charakteristisch für die nicht so seltenen Neurome, die im Acusticus-
starcme, d. h. am Porus acusticus internus, sich entwickeln. Werden Vagus,
Glossopharyngeus und Accessorius vom Tumor ergriffen, so muss natürlich
auch ein Theil der Sprech-, Schling-, Athem- und Herzbeschwerden auf diese
Läsion bezogen werden. Der Oculomotorius wird wohl selten durch Klein¬
hirntumoren an der Basis betroffen ; von den Augenmuskelnerven am ersten
der Abducens; ferner der Trochlearis bei seiner Kreuzung im Velum medulläre
anticum und seinem Austritte von da. Schliesslich ist noch einseitige Zungen¬
lähmung mit Atrophie durch basale Hypoglossusläsion bei Kleinhirntumoren
beobachtet. Alle diese Lähmungen können, wenn gleichzeitig der Hirnstamm
ergriffen wird, das Bild einer alternirenden Hemiplegie hervorrufen.
Als eigentliche Fe rn Wirkungen bei Kleinhirntumoren beschreibt Oppen-
heim ls ) Anosmie durch Abplattung der Bulbi olfactorii und Sehstörungen
durch Compression des Chiasma; beides Folgen des Hydrocephalus in¬
ternus, der z. B. das Infundibulum blasig vorwölben und dadurch direct
auf das Chiasma drücken kann. Als Fernwirkungen kann man auch noch die
Atrophie hinterer Rückenmarkswurzeln ansehen, die man bei allen grösseren
Hirntumoren antreffen kann, und die unter Umständen einen Schwund der
Patellarreflexe bedingen.
Damit hätten wir die Symptomatologie der Kleinhirntumoren
erschöpft. Neben den Allgemeinerschein ungen sind natürlich für
diese Diagnose besonders wichtig die Localsymptome, vor allem
die Ataxie, der Schwindel und vielleicht der Nystagmus; von
grosser Bedeutung sind aber auch die Nachbarschaftssymptome
von Seiten der hinteren Schädelgrube; sie ermöglichen z. B. vor
allem die Unterscheidung zwischen Stirnhirn- und Kleinhirnge-
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Kleinhirnerkrankungen.
231
schwülsten; einige von ihnen, wie die alternirenden Hemiplegien,
die Blicklähmung nach einer Seite und die einseitigen Hirnnerven¬
lähmungen sind überhaupt die einzigen Symptome, die eine sichere
Diagnose auf die Seite gestatten, in der ein Kleinhirntumor sitzt.
Kleinhirnabscesse kommen wohl fast ausschliesslich im Anschlüsse
an eiterige Processe im Gehörorgane vor, und zwar hauptsächlich bei solchen
des Labyrinthes und des Anthrum mastoideum. Sie sitzen meist in einer
Hemisphäre, und zwar in der Nähe ihres vorderen unteren Randes, nur selten
greifen sie den Wurm an. Nach unseren anatomischen Auseinandersetzungen
ist es deshalb sehr verständlich, dass nicht selten bei ihnen specifische
Kleinhirnsymptome ganz fehlen. Sind solche vorhanden, so sind es natürlich
dieselben wie bei Kleinhirntumoren, namentlich sind Ataxie und Schwindel
beobachtet. Da der Kleinhirnabscess meist nicht sehr gross ist und bei Hirn-
abscessen überhaupt die Erhöhung des Schädelinnendruckes eine geringere
ist als wie bei Tumoren — treten ausser den Kopfschmerzen — die Allge¬
meinerscheinungen und Nachbarschaftssymptorae mehr zurück ; doch ist mehr¬
mals doppelseitige Sehnervenatrophie nach Stauungspapille und von wahr¬
scheinlichen und sicheren Nachbarschaftssymptomen Nystagmus, Augenmuskel¬
lähmungen, auch Blicklähmungen nach einer Seite, vereinzelt auch alternirende
Hemiplegie, dann Dysarthrie und Dysphagie, sub finem häufiges Gähnen,
Athmungsstörungen, beobachtet worden. Bei der grossen Seltenheit charak¬
teristischer Nachbarschaftssymptome ist natürlich beim Kleinhirnabscess
seltener als beim Tumor aus den Hirnsymptomen allein die Diagnose der
erkrankten Hemisphäre möglich; man nimmt hier gewöhnlich den Eiterherd
an der Seite des erkrankten Ohres an; wenn aber beide Ohren erkrankt
sind, fällt auch dieser Anhaltspunkt weg und man kann dann eine sichere
Hemisphärendiagnose des Kleinhirnabscesses nicht mehr machen. Eine er¬
hebliche Rolle spielen in der Symptomatologie des Kleinhirnabscesses natür¬
lich auch die Erscheinungen des Grundleidens; die Ohreiterung, die Pachy-
meningitis externa purulenta, die Sinusthrombose, eventuell Pyämie, und sie
können die Erscheinungen des Kleinhirnabscesses sehr verdecken; nament¬
lich hängt von ihnen auch der Sitz der Kopfschmerzen ab. 22 - 2ä )
Von der Symptomatologie der Kleinhirnblutungen lässt sich wenig
Bestimmtes sagen. Sie sind an sich sehr selten und führen, wenn sie grösser
sind, durch Durchbruch in die Ventrikel meist rasch zum Tode. Nach v. Mo¬
nakow 2l ) sollen folgende Umstände für sie charakteristisch sein: Einsetzen der
Erscheinungen mit lebhaftem Erbrechen und langsamem und unregelmässigem
Pulse, sowie stertorösem Athmen. Keine deutliche Hemiplegie, höchstens
Schwäche in einem oder beiden Beinen; manchmal auch nach dem Aufhören
des Komas fehlende Sehnenreflexe. Sehr variables Verhalten der Pupillen.
Sicher wird man auf diese Symptome hin keine bestimmte Local¬
diagnose stellen können. Noch weniger charakteristische Symptome
machen im Kleinhirne arteriothrombotische Erweichungen aus Gründen,
die ich in der Einleitung erörtert. Sitzen allerdings solche Erweichungen und
stationäre Blutungsherde im Gebiete des Wurmes oder in den Theilen der
Hemisphäre, in denen die Reflexbahnen zur Erhaltung des Körpergleichgewichtes
verlaufen, so wird man auch bei ihnen die cerebellare Ataxie nicht vermissen;
einzelne dafür beweisende Fälle finden sich in Adlers 2ö ) Zusammenstellung.
Vor kurzem erlebte ich folgenden Fall : Aeltere Frau. Acutes Einsetzen der
Erkrankung mit Fieber, Schwindel, andauerndem Erbrechen, Benommenheit
und meningealen Symptomen, z. B. Trismus und Nackenstarre. Nachdem diese
schweren Symptome mehrere Wochen bestanden hatten, allmähliche Besse¬
rung, so dass schliesslich nur noch Schwindel und cerebellarer ataktischer
Gang bestand. Diese Symptome bestehen jetzt constant fast Dreivierteljahre;
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Kleinhirnerkrankungen
23 2
die Gehörorgane sind absolut frei. Ich glaube, dass es sich hier um eine
acute, nicht eiterige Encephalitis im Kleinhirne gehandelt hat; vielleicht be¬
stand eine solche Encephalitis auch in den Fällen, die Oppenheim in seinem
Lehrbuch als erebellare Form der Kinderlähmung bezeichnet. Auch die multiple
Sklerose setzt nach eigenen Beobachtungen nicht selten ihre ersten Herde
im Kleinhirn, und es besteht dann reine cerebellare Ataxie und heftiger
Schwindel, zuweilen ohne alle anderen Symptome.
Ueber die Symptome der angeborenen oder früh erworbenen halbseitigen
oder fast totalen Kleinhirndefecte ist wenig zu sagen. Es handelt sich meist
nicht um uncomplicirte Fälle, sehr häufig war das Grosshirn mitangegriffen;
oft waren die Kranken Idioten. Sehr häufig war der Sectionsbefund ein voll¬
ständig unerwarteter, aber ebenso oft war die klinische Untersuchung nicht
sorgfältig genug gewesen, um cerebellare Symptome in vivo sicher aus-
schliessen zu können. Eine sehr rühmliche Ausnahme macht hier allerdings
ein von Neubürger und Edinger 20 ) neuerdings publicirter Fall. Dieser Fall
ist von Edinger selbst lange behandelt und ist mehrmals ein vollständiger
genauer Nervenstatus aufgenommen. Irgendwelche Kleinhirnsymptome
fanden sich niemals. Bei der Section fand sich, dass die rechte Klein¬
hirnhemisphäre bis auf einen kleinen Rest geschwunden war. Die genaue
mikroskopische Untersuchung wies aber nach, dass es sich um einen Bildungs¬
mangel, nicht um eine Sklerose des Kleinhirns handelte. Der ganze Rest
der rechten Hemisphäre zeigte normales Mark und normale Kinde. Der Wurm
war beiderseits gut erhalten, auch seine Kerne links sowohl wie rechts. Die
vom Rückenmarke und Hirnstamme aufsteigenden cerebellopetalen Bahnen ver¬
liefen auch rechts in normaler Weise durch das Corpus restiforme in den Wurm;
ebenso war, wenn auch in etwas reducirter Weise, Edinger's sensorische
Kleinhirnbahn vorhanden, die wir jetzt als eine motorische, den Dachkern
mit dem DEiTEu’schen Kerne verbindende Bahn ansehen. Edinger hebt selbst
hervor, dass auch im Rückenmarke das Gebiet der vom Kleinhirn absteigen¬
den Bahnen intact gewesen sei. So war also zunächst einmal der
spinobulbärcerebellare Reflexbogen auch auf der rechten Seite
erhalten. Ferner fand sich auch rechts das Corpus dentatuin und, wenn
auch etwas reducirt, die Bahn von da zum gekreuzten rothen Kerne: der
mediale Abschnitt des Hirnschenkelfusses war zwar atrophisch, aber es
handelte sich nach Edinger um eine Atrophie zweiter Ordnung im Sinne
v. Monakow s, nicht um eine Degeneration. Auf der linken Seite fehlten von
den Brückenfasern besonders die unteren, die als absteigende, spinale Klein¬
hirnbrückenbahn von der defecten rechten Hemisphäre anzusehen sind ; die
oberen Querfasern, die im Zusammenhänge stehen mit der von dem Stirn¬
hirn kommenden Bahn, die die gleichseitige Ponshälfte durch den medianen
Theil des Hirnschenkelfusses erreicht und durch die gekreuzten Bindearme
zur gekreuzten Kleinhirnhemisphäre aufsteigt, waren besser erhalten. Also
auch der cerebellocerebrale Reflexbogen war so weit erhalten,
als es bei der defecten rechten Kleinhirnhemisphäre möglich war.
Es ist nach diesem Befunde und nach unseren anatomisch-physiolo¬
gischen Auseinandersetzungen also jedenfalls nicht unerklärlich,
dass hier jede Ataxie und jedes sonstige Kleinhirnsymptom ge¬
fehlt hat; im Gegentheil bietet der Fall eine sehr wesentliche
Stütze für die oben entwickelten Lehren von den für die Er¬
haltung des Körpergleichgewichtes nothwendigen Bahnen und
dem Ort und der Art ihrer Verbindungen mit dem Kleinhirn.
Die auf Atheromatose der Gefässe beruhenden Sklerosen des Klein¬
hirnes können, wie Arndt 8 ) nachgewiesen hat, von der Rinde, dem Marke
oder von beiden zugleich ausgehen. In Arndts Falle handelte es sich um
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Kleinhirnerkrankungei). — Kohlenoxydvergiftung.
233
eine Marksklerose. Die Symptome waren in den einschlägigen Fällen für das
Kleinhirn ziemlich charakteristisch. Es bestand taumelnder Gang, Schwindel,
Dysarthrie oder scandirende Sprache, Tremor, Augenmuskellähmungen: da¬
neben nicht selten psychische Störungen, die Oppenheim auf einen coinpli-
cirenden Hydrocephalus internus zurückführt.
Es giebt schliesslich noch zwei hereditäre, respective familiäre Krank¬
heiten, bei denen eine der cerebellaren gleichende Ataxie eine Rolle spielt.
Bei der ersteren, der Heredoataxie cerebellaire Marie' s, ist mehrfach
eine besondere Kleinheit des Cerebellums nachgewiesen worden (Nonne- 7 ),
Menzel 2s ), bei der zweiten, der hereditären Ataxie Friedreich s, fanden
sich anatomische Veränderungen im Rückepmarke; doch sind diese hier, wie
Senator hervorhebt, vielleicht wenigstens theilweise von einer primären
Kleinhirnerkrankung abhängig. Auf die Symptomatologie dieser Erkrankungen
im übrigen kann ich nicht näher eingehen.
Literatur: l ) Luciani, Das Kleinhirn. Deutsch von Frankel. Leipzig 1892. — 2 ) Fehrikr,
Recent work on the cerebellura. Brain. XVII, pag. 1. — 3 ) Bechterew, Ueber Empfindungen,
die mittels der sogenannten Gleichgewichtsorgane wahrgenommen worden. Arch. f. Anat. mul
Phys. 1896, pag. 105 und die Leitungsbahnen im Gehirn und Rückenmark. 2. Aufl. Deutsch
von Weinberg. Leipzig 1899. — 4 ) Ewald, Physiologische Untersuchungen über das End¬
organ des Nervus octavus. Wiesbaden 1892. — b ) B. Large, Inwieweit sind die Symptome,
welche nach Zerstörung des Kleinhirns beobachtet werden, auf Verletzung der Bogengänge
za beziehen? Pplüger’s Archiv. L, pag. 615. — 6 ) Lokb, Arch. f. Phys. L, pag. 253. —
1 ) L. Bruns, Klinische Erfahrungen über die Functionen des Kleinhirns. Wiener klin. Rund-
echau. 1896, Nr. 49—52. — 8 ) Arndt, Zur Pathologie des Kleinhirns. Arch. f. Psych. XXVI. —
9 ) Thomas, Le cervelet. Paris 1897. — 10 ) Bruck, The localisation and Symptoms of disease
of the cerebelium considered in relation with to its anatomical Connections. Transactions of the
Edingburgh med.-chir. Society. January 1899. — u ) Edinger, Bau der nervösen Centralorgane.
5. Aufl. Leipzig 1896. — lf ) L. Bruns, Ueber Störungen des Gleichgewichtes bei Tumoren
des Stirnhirns. Deutsche med. Wochenschr. 1892. — ia ) Nothnagel, Topische Diagnostik der
Gehirnkrankheiten. Berlin 1876. — 14 ) Hughlingh Jackson and Kisten Rüssel, A clinical
study of a cyst of the cerebelium. British med. Journ. 1894, pag. 393. — li ) Reinhold, Bei¬
träge zur Pathologie der acuten Erweichungen des Pons nnd der Medulla oblongata. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenhk. V, pag. 351. — ,8 > L. Bruns, Zur differentiellen Diagnose zwischen
Tumoren der Vierhügel und des Kleinhirns. Arch. f. Psych. XXVI. — ,7 ) H. Oppenheim. Hirn-
geschwülste. Nothnagel’s Spec. Path. und Therap. Wien 1895. — 18 ) Flechsig, Gehirn und
Puls. Leipzig 1896. — ,ö ) L. Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems. Berlin 1897. —
*°) L. Brun8> Ueber einige besonders schwierige und praktisch wichtige differentialdiagno¬
stische Fragen in Bezug auf die Localisation der Hirntumoren. Wiener klin. Rundschau. 1897 —
ai ) Rudolf Schmidt, Zur genauen Diagnose der Kleinhirntumoren. Wiener klin. Wochenschr.
1898, Nr. 51. — 22 ) Macewen, Die infectiös eiterigen Erkrankungen des Gehirns und Rücken¬
marks. Deutsch von Rudloff. Wiesbaden 1898. — 23 ) H. Oppenheim, Die Encephalitis und
der Hirnabscess. Nothnagel’s Spec. Path. und Therap. Wien 1897. — 24 ) v. Monakow, Ge¬
hirnpathologie. Ebenda. Wien 1897. — * 6 ) Adler, Die Symptomatologie der Kleinhirncrkran-
kungen. Wiesbaden 1899. — ae ) Neubörger und Edinger, Einseitiger, fast totaler Mangel
des Kleinhirns. Berliner klin. Wochenschr. 1898, Nr. 4. — * 7 ) Nonne, Ueber eine eigenthiim-
liche familiäre Erkrankung des Centralnervensystems. Arch. f. Psych. XXV, pag. 282. —
Menzel, Beitrag zur hereditären Ataxie und zur Kleinhirnatrophie. Ebenda, pag. 160.
L. Bruns.
Kohlenoxydvergiflang. Als neue Gelegenheitsursache zu
Kohlenoxydvergiftungen verdienen die Gasbadeöfen genannt zu werden,
welche, wenn sie, wie leider häufig geschieht, mit keinem Ableitungsrohr
versehen sind, der Badezimmerluft soviel Kohlensäure und Kohlenoxyd zu¬
führen, dass dadurch nicht blos schwere, sondern geradezu letale Intoxica-
tionen entstehen. In Hamburg sind mehrere derartige, darunter auch zwei
tödliche Vergiftungen vorgekommen. In einem Baderaum, wo zwei günstig
verlaufene Fälle vorkamen, stieg der Kohlensäuregehalt der Luft bei
halbstündiger Heizung von 0,75 auf 9,79 pro Mille, und in dem Blute
von zwei in dieser Zeit darin zugrunde gegangenen Mäusen wurde CO
spectroskopisch nachgewiesen. Auch in zwei Leichen in einem anderen
Baderaume Verunglückter war das Blut CO-haltig. Sehr namhafte Mengen CO
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2:; 4 Kohlenoxyd Vergiftung.
treten namentlich abends bei verstärktem Drucke in den Verbrennungs¬
gasen auf. x )
Dass der Grad der Sättigung: des Hämoglobins bei tö *
Kohlenoxyd Vergiftung unter gleichen Verhältnissen sehr variiren kann,
lehren Untersuchungen von Smith 2 ), der mittels der Karminprobe bei
vier Vergifteten, welche durch ein Gemenge von Kohlengas (mit 6% CO)
mit 40°/ 0 Wassergas (mit lb% CO) zugrunde gegangen waren, 57, *59,5, 76.tf
und 83° o des Hämoglobins gesättigt fand. Ganz abweichend davon betrug
die Sättigung nur 5% in einem Falle, bei welchem mehrstündige künstliche
Athmung vorgenommen war und der Tod nach 3 Tagen erfolgte. 2 )
Die strittige Frage, ob das in den Körper gelangte Kohlenoxyd wieder
vollständig als solches eliminirt werde oder theilweiser Destruction unter¬
liege, ist neuerdings von Wa< hholtz 3 ) in letzterem Sinne beantwortet worden.
Bringt man kleine Thiere, und zwar nicht blos Wirbelthiere, sondern auch
z. B. Mehlwürmer, in ein Gemenge von Sauerstoff und Kohlenoxyd, die erheb¬
liche toxische Wirkung nicht haben, so sollen grössere oder geringere Mengen
CO aus dem Gemische verschwinden. Auf alle Fälle spielt aber diese ver¬
meintliche Verbrennung bei der Wiederherstellung von der Kohlenoxyd Ver¬
giftung eine ganz unbedeutende Rolle gegenüber der Ausathmung des Kohlen¬
oxydgases, und namentlich bei kleinen Thieren ist die Erholung eine so rasche,
dass wir sie nicht auf einen Oxydationsprocess im Thierkörper zurück¬
führen können.
Bei dem bei Kohlenoxydvergiftung auftretenden Diabetes entsteht der
im Harn auftretende Zucker nicht aus den Kohlehydraten der Nahrung, da
selbst bei reiner Kohlehydratfütterung Zucker im Harn fehlen kann, stammt
vielmehr aus dem Eiweiss, und zwar sowohl aus dem Nahrungseiweiss als
aus dem Körpereiweiss. Bei hochgradiger Eiweissverarmung bleibt der Zucker¬
harn aus. 4 ) Giebt man durch Hungern oder Verabreichen eiweissarmer Kost
immun gemachten Hunden Pankreaspepton, so tritt kein Zucker im Harn
auf, wohl aber bei Fütterung mit den in Alkohol löslichen Bestandteilen der
bei Pankreasverdauung aus reinem Fibrin entstehenden Producte . b ) Hierbei
sind die basischen Producte (Diamidokörper) nicht betheiligt, welche aber
die im normalen Harn vorhandenen reducirenden Substanzen (vielleicht Krea¬
tinin) einnehmen. Leucin ist ebenfalls unbeteiligt. Dagegen tritt nach den
sauren Bestandtheilen des Alkoholextracts Zucker im Harn auf. 6 )
Zum gerichtlich-chemischen Nachweise des Kohlenoxyds im
Blute kann man nach Iusrx 7 ) auch die reducirende Wirkung des Trauben¬
zuckers auf Sauerstoffhämoglobin benutzen. Mit Alkali versetztes gewöhnliches
Blut wird dadurch dunkelschwarzroth, wogegen Kohlenoxydblut intensiv kirsch¬
rot erscheint. Der Farbenunterschied erscheint sehr ausgeprägt in 4 bis
5 Stunden und ist noch nach mehreren Wochen deutlich. Selbst Mischungen
von CO-Blut mit gewöhnlichem Blute im Verhältnisse von 12—16°/ 0 sind
durch diese Reaction zu unterscheiden. Der Tanninprobe steht dieses Verfahren
allerdings an Empfindlichkeit nach.
Zum Nachweise von CO in Luftgemengen ist nach Gautier und
Drei.os 7 ) die empfindlichste Reaction die Oxydation zu Kohlensäure und
das Freiwerden von Jod beim Leiten der CO-haltigen Luft über Jods&ure-
anhydrid bei 100 —150°. Man kann selbst in Gemengen von Vsoooo CO durch
colorimetrischen Nachweis des Jods die Gegenwart des Kohlenoxyds dar*
thun. Wasserstoff und Methan reduciren Jodsäureanhydrid nicht. Gautiek
hat mittels dieser Reaction CO in den normalen Blutgasen und nach Chloro¬
forminhalation dargethan.
Zur Unterscheidung von Leuchtgas- und Kohlendunstvergif-
tung kann der Umstand dienen, dass bei Leuchtgasvergiftung im Blute
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Kohlenoxydvergiftung. — Kohlensäurebäder.
235
constant Kohlenwasserstoffe vorhanden sind, die im Blute mit Kohlendunst
Vergifteter fehlen. Die an sich schwer charakterisirbaren Kohlenwasserstoffe
können durch den elektrischen Funken in Acetylen übergeführt werden, das
in geringen Spuren mit Hilfe von ammoniakalischem Kupferchlorür nachzu¬
weisen ist (Goncalvez Cruz 9 ).
Literatur: l ) Schaefrr, Kohlenoxydgasvergiftung durch einen Gasbadeofen. Viertel¬
jahrschrift f. gerichtl. Med. 1899, pag. 122; Wahnkau, Kohlenoxydvergiftungen durch Gasbade¬
ofen. Ebenda, pag. 314. — *) Smith, The patholosry of gas poisoning, illustrated by fivo
recent cases. Brit. med. Journ. 1. April 1899, pag. 780. — s ) Waciiholtz, Ueber das Schicksal
des Kohlenoxyds im Thierkörper. Königsberg 1898. — 4 ) Straub, Ueber die Bedingungen
des Auftretens der Glykosurie nach Kohlenoxydvergiftungen. Arch. f. experim. Pathol. 1897,
XXXVIII, pag. 139. — 6 ) Rosenstein, Ueber den Einfluss der Nahrung auf die Zuckeraus¬
scheidung bei der Kohlenoxyd Vergiftung. Ebenda. 1898, XL, pag. 363. — 6 ) v. Vämossy, Bei¬
trage zur Kenntniss des Kohlenoxydblutes. Ebenda. 1898, XLI, pag. 273. — 7 ) Ipskn, Ueber
eine Methode znm chemischen Nachweise von Kohlenoxydblut. Vierteljahrschrift f. gerichtl.
Med. 1899, XVIII, pag. 46. — ö ) Nicloux, Dosage chimique de petites quantit^s d’oxyde de
carbone. Dosage de l’oxyde de carbone du sang normal; formation de petites quantitös dans
le sang lors de Uanesthesie par le chloroforme. Journ. of Physiol. 1899, XXIX, Supplement,
pag. 28. — y ) Gonc; alvez Cruz , Etudes sur la recherche de rempoisonnement par le gaz
d'eclairage. Annal. d’Hyg. 1898, XXXIX, pag. 385. Husrmann.
Kohlensäurebäder, s. Bad, pa<j. 56.
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Largill, s. Augenheilmittel, pag. 45.
Laugen Vergiftung« Zu den Vergiftungen, die in der zweiten
Hälfte des 10. Jahrhunderts erhebliche Zunahme erfahren haben, geliert die
Vergiftung mit Aetzlauge, die in einzelnen Gegenden namentlich für die
Intoxication im kindlichen Lebensalter ganz besondere Bedeutung erlangt
hat. Insbesonders sind es Oesterreich, Norwegen und Schweden, und in diesen
Staaten ihre Hauptstädte, in denen diese Vergiftungsart grosse Ausdehnung
gewonnen.
In Wien gab sie Fchon 1862 zu einer Verordnung Veranlassung, in welcher die so¬
genannte Laugenessenz und die Aetzkalilangen von einem höheren specifisehen Gewicht als
1,02 für Gifte erklärt werden, welche nur »von den Erzeugern und den zum Giftliandel be¬
rechtigten Personen unter Beobachtung der bezüglichen Vorschriften verkauft werden dürfen,
vom Kleinhandel aber gänzlich ausgeschlossen bleiben«.
Die Verordnung entsprang einer in den Jahren 18dl und 18G2 stattgehabten Erhöhung
der Vergiftungsfälle, die ihrtn Ausdruck in einer von Alois Keller 1 ) gegebenen Zusammen¬
stellung der Beobachtungen des öffentlichen Kinderkrankeninstituts zu Mariahilf findet, wo¬
nach die Zihl der mit Aetzlauge vergifteten Kinder von 1857—1860 nicht über 6 im Jahre
betrug, 1861 auf 8 und vom Januar bis September 1862 auf 16 stieg. Dass die Verordnung
in Bezug auf Aetzlauge in Wien nicht zu der Beseitigung der Vergiftungen führte, vielmehr
im Gegentheilc noch weitere Zunahme stattfand, lehren namentlich die classischen Arbeiten
von Hacker -) über Aetzstricturen, in denen sieh auch statistische Daten für Wien über die
Actzlaugenvergiftung im allgemeinen finden. Nach Hacker kamen in den Jahren 1876 —1885
in den drei grössten Krankenhäusern Wiens (Allgem. Krankenhaus, Wieden, Kudolfstiftuugi
477 Vergiftungen mit ätzenden Substanzen vor, wovon 388 Fälle Intoxicationen mit Aetz¬
lauge betreffen, somit fast 70%, während die nächst der Aetzlauge am häufigsten zu Ver¬
giftung führende Schwefelsäure mit 84 Todesfällen nur 17° 0 beträgt. Auch bei den in den
Jahren 1877—1886 im Institut für gerichtliche Medicin gemachten Obductionen au frischen
Verätzungen zugrunde gegangener Individuen ergab sich für Wien starkes, wenn auch nicht
ganz so bedeutendes Uebcrwiegen der Aetzlaugenvergiftung, die unter 52 Fällen 30mal
(Schwefelsäurevergiftung nur 15uial) constatirt wurde. Diese Zahlen contrastiren ausserordent¬
lich mit den Verhältnissen der Aetzvergiftung in Berlin, wo nach Lesser 3 ) in den 3 Jahren
1876—1878 in sämmtlichen grossen Krankenhäusern und auch im Institute für gerichtliche
Medicin nur 8 Fälle von Laugenvergiftungen (neben 114 durch Säuren) vorkamen.
Dass in Deutschland, England und Frankreich Aetzlaugenvergiftung ein recht seltenes
Vorkomnmiss ist, geht aus der toxikologischen Literatur hervor. Im Gegensätze hierzu geht
die Frequenz der Laugenvergiftung in Ghristiania weit über die Wiener hinaus, indem nach
Johannksskn 4 ) allein auf der pädiati ischen Abtheilung des Reichshospitals in dem sechs¬
jährigen Zeiträume von 1803—1808 nicht weniger als 140 Kinder an der in Rede stehenden
Intoxication behandelt wurden. Allerdings gehören von diesen Fällen nur 119 der norwegi¬
schen Hauptstadt an, doch ist auch diese Zahl (20 Vergiftungen im Jahre auf einer einzigen
Krankenhausabtlieilung) ausserordentlich hoch, wenn man damit die Angaben von Jaksch 5 )
vergleicht, dass auf der NoriiNAGEi/schen Klinik in Wien nur 17 Fälle im Laufe von zehn
Jahren beobachtet wurden. Die »Steigerung der Frequenz datirt übrigens erst seit 1803, wo
sieh die Zahl der an Laugenvergiftung in der piidiatrischen Abtheilung von durchschnittlich
2 Fällen im Jahre 1801 auf 20 steigerte und 1807 sogar auf 27 hinaufging. Noch eminenter
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Laugenvergiftung.
237
tritt diese Zunahme in der Zusammenstellung der in sämmtlichen Krankenhäusern Christianias
seit 1835 behandelten Laugenvergiftungen hervor, indem in den 20iährigen Zeiträumen von
1835 —1854 nur ein einziger Fall und von 1855—1874 zehn, im Decennium 1875—1884 schon
39 und in den vier Jahren von 1885 — 1889 sogar 63 vorkamen, allerdings noch immer sehr
wenig gegen die während der sechs Jahre 1893—1898 in einer einzigen Klinik behandelten
140 Kranken. Auch in Schweden sind neuerdings zahlreiche Laugenvergiftungen vorgekommen,
so dass 1889 Hedlund 6 ) in der Gesellschaft schwedischer Aerzte aus Kronprinzessin Lovisa’s
Pflegeanstalt für kranke Kinder über nicht weniger als 14 durch sogenannte Flora lauge in
Stockholm vergiftete Kinder Mittheilung machen konnte. Auch in Gefle wurden gleichzeitig
mehrere derartige Intoxicationen beobachtet.
Die Vergiftungsfälle mit Aetzlauge gehören überwiegend zu den acci-
dentellen. Die absichtlichen Vergiftungen sollen in Wien den absichtlichen
Schwefelsäurevergiftungen an Zahl nicht nachstehen (E. v. Hofmann), doch
sind auch diese in Wien wenig zahlreich. Die accidentellen Laugenver¬
giftungen betreffen fast ausschliesslich Kinder, und zwar, wie dies Keller
für Wien und neuerdings Johannessen für Christiania darthat, aus schlecht
situirten Familien, wo die Beaufsichtigung der Kinder unter der Ungunst
der Verhältnisse zu leiden hat. Keller zeigte, dass gerade in den Vorstädten
Wiens, in denen eine dichte, wenig ordnungsliebende Bevölkerung zu Hause
ist, die Laugenvergiftungen am häufigsten waren und nur etwa 1 / 8 der Er¬
krankten Kinder wohlhabender Eltern betraf. Für den Mangel an Aufsicht
als Ursache dieser Intoxication spricht das bei der Statistik mit genügend
grossen Zahlen deutliche Ueberwiegen der Knaben über die Mädchen.
In Wien hatte Hacker unter 30 Obducirten 22 und unter 29 wegen Stricturen Ope-
rirten 19 Knaben auf 8, respective 10 Mädchen, in Christiania stellt sich das Verhältniss
wie 83 :57. Besonders auffällig ist die Prävalenz der Knaben in den Jahren, wo diese
notorisch sich der elterlichen Obhut mehr entziehen als die Mädchen, nach dem 4. Lebens¬
jahre. Von den Kranken aus Johannessen’s Abtheilung kommen in den ersten vier Lebens¬
jahren 59 Knaben auf 48 Mädchen und vom 7.—13. Lebensjahre 28 Knaben auf 7 Mädchen.
In Bezug auf die Mortalität der Laugenvergiftung wissen wir Genaues
nur über die unmittelbare tödliche Intoxication. In der neuesten Statistik
aus Norwegen waren unter 140 Fällen nur 6 in den ersten 10 Tagen als
Folge der Intoxicatio alcalina tödlich, woran sich weitere Todesfälle durch
Hämorrhagie, Bronchopneumonie, Empyem u. s. w. schliessen, so dass sich die
Gesammtsterblichkeit auf 12 oder 8,6% stellt. Keller berechnete für Wien
14,3, Hacker 26,3% (88 Todesfälle unter 333 Vergifteten). Auf alle Fälle
ist die Prognose der Laugenvergiftung quoad vitam weniger gefährlich als
die Schwefelsäurevergiftung und die aus der Statistik der Wiener Kranken¬
häuser von Hacker gezogene Schlussfolgerung, dass die Schwefelsäure doppelt
so gefährlich wie die Lauge sei, da die Hälfte der Schwefelsäureintoxica-
tionen und nur 1 / 4 der Laugenvergiftungen tödlich verlaufe, scheint wohl
berechtigt zu sein. Dagegen ist nach den Ausführungen Hackers das Auf¬
treten von Stricturen bei den an acuter Aetzlaugenvergiftung nicht zugrunde
Gegangenen doppelt so häufig wie bei denen, welche eine Schwefelsäureintoxi-
cation überstanden haben (38,4 gegen 16,4), was übrigens seinen Grund
darin hat, dass nach Lauge auch durch grosse Mengen bewirkte Vergif¬
tungen überstanden werden, was beim Sulfoxysmus nicht der Fall ist. Zu
der unmittelbar aus der Vergiftung resultirenden Zahl der Todesfälle kommt
immer noch eine Anzahl von Todesfällen infolge der später entstehenden
Stricturen hinzu. Eine Statistik von Hacker (47 Todesfälle unter 100 Fällen)
wird von ihm selbst als zu hoch bezeichnet, weil sich die betreffende Samm¬
lung nur auf schwere Stricturen, darunter viele nach Selbstmordversuchen,
bezieht. Dieser Mortalität steht die von Keller bei zufälliger Vergiftung
(11,42%) gegenüber; Johannessen hat nur einen Todesfall (infolge Gastro¬
stomie), welcher der Strictur zur Last fällt. Jedenfalls ist die von den meisten
Toxikologen angegebene Zahl für die Mortalität der Laugenvergiftung über¬
haupt (60—80%) zu hoch. Für den Einzelfall hängt übrigens der tödliche
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238
Laugenvergiftung.
Verlauf entschieden mehr von der Concentration der Lauge als von deren
Menge ab, da in der Regel ja nur ein Schluck genommen und auch dieser
zum Theil wieder ausgespien wird. Schon Keller machte darauf aufmerk¬
sam, dass für das Zustandekommen der Strictur sogar kleine Mengen ge¬
fährlicher sind als grosse, da erstere langsam von der Speiseröhrenwand
abfliessen und somit längere Zeit auf die Schleimhaut ätzend einwirken
können. Die Frage, ob Kalilauge oder Aetznatronlauge als giftiger anzusehen
sei, ist nach der experimentell festgestellten grösseren Giftigkeit der Kali¬
verbindungen von den meisten Toxikologen bejahend beantwortet. Aus dem
bisher vorliegenden statistischen Material über Laugenvergiftungen lässt sie
sich nicht beantworten. Die von Keller berechnete Mortalität von 14.3%
bezieht sich auf Kalilauge oder richtiger um Gemenge von Kalihydrat und
(Kaliumcarbonat, die HACKER'sche (26,3%) auf Natronlauge, die Norwegische
8,6%) ebenfalls auf Natronlauge. Kein irgendwie erheblicher Unterschied in
Bezug auf die Mortalität und die Zeitdauer der acuten Vergiftung scheint
für concentrirte Lösungen von Kaliumhydroxyd oder Kaliumcarbonat oder
für Gemenge beider zu bestehen. Man hat deshalb auch von jeher die Ver¬
giftung mit concentrirten Lösungen von Kalihydrat und Kaliumcarbonat als
Laugenvergiftungen zusammengefasst. Der Fall, in welchem der Tod am
frühesten (in drei Stunden) erfolgte, ist die bei Taylor 7 ) mitgetheilte In-
toxication eines Knaben durch 3 Unzen einer Kaliumcarbonatlösung.
Dass die AetzlaugenVergiftung in der Symptomatologie im wesent¬
lichen mit der Vergiftung durch ätzende Säuren übereinstimmt, ist auch
durch die neueren Beobachtungen bestätigt. Abweichend ist dagegen der
Sectionsbefund, insoferne die durch Vergiftung mit concentrirter Aetzlauge
erzeugten Schorfe sich durch weiche seifenartige Beschaffenheit und Trans¬
parenz charakterisiren. Indes ist auch wiederholt das Vorkommen trockener,
trüber, bräunlicher Schorfe constatirt, die nach Strassmann auf Wiederaus¬
füllung der gelösten Eiweissverbindungen infolge abnehmender Alkalescenz,
besonders bei antidotarischer Verwendung von Säuren, zurückzuführen sind.
Aber auch weniger concentrirte Alkalilösungen scheinen imstande zu sein,
primär derartige trübe Schorfe zu erzeugen. Lesser 8 ) fand sie bei Thieren,
denen 10% Cyankaliumlösung und 20% Kaliumcarbonatlösung in den Magen
eingeführt worden war.
In forensischen Fällen schlägt der chemische Nachweis eingeführten
kaustischen Alkalis in manchen Fällen fehl, weil ein Theil der eingeführten
Lauge durch Erbrechen fortgeschafft und ein anderer durch die Darreichung
von Säuren neutralisirt wird. Bei drei von Lesser obducirten Kindern, die
nach nicht beträchtlichen Mengen von Natronlauge in 14, 20 und 60 Stunden
zugrunde gegangen w r aren, ergaben sich bei der von B. Fischer ausgeführten
Analyse weder im Tractus noch in entfernten Organen Mengen von Natrium¬
chlorid, die für Vergiftung hätten sprechen können; auch das Verhältniss
von Kalium- und Natriumchlorid entsprach der Norm.
Die ausserordentliche Zunahme der Vergiftungen durch Aetzlauge liegt
in der allgemeinen Verbreitung in Materialwaarenläden käuflicher Alkali¬
hydratlösungen, zuerst von Kalihydratlösungen, dann den billigeren Natron¬
hydratlösungen, welche jetzt fast ausschliesslich toxikologisches Interesse
besitzen, und in der in manchen Städten ganz allgemeinen Verwendung dieser
käuflichen Laugen zu Waschzwecken an Stelle der früher üblichen selbst¬
bereiteten Lauge aus Holzasche, deren Bereitung seit der Verallgemeinerung
der Steinkohlenfeuerung kaum noch möglich erscheint. Nur in den von Keller
besprochenen älteren Wiener Fällen handelte es sich um Aetzkalilauge. und
zwar um zwei Producte, von denen nach einer Analyse von Endlicher das eine
24—25% Kalihydrat und etw r a 3%% Kaliumcarbonat enthielt, das andere
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Laugenvergiftung. — Laurotetanin.
239
eine von den Detaillisten in beliebiger Menge mit Wasser ausgeführte Ver¬
dünnung der Laugenessenz darstellte, eine Probe nur 1,6% kaustisches Kali
neben 1,3% kohlensaures Kali enthielt Die in Schweden und Norwegen zu
Vergiftung führenden Producte sind Natronlaugen; in Schweden ausser der
in besonderen Gefässen verkäuflichen, sogenannten Floralauge, die zu Wasch¬
zwecken mit der zehnfachen Menge Wasser verdünnt werden sollte und 18 bis
25% Natrium hydricum enthält, wovon noch eine 10%ige »Phönixwaschlauge«,
die in den Kramläden in beliebige Gefässe ausgemessen dispensirt wurde, in
Christiania 10—14%ige, in vier verschiedenen Fabriken hergestellte Wasch¬
lauge. Unzweifelhaft ist die letzte Art von Lauge die gefährlichste von allen,
insofeme die Gefässe, in denen sie geholt wird, oft genug solche sind, in
denen sonst zum Trinken bestimmte Flüssigkeiten auf bewahrt werden, Wasser¬
gläser, Mineralwasserflaschen u. dergl. und die darin enthaltene Lauge durch
ihre Färb- und Geruchlosigkeit recht wohl eine geniessbare Flüssigkeit Vor¬
täuschen kann. Man hat deshalb in Norwegen 1890 bereits eine Verfügung
erlassen, dass Kali- oder Natronlauge von Fabrikanten oder Ausverkäufern
auf Bier-, Wein-, Punsch- oder Mineralwasserflaschen nicht ausgeliefert wer¬
den darf, und dass die Flaschen oder Gefässe, worin die Lauge verabreicht
wird, mit aufgekleisterten, sogleich in die Augen fallenden Etiketten, die
mit grossen, deutlichen und leserlichen Buchstaben die Worte »Lauge. Vor¬
sichtig« enthalten, versehen sein müssen. Die Uebertretung dieser Verord¬
nung wird mit Geldbusse von 2—1000 Kronen bestraft. Wie a priori zu
erwarten stand, da ja vorwaltend Kinder, welche nicht lesen können, be¬
troffen werden (unter 136 der in der Kinderabtheilung des Christiania-
Hospitals behandelten 140 Kinder, deren Alter bekannt ist, waren nur neun
über 6 Jahre alt!), hat diese Verordnung keine Abhilfe geschafft, ja 46 der
Vergiftungen nach 1890 sind durch Trinken aus den von der Regierung als
zweckmässig erachteten % und % Liter-Flaschen, von der Form grosser
Medicingläser entstanden. Man wird daher, wenn man nicht in Bezug auf
die Laugenflaschen nach einem in Norwegen gemachten Vorschläge verfügen
will, deren Hals mit einem stachelichten Stahldrahte rund herum zu ver¬
sehen, entweder den Verkauf von Natriumhydratlösung ganz untersagen und
dadurch die Haushaltungen zwingen, sich erforderlichen Falles zur Wäsche
die nöthige Quantität Lauge aus Natron (Soda) zu bereiten, das als solches
erfahrungsgemäss nur ganz selten zu zufälligen Vergiftungen führt, oder aber
nur den Verkauf so schwacher Laugen zu gestatten, dass diese keine schäd¬
liche Wirkung auf die Schleimhäute ausüben. Nach Versuchen von Poulssex
dürften solche nicht mehr als %% Natriumhydrat enthalten. Zusatz von
stark riechenden Stoffen, z. B. Petroläther, wie dies in Schweden vorge¬
schlagen wurde, dürften als Parfüm für die Wäsche nicht gerade eine an¬
genehme Zugabe sein.
Literatur: *) Keller, Ueber Oesophagostenosen. Oesterr. Zeitschr. f. prakt. Heilk.
1862, Nr. 45, 46. — a ) Hacker, Zur Statistik und Prognose der Verätzungen des Oesophagus
und der im Gefolge derselben entstehenden Stricturen. Langknbbck’s Archiv. 1893, XLV,
pag. 605. — 3 ) Lesser, Die anatomischen Veränderungen des Verdauungscanals durch Aetz-
gifte. Virchow’s Archiv. 1881, LXXXI1I, pag. 197. — 4 ) Johannkssen, Om Ludforgiftning
hos born. Norsk Mag. 1899, Nr. 7, pag. 851. — 5 ) Jaksch, Die Vergiftungen, pag. 59. —
6 ) Hkdlund, Förgiftning med z. k. floralut. Svenska Läk: Förhandl. 1889, pag. 80. —
7 ) Taylor, On poisons. 1859, pag. 295. — 8 ) Lesser, Ueber die Vertheilung einiger Gifte
im menschlichen Körper. 12. Zur Lehre von der Vergiftung mit Natriumlauge und der mit
Ammoniak. Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1898, XVI, pag. 13. — Vergl. Virchow’s
J ahresbericht für 1890, I, pag. 670. Husemann.
Laurotetanin« In England kamen 1895 falsche Cubeben in den
Handel, welche sich durch Citronengeruch auszeichneten und giftig wirkten.
Man leitete sie anfangs von Daphnidium Cubeba ab, doch erkannte später
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•240
Laurotetanin. — Localanästhesie.
Halm, dass es sich um die Früchte der Lauracee, Tetrenthera citrata
(Litsaea citrata Bl., Tetranthera polyantha Bl.) handle. Als das active
Princip ist das 1895 von Greshof in verschiedenen Lauraceen aufgefundene,
auf Frösche tetanisirend wirkende Alkaloid Laurotetanin anzusehen, welches
Filippo in der Rinde der auf Java unter dem Namen Krangean, Ki-djeruk
und Lemon bekannten Pflanze isolirte.
Literatur: Filippo, Laurotetanin, das Alkaloid von Tetranthera citrata Nee». Leiden
1898. Jlusemann.
Leucaena. Die in Süd- und Centralamerika einheimische, besonders
auf den Bahama-Inseln und auf Jamaica wachsende Mimose Leucaena
glauca soll in ihren Blättern, Hülsen und Samen ein eigentümlich wirken¬
des Princip besitzen. Bei Fütterung mit jenen tritt bei Nichtwiederkäuern
starker Haarausfall ein, so dass Pferde, Maulthiere und Esel ihre Mähnen
und Schweifhaare und Schweine danach ihre sämmtlichen Borsten verlieren.
Die Haare w achsen bei Beseitigung der Nahrung wieder. Wiederkäuer w r erden
dadurch nicht afficirt. Inwieweit es sich bei dieser Wirkung um ein giftiges
Princip oder um Inanitionserscheinungen infolge des Umstandes handelt, dass
die nichtwiederkäuenden Thiere die fraglichen Pflanzentheile nicht verdauen,
während sie in dem complicirten Verdauungsapparate der Wiederkäuer in
eine zur Resorption geeignete Form gebracht w r erden, wäre zu untersuchen.
Dass manche Gifte wirklich zu Haarausfall Veranlassung geben können, ist
übrigens neuerdings bei arzneilicher Verwendung von Thalliumpräparaten
(s. Thallium) constatirt.
Literatur: Morris, Jonrn. of compar. med. and veterin. Nov. 1897. Husemann
Leuchtgasvergiftung, s. Kohlenoxydvergiftung, pag.
Lichtbäder (Lichtschwitzbäder), s. Hydrotherapie, pag. 190.
Localanästhesie, s. Infiltrationsanästhesie, pag. 204.
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Magen« (Diagnostisches und Therapeutisches.) Nehmen wir diejenigen
Arbeiten vorweg, welche wichtige physiologische, den Magen betreffende
Fragen berücksichtigen und nur indirect diagnostisch klinische Gesichts¬
punkte berühren, so scheint mir eine Untersuchung von v. Mering l ) über
die resorptive Thätigkeit des Magens an erster Stelle Hervorhebung zu ver¬
dienen. Die Frage: Wie prüfen wir am zweckmässigsten die resorp¬
tive Function des Magens? hat ja die Kliniker schon lange beschäftigt
und die zu diesem Zwecke angegebene Jodprobe hat sich ja vielfach ein¬
gebürgert. Mering beweist nun ein wandsfrei, dass der Magen überhaupt
nicht Jodsalze zu absorbiren imstande ist, womit die Methode hinfällig
wird. Dagegen ist es unzweifelhaft, dass Alkohol und Zucker resorbirt
werden. Wollte man nun die Resorption prüfen, so musste man die Auf¬
saugungsfähigkeit für einen dieser beiden Körper feststellen. Mering wählte
den Zucker und gab ihn in Verbindung mit Oel als Emulsion; Fette werden
nicht aufgesogen, jede Veränderung der Mengenverhältnisse von Oel zu Zucker
in dieser Emulsion konnte als Indicator für den Grad der Resorption dienen.
Das grundlegende Ergebniss mit dieser Methode angestellter einschlägiger
Versuche war nun, dass bezüglich des Resorptionsvermögens bei
Gesunden und Kranken kein nennenswerther Unterschied be¬
steht. Die Prüfung der resorptiven Function hat also keine wesentliche
diagnostische Bedeutung. Eine weitere hierhergehörige Untersuchung von
Roth und Strauss 3 ) betrifft den Mechanismus der Resorption und
Secretion im menschlichen Magen. Es bestehen hier sehr complicirte Ver¬
hältnisse, welche auf das Ineinandergreifen dreier verschiedener Processe
zurückgeführt werden müssen. Erstens constatirt man einen Diffusions¬
austausch zwischen Blut und Mageninhalt, welcher die osmotische
Gesammtspannung und die partiale Zusammensetzung des Mageninhalts mit
derjenigen des Blutes auszugleichen bestrebt ist. Zweitens spielt eine Ver-
dünnungssecretion der Magendrüsen eine Rolle, welche die osmotische
Spannung des Mageninhalts auch den physikalischen Triebkräften gegenüber
herabzusetzen trachtet. Drittens kommt die specifische Secretion von
Salzsäure und Fermenten in Betracht. Befindet sich nun im Magen eine
hypertonische Lösung, d. h. eine solche von höherer Gesammtspannung als
die des Blutserums, so wird dieselbe durch die Verdünnungssecretion und
durch die Diffusion verdünnt. Bei isotonischen Lösungen führt der Diffusions¬
austausch zu einem annähernden Austausch der partiären Spannungen an
einzelnen Lösungsbestandtheilen mit dem Blutserum, es kommt schliesslich
eine Verdünnung zustande, da die Tendenz besteht, die moleculäre Concen-
tration des Mageninhalts unter diejenige des Blutes zu bringen. Bei hypo-
Encyclop. Jahrbücher, IX.
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Magen.
tonischen Lösungen kann eine weitere Verdünnung sich einstellen durch
starke Wirkung der Verdünnungssecretion, doch kann auch durch Ueber-
handnehmen der specifischen Secretion die moleculäre Gesammtconcentration
der Lösung ansteigen. Dem destillirten Wasser gegenüber gebietet die Magen¬
wand Halt durch Diffusion aus dem Blute und durch specifische Secretion
erhält das destillirte Wasser eine geringere osmotische Spannung. Das
nüchterne Secret veranschaulicht die Verdünnungssecretion, das Probefrüh¬
stück fällt ebenfalls der Verdünnungssecretion anheim, wenn auch hier die
anderen Factoren mitwirken. Bei völligem Versiegen der Saftsecretion kann
durch Verdünnungssecretion noch recht gut eine Herabsetzung der molecu-
lären Concentration erzeugt werden. Da der Magen die ausgesprochene Ten¬
denz hat, eine möglichst niedrige moleculäre Concentration seines Inhaltes
zu erreichen, so kann es eine Erleichterung für den Magen bedeuten, wenn
wir zu fester Nahrung Flüssigkeit zuführen.
Speciell die Magensecretion wird von v. Mering *) in einer Studie
zum Gegenstand der Betrachtung und des Versuches gemacht. Weder vom
Vagus noch vom Plexus coeliacus aus konnte nachgewiesen werden, dass
sie einen directen Einfluss auf die wichtigsten Functionen des Magens aus¬
üben, d. h. also auf die Resorption, bei der rein physikalische Gesetze mass¬
gebend sind, oder auf die Motilität oder die Secretion. Es ist vielmehr
anzunehmen, dass diese beiden letzten Functionen regulirt werden durch
automatische Centren innerhalb der Magenwand, die hinwiederum
in einer gewissen Abhängigkeit vom Centralnervensystem stehen. Ueber die
Beeinflussung der Secretion durch Medicamente auf Grund von Experi¬
menten berichtet Riegel. 4 ) Secretionshemmend wirkt das Atropin, beför¬
dernd das Pilocarpin. Derselbe Autor 6 ) theilt auch noch andere Beob¬
achtungen über die secretorische Kraft des Magens mit, die von Interesse
sind. Erstens fand er in einer Anzahl von Fällen nach Probefrühstück stets
eine mehr oder minder grosse Menge freier Salzsäure, die nach Probe¬
mittagsmahlzeit dauernd vermisst wurde, ein Beweis, dass es Mägen giebt,
die der relativ geringen Anforderung an ihre Leistungsfähigkeit, die die Be
wältigung eines Probefrühstücks darstellt, gewachsen sind, die aber der
grösseren Aufgabe gegenüber sich insufficient erweisen. Sehr eigenartig ist
dann die Beobachtung, die bei einem Koch gemacht wurde, bei dem das
reizlose Probefrühstück gar keine Secrection hervorrief, während das stärker
reizende Mittagsmahl eine befriedigende secretorische Leistung provocirte.
Bei diesem Patienten war also diejenige Secretion überhaupt fortgefallen,
welche, wie wir durch die Untersuchungen von Pawlow u. a. wissen, durch
die Appetitvorstellung und den Kauact ausgelöst wird. Es reagirte der über¬
reizte Magen dieses Patienten nur noch auf intensive Nahrangsreize. Dass
die Absonderung von Salzsäure und Pepsin im Magen besser vor sich geht,
wenn die Ingesta den Mund passirt haben und mit Speichel gemischt sind,
als wenn sie mittels der Sonde eingegossen werden, erweisen von neuem
einschlägige Versuche Schüle’s. 6 ) Ausserdem macht dieser Autor darauf
aufmerksam, dass die diastatische Kraft des gemischten Mundsecretes vom
Morgen bis zum Mittag ansteigt, um nach einem zwischen 11 und 3 Uhr
erreichten Maximum gegen die Neige des Tages langsam abzunehmen.
G. Kövesi 7 ) theilt eine grössere Reihe von Versuchen mit, welche dar-
thun, dass zwischen der Salzsäure- und der Pepsinausscheidung
kein strenger Parallelismus besteht, und dass im ganzen die Pepsin¬
bildung die dauerhaftere Function ist, wie wir das ja schon aus früheren
Beobachtungen wissen. Den bereits früher gelegentlich discutirten Einfluss
der Menstruation auf die Thätigkeit des Magens studirte Elsner. 8 )
Er findet, dass die Acidität zunimmt mit der Stärke der Blutung, dass aber
starke Menorrhagien die Secretionsgrösse herabsetzen, ein Einfluss auf die
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Magen.
243
Motilität besteht überhaupt nicht. Sehr bemerkenswerth ist die Einwirkung,
die das künstliche Schwitzen auf die Magensaftsecretion hat, nämlich
einen wesentlich herabsetzenden. Sowohl die Gesammtacidität als die Menge
der freien Säure nehmen in beträchtlicher Weise ab, eine Veränderung, die
Simon 9 ) auch durch Pilocarpin hervorzurufen vermochte. Letzterer Befund
steht im Gegensatz zu dem oben erwähnten, von Riegbl erhobenen. Endlich
können wir zusammenfassend hier wohl die Resultate von Versuchen Trol-
lers 10 ) anscbliessen, der die Reize, welche die Drüsen zur Secretion ver¬
anlassen , in directe und indirecte eintheilt. Die indirecten zerfallen in
chemisch-physikalisch und physiologisch wirkende, die directen in secretions-
anregende und -hemmende; zu letzteren gehört z. B. der Zucker. Der ganze
Verdauungsact lässt sich in zwei Secretionsperioden, in eine reflectorische
und eine directe sondern. Endlich sei noch erwähnt, dass Troller eine Reihe
von gewichtigen Gründen gegen die Anwendung einer Lösung von Liebig-
schem Fleischextract als Probemahlzeit, wie es Talma vorgeschlagen hat,
vorbringt, vor allen Dingen muss betont werden, dass diese Lösung keinen
wirklichen specifischen Reiz darstellt, um eine Secretion anzuregen.
Ueber eine neue Methode zur klinischen Functionsprüfung
des Magens und deren physiologische Ergebnisse berichtet Pfaundler. n )
Auf Einzelheiten des Verfahrens kann hier nicht eingegangen werden; das¬
selbe ist ziemlich umständlich, da festgestellt werden soll die Menge des
in verschiedenen Verdauungsperioden secernirten Saftes, die
Zeitdauer der Secretion, der Säuregehalt, das Volumen der In¬
haltsmasse. Ich erwähne, dass bei normalen Mägen Pfaundler eine Normal¬
menge des secernirten Saftes nach Probemittag von 595 Ccm. findet, nach
Probefrühstück 105, die Dauer der Secretion betrug im ersten Fall etwa 4,
im zweiten l 1 /, Stunden. In der ersten halben oder ganzen Stunde nach
Aufnahme der Mahlzeiten wird die grösste Saftmenge ausgeschieden, dann
folgt stetige Verminderung der Secretion, Anwesenheit von Gährungsmilch-
säure kommt auch im normalen Magen beim Probemittagbrot zur Beob¬
achtung. Der saure Mageninhalt wird gegen Ende der Verdauung durch
ein in das Antrum pyloricum ergossenes alkalisches Secret all¬
mählich neutralisirt. Bei Hyperacidität wird mehr Saft producirt und
diese Production dauert auch länger als in der Norm. Aber auch die ver¬
spätete Neutralisation des Mageninhaltes spielt bei dieser Anomalie eine
Rolle.
Beiträge zur Diagnostik der Motilitätsstörungen und Ulce-
rationsprocesse des Magens bringt Tuchendler. ll ) Er hält für die Unter¬
suchung der Motilität eine combinirte Verwerthung von drei Methoden:
Bestimmung der Gesammtmenge, Korinthenprobe (nach Strauss) und Gäh-
rungsprobe, für erforderlich. Die Mehrzahl der Fälle, bei welchen man mehr
als 150 Ccm. Inhalt eine Stunde nach dem Probefrühstück findet, sind solche
von Hyperacidität oder Ulcus, andererseits sind die Mehrzahl der Fälle, welche
bei relativ geringem Inhalt Korinthenreste oder Gährung erkennen lassen,
solche, bei welchen eine Unebenheit der Schleimhautfläche diagnosticirt
werden kann (Ulcus oder Carcinom). Die diagnostische Bedeutung des
Eiters präcisirt Strauss 13 ) dahin, dass er seinen Nachweis gerade bei den
Carcinomen ohne Motilitätsstörung für wichtig hält. Man -findet ihn am
ehesten bei der Ausspülung des nüchternen Magens, in gleicher Weise soll
man auch auf Blut fahnden, das auch auf Carcinom hinweist. Endlich ver¬
dienen Beachtung für die Diagnose aller solcher Fälle ohne palpablen pri¬
mären Tumor die Metastasen im Cavum Douglasii und im Mediastinum,
letztere gelegentlich durch das Röntgenverfahren erkennbar. Gelbfärbung
des Mageninhalts durch Kalilauge ist nachBAER 14 ) abhängig von der
Anwesenheit von Kohlehydraten, die Reaction wird durch Erhitzen
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al from
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Magen.
prägnanter (ausgesprochene Citronengelbfärbung). Eine besondere diagnosti¬
sche Bedeutung kommt der Reaction nicht zu.
Mit der physikalischen Diagnostik zur Feststellung von
Grösse, Form und Lage des Magens befasst sich G. Rosenfeld. lö ) Auf
Grund von Untersuchungen an der Leiche betont er, dass die kleine Cur-
vatur von der Kardia an nicht mehr senkrecht nach unten gerichtet ist,
sondern sogar noch häufig nach links ab weicht, und dann im spitzen Winkel
oder im Bogen entweder horizontal vor dem ersten Lendenwirbel vorbei
oder mehr oder weniger nach aufwärts gerichtet ist. Von Dilatationen er¬
wähnt er zwei Formen: eine Dilatation in der Längsrichtung und eine, die
sich mehr in die Breite erstreckt. FQr die Untersuchung des Magens soll
die Methode der bioskopischen Betrachtung der Schrotsonde und
des bis zur Sonde aufgeblasenen Magens ein Mittel darstellen, das
mit sinnfälliger Deutlichkeit die einschlägigen Verhältnisse am Lebenden
zur Anschauung bringt. Dass die Aufblähung des Magens eine Durchleuchtung
und Röntgographie erleichtert, hebt auch Bade le ) hervor.
Unter den physikalischen Untersuchungsmethoden ist es dann die
Magendurchleuchtung, die durch Starck 17 ) noch einmal eingehend be¬
sprochen und in Betreff ihrer diagnostischen Leistung geprüft wird. Wesent¬
lich erscheint ihm, dass man erst den leeren Magen mit einer einfachen
EiNHORN schen Glühlampe durchleuchte und dann die Gestaltveränderungen
desselben bei zunehmender Füllung controlire. Auf diese Weise bekommt
man Aufschluss über die Dehnbarkeit in normalen und pathologischen Zu¬
ständen, über Gastroptose und Gastrektasie. Zur Grenzbestimmung des
ganzen Magens wie seiner Theile scheint ihm die Methode besonders ge¬
eignet Ebenso kann sie bei Magentumoren oder schwierigen topographi¬
schen Verhältnissen des Abdomens von grossem Nutzen sein. Für die Früh¬
diagnose des Pyloruscarcinoms aber leistet sie nichts.
Des weiteren ist dann die Photographie des Mageninnern als brauch¬
bare physikalische Untersuchungsmethode von F. Lange und Mf.ltzing ld )
empfohlen worden. Die ersten Versuche auf diesem schwierigen Gebiete, von
Kuttner angestellt, sind den beiden Autoren anscheinend entgangen, sie
haben übrigens ein praktisches Resultat nicht gehabt. Ob der Apparat von
Lange und Meltzing mehr leisten wird, bleibt abzuwarten; er besteht aus
Kopfstück (mit Beleuchtungskörper, Linse u. s. w.), Schlauch und Camera,
wird in den leeren Magen eingeführt und vermag leicht die Aufnahme von
Bildern in grosser Zahl hinter einander (bis zu 50) zu bewerkstelligen, indem
ein Filmstreifen, der die wechselnden Bilder aufnimmt, ganz allmählich ab¬
gerollt und hinter der Linse vorbeigeführt wird. Weitere Einzelheiten siehe
im Original. Ich glaube nicht, dass auf diesem Wege eine Orientirung über
das Mageninnere möglich ist, die Deutung der Bilder wird immer eine
überaus willkürliche sein.
Endlich ist die Gastroskopie als eine physikalische Methode, die
in jüngster Zeit wieder erhöhtes Interesse erweckt hat, zu erwähnen, sie
ist durch neuere Untersuchungen von Kelling 19 ) gefördert worden. Auf
Grund neuer Erfahrungen und Versuche empfiehlt er zur Anwendung ein
Gastroskop nach dem Princip von Mikulicz, winklig im unteren Drittel ab¬
geknickt. Er hat das Instrument nach der Richtung vervollkommnet, dass
er in der Lage ist, es biegsam einzuführen, was sich dadurch erreichen
lässt, dass der Haupttheil des Apparates aus einem Gliederrohr besteht,
welches vom Knickungswinkel 36 Cm. lang bis zum Kopftheil reicht und
welches nach der Einführung in diesem Theil durch Zug an einem Draht
gestreckt wird. Nun wird der Apparat im Körper um 180° gedreht und der
frei in den Magen hineinragende Schnabel wird durch Andrücken eines Hebels
von aussen her in winklige Stellung gebracht. Auf sonstige constructive
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Magen,
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Einzelheiten will ich hier nicht eingeben. Kelling versichert, dass er mit
diesem complicirten Apparat in der Lage gewesen ist, einwandsfreie Dia¬
gnosen zn stellen. Die Brauchbarkeit eines geraden Gastroskopes, wie ich
es empfohlen habe, giebt er nur für die Fälle zu, wo bei gastroptotischen
Mägen der Pylorus mit nach unten gesunken ist. Das Instrument von Kel¬
ling hat im Verhältnis zu meinem eigenen früher beschriebenen den Nach¬
theil, dass es einen Durchmesser von 14 Mm. hat. Dass die Einführung
Schwierigkeiten ’zu überwinden hat, die in manchen Fällen überhaupt nicht
ausgleichbar sind, giebt Kelling selbst zu, jedenfalls haben die verdienst¬
vollen Bemühungen Kelling' s unsere Kenntnisse auf dem schwierigen Ge¬
biete der Gastroskopie gefördert, auch wenn das letzte Wort zur Lösung
des hier vorliegenden Problems noch nicht gesprochen sein sollte. Auch
Revidzoff 20 j der nach meinem Verfahren mit einer geraden Röhre gastro-
skopirt, verbessert die Methode fortdauernd.
Schliesslich haben wir noch über den Werth der histologischen
Untersuchungsmethode von Schleimhautfetzen, die im Sonden¬
fenster haften geblieben sind, Beurtheilungen zu verzeichnen, die sich auf
eingehendere Prüfungen stützen. Olivetti 11 ) findet, dass die Diagnose ge¬
wisser Magenkrankheiten mit Hilfe des Mikroskopes gesichert werden kann.
Aber die Ergebnisse sind mit grösster Kritik nur zu verwerthen und werden
in ihrer Bedeutung meist überschätzt. Leuk 22 ) kommt im wesentlichen zu
demselben Resultat; er hebt als charakteristisch für die Gastritis mit Hyper¬
acidität den Ersatz des Drüsenkörpers durch gewucherte Grübchenepithelien
hervor; in letzteren kann ein Theil der Cylinderepithelien sich zu Becher¬
zellen umwandeln. Bei der Gastritis mit Hyperacidität ist für die sichere
Erkennung der numerische Nachweis der Belegzellenvermehrung im Fundus
oder das Auftreten echter Fundusdrüsen im Pylorus zu verlangen. Wir haben
es hier mit dem Bilde einer über das gewöhnliche Mass hinaus gesteigerten
Drüsenfunction zu thun, eine scharfe Grenze zwischen starker physiologischer
Thätigkeit und pathologischer Function ist nicht zu ziehen. Was die Ver-
werthung der Stückchenbefnnde betrifft, so ist festzuhalten, dass auch bei
gesunden Menschen mit normalem Magen regressive Verände¬
rungen Vorkommen, und dass bei Secretionsverminderung Schleim-
hauttheile normal sein können. Der Nachweis atypischer Epithelwuche¬
rungen in der Mucosa genügt nicht zur Diagnose des Carcinoms. Auch
Drüsen in der Submucosa ohne Mitosefiguren sind nicht von entscheidender
Beweiskraft; es könnten z. B. auch accessorische BRUNNER’sche Drüsen im
Pylorus sein. Beweisend ist nur atypische Epithelwucherung aus der
Mucosa in die Submucosa hinein.
Wir kommen nunmehr zur Besprechung der therapeutischen Fort¬
schritte auf dem Gebiete der Magenkrankheiten in den letztverflossenen
Jahren. Der wichtigste Factor bei der Behandlung ist unstreitig die Diät;
dementsprechend sollen die die Diät betreffenden Arbeiten vorerst be¬
sprochen werden. Strauss 23 ) behandelt die Frage der Beziehungen der
Fettdiät zur Magenmotilität. Beim motorisch sufficienten Magen er¬
wiesen Experimente am Menschen, dass ein Einfluss im Sinne einer Ver¬
langsamung der Digestion durch Erhöhung der Menge des Milchfettes in
der Nahrung nicht herbeigeführt wird.
Unter pathologischen Verhältnissen kann, wenn überhaupt, nur von
einer geringfügigen Schädigung der Magenmotilität bei Zufahr
grosser Dosen von Fett die Rede sein. Da das Fett nicht so leicht der
Zersetzung anheimfällt als die Kohlehydrate, so ist es auch aus diesem
Grunde, wo es sich um die Verbesserung der Ernährung handelt, besonders
hoch zu bewerthen. Vermeiden wir extreme Mengen desselben, wählen wir
nur gutes, leicht schmelzbares Fett, z. B. Butter, so steht auch selbst bei
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246
Magen.
motorischer Insufficienz des Magens seiner ausgiebigen Ver-
werthung nichts im Wege. Namentlich bei Zuständen von Hyperaciditat
soll es in ausgiebigen Dosen verwendet werden, da es die Secretionsenergie
eher herabsetzt als anregt. Die wichtige Frage der Wasserzufuhr in
Magenkrankheiten berührt v. Mering 24 ), dem wir ja die Entdeckung:
der fundamentalen Thatsache verdanken, dass der Magen kein Wasser
resorbirt. Ueberall da nun, wo wir, z. B. bei Oastrektasien, bei Neu¬
rosen und Katarrhen, die die Erscheinungen der Dyspepsie de liquide
zeigen, die Flüssigkeitszufuhr vom Magen her vermindern müssen, tritt
die Function des Mastdarms zum Zwecke der Wasseraufsaugung in
ihre Rechte. Man lässt im Laufe des Tages etwa 1 Liter einer V 2 0 / O igen
Kochsalzlosung in zwei oder drei Portionen einlaufen, um dem Wasser-
bedürfniss des Organismus zu genügen. Auch bei erschöpfenden Schweissen.
Diarrhoen, Blutverlusten, Diabetes kann dieses Verfahren in Betracht
kommen.
Die praktisch wichtige Frage der Art der Diät bei Hyperchlor-
hydrie und Hypersecretion behandelt Bachmann 25 ) eingehend experi¬
mentell. Vorweg zu nehmen ist die wichtige Thatsache, dass Fett, Butter,
Sahne, wie es seit langem die Empirie lehrt, einem anderen Nahrungs¬
stoffe zugesetzt, eine Herabsetzung der Salzsäuresecretion überhaupt
zur Folge haben. Von den einfachen Nahrungsstoffen übt Beefsteak auf
die Salzsäuresecretion die grösste reizende Einwirkung aus, am nächsten
in der Reihe kommen Eier, die Secretionsfähigkeit der Schleimhaut wird
dagegen bei Brei, Kartoffeln und Milch beträchtlich weniger in Anspruch
genommen. Eine überwiegend animalische Mahlzeit ruft demge¬
mäss eine stärkere Secretion hervor als eine überwiegend vege¬
tabilische. Bei den oben erwähnten Störungen werden deshalb Brot, Brei
und Milch ein geeignetes Regime bilden; Kartoffeln machen leichter sub-
jective Beschwerden, wohl durch erhebliche Milchsäure- und Gasbildung.
Ich kann diese Ergebnisse, die sich mit meinen eigenen Erfahrungen voll¬
ständig decken, nur vollkommen anerkennen und möchte die Befürchtung,
dass bei den irritativen Functionsstörungen die Amylolyse erheblich leidet
und demgemäss Kohlehydratezufuhr zu beschränken ist, als nur für die
extremsten Fälle berechtigt und da auch nur in gewissen Grenzen aner¬
kennen. Therapeutisch hat sich Hemmeter 2<i ) bei Hyperacidität mit Nutzen
der Takadiastase bedient, deren Wirkungsweise